Kakophonie der Schamlosigkeiten

Kakophonie der Schamlosigkeiten

Kakophonie der Schamlosigkeiten

Rainer Werning
Ein Artikel von Rainer Werning

Der Sohn des früheren philippinischen Diktators Ferdinand E. Marcos hat reale Chancen, im Mai kommenden Jahres Präsident des südostasiatischen Inselstaates zu werden – ausgerechnet fünf Jahrzehnte nach der Verhängung des Kriegsrechts über das Land durch seinen Vater. Da für das Amt des Vizepräsidenten Sara Duterte-Carpio kandidiert, die Tochter des noch amtierenden Präsidenten, bietet dieses Polit-Tandem für die reaktionärsten politischen Kräfte im Land die Gewähr dafür, die Staatsapparate ungeniert zu schröpfen. Die philippinischen Medien sprechen bereits von einer Schicksalswahl: Driftet das Land vollends ab in Massenarmut, Elend und Terror oder gelingt eine längst überfällige politische, wirtschaftliche und soziale Kehrtwende zugunsten der Interessen des Gros der Bevölkerung? Ein Bericht von Rainer Werning.

Katastrophenkataster zum Jahresende

Auch in der diesjährigen Weihnachtszeit gibt es reichlich Anlässe, die zahlreichen Filipinos die Lust an Festtagsstimmung und fröhlicher Ausgelassenheit gehörig vermiesen. Etwa 20 Taifune sorgen alljährlich für schwere Verwüstungen, Tote, Vermisste sowie gewaltige Schäden der Infrastruktur und in der Landwirtschaft. Als sei dieses Jahr nicht schon in vielfacher Hinsicht turbulent genug verlaufen, traf diesmal zehn Tage vor Weihnachten der in den Philippinen genannte Taifun „Odette“ (internationaler Name: „Rai“) mit voller Wucht auf die Visayas, die zentrale Inselgruppe des Landes. Annähernd 400 Tote sind bislang zu beklagen und zig Menschen werden noch vermisst.

„Odette“ war mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 195 und Böen von bis zu 240 Kilometern pro Stunde von Osten gen Westen gezogen. Die meisten Toten gab es den lokalen Behörden zufolge mit knapp 100 Opfern in der Provinz Bohol. Zirka eine halbe Million Menschen mussten sich vor dem Taifun in Sicherheit bringen, teilte die nationale Katastrophenschutzbehörde mit. Der Sturm legte Strom- und Kommunikationsleitungen lahm, isolierte einige Inseln und Städte und ließ über fünf Millionen Menschen ohne Elektrizität zurück. Vielerorts hagelte es Proteste über ein fehlendes Krisenmanagement oder nur sehr zögerliche und ineffektive Hilfe seitens der Regierungsstellen.

Laut der letzten Bloomberg-Covid-Resilienz-Rangliste von Ende Oktober sind die Philippinen trotz des Rückgangs der Fälle überdies immer noch der weltweit „schlimmste Ort”, wenn es um die COVID-19-Pandemie geht. Mit einer Punktzahl von 40,5 belegten die Philippinen zwei Monate hintereinander den letzten Platz in einer Liste von 53 Ländern. Die Rangliste basiert auf 12 Indikatoren, die sich auf die Eindämmung des Virus, die Qualität der Gesundheitsversorgung, den Impfschutz, die Gesamtsterblichkeit und die Fortschritte bei der Öffnung der Grenzen beziehen. Der im Inselstaat – vielfach mit brachialer Gewalt – durchgesetzte längste und härteste Lockdown hat zu einem Wirtschaftseinbruch von annähernd zehn Prozent allein im vergangenen Jahr und zu einem Anschwellen des Arbeitslosenheeres um weitere über vier Millionen Menschen geführt.

Politpossen im Klima vorgezogenen Wahlkampffiebers

Erst seit dem 15. November steht definitiv fest, welche Politiker bei den nächsten Präsidentschafts-, Kongress- und Gouverneurswahlen in den Philippinen am 9. Mai 2022 antreten. Zwar konnten sich potentielle Aspiranten für die unterschiedlichen Posten bereits in der ersten Oktoberwoche registrieren lassen. Doch laut philippinischer Gesetzeslage wurde allen Anwärtern eine Frist bis just zum 15. November eingeräumt, um definitiv ihre Kandidatur für ein bestimmtes politisches Amt anzumelden. So dauerte es wieder einmal reichlich einen Monat, bis sogenannte Platzhalter buchstäblich im letzten Augenblick ihre Kandidatur zugunsten eines aussichtsreicheren Bewerbers zurückzogen. Zeit also, Politpossen zu veranstalten und politische Gegner hinzuhalten, was diesmal – ausgerechnet in Zeiten der Pandemie – im Lande gar nicht gut ankam.

Wer gedacht hatte, in dieser für den Inselstaat wirtschaftlich schwierigsten Situation seit seiner von den USA gewährten Unabhängigkeit im Sommer 1946 unternehme die Regierung alles, um das Leben für die Masse der Bevölkerung erträglicher zu gestalten, sah sich bitter enttäuscht. In den Medien der Hauptstadt Manila war immer häufiger von „politischem Zirkus“ die Rede. Gemeint war das Pokern zahlreicher Politiker um Macht und Pfründe im Vorwahlkampf, dessen offizieller Beginn eigentlich im Februar diesen Jahres sein soll. Das betraf zuvörderst die politischen Clans dreier (ehemaliger) Präsidentenfamilien – die des regierenden Präsidenten Rodrigo R. Duterte, jene von Expräsidentin Gloria Macapagal-Arroyo (2001-2010) und last but not least die Marcoses. Deren Big Boss, Ferdinand E. Marcos, war Präsident des Landes von 1965 bis zu seinem Sturz im Februar 1986. Von 1972 bis 1981 regierte er qua Kriegsrecht und hinterließ nach seinem erzwungenen Abgang ein zerrüttetes und finanziell ausgeblutetes Land.

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2016 war Marcos‘ Sohn, Ferdinand Junior oder besser unter seinem Spitznamen „Bongbong“ bekannt, im Rennen um das Amt des Vizepräsidenten der nunmehrigen Präsidentschaftskandidatin Leni Robredo unterlegen. Eine Niederlage, die er bis vor Kurzem – letztlich erfolglos – gerichtlich anfocht. Als Mittsechziger sieht Marcos in den kommenden Wahlen seine letzte Chance gekommen, noch den Sprung in den Präsidentenpalast Malacañang in Manila zu schaffen. Eine ebenso bizarre wie grauenhafte Vorstellung für alle, die auf unterschiedliche Weise unter der Marcos-Diktatur gelitten haben, die „Bongbong“ mit allen Mitteln nicht müde wird, im Nachhinein als „goldene Ära“ der Philippinen zu verklären.

Als „Bongbongs“ Kandidatin für das Amt des Vizepräsidenten ist über Nacht Sara Duterte-Carpio eingesprungen, die noch amtierende Bürgermeisterin von Davao City im Süden des Landes und Tochter von Präsident Rodrigo R. Duterte. Letzterer kann laut Verfassung nicht wiedergewählt werden und lavierte, was das Zeug hielt. Erst erwog er, im nächsten Jahr für das Amt des Vizepräsidenten zu amtieren, um sodann seinen kompletten Rückzug aus der Politik zu erklären. Er wolle, so Duterte, die Zeit nutzen, um sich auf eine eventuelle Strafverfolgung seitens des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag wegen der hohen Opferzahlen in seinem „Antidrogenkrieg“ vorzubereiten. Dann ein neuerlicher Schwenk: Im nächsten Jahr bewerbe er sich, nicht zuletzt um Immunität zu wahren, für einen Sitz im Senat. Auch das ward nicht das letzte Wort. Aktuell sieht es so aus, dass sich Duterte für kein politisches Amt bewirbt. Auch hat er sich bis dato bedeckt gehalten, was eine Wahlempfehlung betrifft. Erst hatte er seiner Tochter abgeraten, eines der höchsten Staatsämter anzustreben. Aber als diese in zahlreichen Prognosen von Wahlforschungsinstituten klar als favorisierte Präsidentschaftskandidatin gehandelt wurde, rüffelte er sie dafür, freiwillig zugunsten von Marcos zurückzustecken.

Selbst die engsten Verbündeten Dutertes haben mittlerweile Schwierigkeiten, das erratische Verhalten ihres Idols zu dechiffrieren. Wenngleich Duterte seit jeher ein glühender Verehrer von Marcos Senior ist, scheute er sich nicht, Marcos Junior öffentlich als „schwachen Führer“ zu bezeichnen und darüber hinaus noch zu insinuieren, er sei „kokainabhängig“.

Aussichtsreichste Kandidaten – das Marcos-Duterte-Carpio-Tandem

Überhaupt haben jüngste Ereignisse das Glaubwürdigkeitsproblem Dutertes verschärft. Im Jahr 2016 gewann er die Wahl mit dem Versprechen auf Veränderung. Er versprach eine solide Regierungsführung, die Ausmerzung von Korruption in der Bürokratie, ein Ende des Drogenproblems und zig andere Reformen. [1] Da die meisten dieser vollmundigen Versprechen nicht umgesetzt wurden, schaltete der Präsident einen Gang zurück und richtete nunmehr seine Giftpfeile auf Senatoren, die es gewagt hatten, eine Untersuchung des knapp neun Milliarden Peso (umgerechnet ca. 150 Mio. Euro) schweren Geschäfts zwischen der stark unterkapitalisierten Pharmally Pharmaceutical Corp. und dem Beschaffungsamt (Department of Budget and Management) anzustreben. Sein ehemaliger Wirtschaftsberater Michael Yang und Intimus, Senator Christopher Lawrence „Bong” Go, wurden in die fragwürdigen Transaktionen verwickelt, bei denen es um die Lieferung von Schutzausrüstung gegen die Covid-19-Pandemie ging.

Tochter Sara hatte demgegenüber lange geschworen, unbedingt Bürgermeisterin in Davao bleiben zu wollen und kein hohes Staatsamt anzustreben. Auch das ward Schall und Rauch: Sie zog sich aus dem Rennen um das Bürgermeisteramt zurück (ihr Bruder, der stellvertretende Bürgermeister, trat rasch an ihrer Stelle als Kandidat an), verließ die von ihr einst mitgegründete Regionalpartei Hugpong ng Pagbabago (HNP – Fraktion für einen Wandel) und legte auf Drängen der ehemaligen Präsidentin Arroyo als Neumitglied ihren Eid auf die landesweit verankerte Partei Lakas-Christian Muslim Democrats (CMD) ab, Arroyos politischem Vehikel. Mittlerweile fungiert Frau Duterte-Carpio als Vorsitzende beider Parteien, nachdem sie zwischenzeitlich wieder in die Arme der HNP zurückkehrte.

Dann der denkwürdige 25. November 2021. An jenem Tag erfolgte der Schulterschluss vier großer politischer Parteien, was zweifellos in die Geschichtsannalen des Landes eingehen wird. Ein Tag, an dem das nunmehr unter dem Namen BBM-SARA UniTeam firmierende Marcos-Duterte-Carpio-Tandem von zwei weiteren Parteien, der Partido Federal ng Pilipinas (PFP) und Pwersa ng Masang Pilipino (PMP – Kraft der philippinischen Massen) Unterstützung erfuhr. Weitere Parteien sind eingeladen, sich diesem Bündnis anzuschließen.

Handelt es sich bei der PFP um ein Marcos-Vehikel und bei der CMD um eine Arroyo-Gruppierung, fungieren jeweils die Duterte-Tochter und Ex-Präsident Joseph „Erap“ Estrada (1998-2001) und dessen Sohn Jose „Jinggoy” Estrada als Bosse der HNP beziehungsweise PMP. Estrada Senior wurde durch einen vom Militär unterstützten Volksaufstand von der Macht verdrängt, anschließend wegen Plünderung verurteilt und später von seiner Nachfolgerin Macapagal-Arroyo begnadigt. Diese musste sich ihrerseits wegen des Vorwurfs der Plünderung einige Zeit lang in (wiewohl privilegierte) Krankenhaushaft begeben, bevor der Oberste Gerichtshof sie nach dem Amtsantritt von Duterte im Sommer 2016 freisprach. Seitdem fühlt sich die Ex-Präsidentin in besonderer Weise Duterte zu Dank verpflichtet. Jose „Jinggoy“ Estrada übte sich demgegenüber in Familientreue: „Wir drei sind Kinder von Präsidenten. Dem Land zu dienen und es zu lieben, wird immer in unserem Gewissen, in unserem Blut und in unseren Herzen bleiben.“

Geballte Wucht der Reaktion

Streng genommen handelt es sich bei all diesen und anderen Parteien um parteiförmige Organisationen, die von dominanten Führungspersönlichkeiten in Wahlzeiten als politische Vehikel für sich und ihre Klientel genutzt werden. Es sind dies beileibe keine nach unserem Verständnis politisch programmatisch ausgerichtete Parteien, sondern Domänen sogenannter Trapos, traditioneller Politiker, die diese nach Belieben verkleinern und erweitern können, wie es gerade aus Gründen dynastischer Interessenwahrung opportun erscheint. Parteiprogramme sind de facto irrelevant, Parteiwechsel die Regel und derjenige ist der „Boss“, der die „politische Handwerkskunst“ beherrscht, klientelistische Netzwerke aufzubauen beziehungsweise zu pflegen.

Sofern das Kalkül des Marcos-Duterte-Carpio-Tandems aufgeht, wäre es imstande, sich bis zum Jahr 2034 an der Macht zu halten. Denn nach sechsjähriger Amtszeit von Marcos Junior könnte ihn nahtlos die Duterte-Tochter politisch beerben. Kein Wunder, dass sich vor allem Ferdinand „Bongbong” Marcos Jr. in Siegerlaune zeigte. In seiner Rede am 25. November lobte er den Zusammenschluss der Parteien und wertete das als „ein Zeichen der Einheit, was das Land, das lange durch schmutzige Politik polarisiert war, heilen und Frieden bringen werde“. Duterte-Carpio, die nunmehr gleichzeitig als CMD- und HNP-Vorsitzende fungiert, hob in ihrer Dankesrede hervor: „Dieses Bündnis ist auch ein lautes Echo unseres Triumphes, uns friedlich zu vereinen und Seite an Seite zu stehen, um eine kontinuierliche Entwicklung und einen positiven Wandel für unsere philippinischen Mitbürger und die Philippinen zu erreichen.”

„Giftiges Erbe des Feudalismus“

Unerwartete Unterstützung erhielt der Superblock der Reaktionäre durch das zwischenzeitlich unerwartete Ausscheiden von Christopher Lawrence „Bong“ Go, eines Geschäftsmanns und Busenfreunds des amtierenden Präsidenten, aus dem Rennen um die Präsidentschaft aufgrund familiärer Gründe. Go, dessen einzige Qualifikation darin besteht, sich der allgegenwärtigen Nähe zu Präsident Duterte zu erfreuen, erklärte gegenüber der Presse am 30. November: „Meine Familie ist der Meinung, dass es noch nicht der richtige Zeitpunkt für mich ist. Nur Gott weiß, wann dieser Zeitpunkt gekommen sein wird.“ Und devot fügte er hinzu:

„Ich möchte auch Präsident Rodrigo Duterte keine Kopfschmerzen bereiten, denn er ist für mich mehr als ein Vater. Er ist schon alt und hat schon so viel für das Land gegeben, ich möchte ihm nicht noch mehr Probleme bereiten. Ich bin ihm gegenüber loyal und habe ihm versprochen, dass ich ein Leben lang bei ihm bleiben werde. Das ist meine Verpflichtung ihm gegenüber (…) Ich überlasse mein Schicksal Gott und dem philippinischen Volk, während ich mich verneige, um jeden Tag mein Bestes zu geben und selbstlos und unermüdlich zu dienen. Ich bin bereit, das größte Opfer für das Wohl unseres Landes und für die Einheit unter unseren Anhängern zu bringen.”

Eine Haltung, die Prof. Dr. Epifanio San Juan, Jr., einer der bedeutendsten philippinisch-US-amerikanischen Intellektuellen und Kulturanthropologen, jüngst in einem Gespräch mit diesem Autor als „giftiges Erbe des Feudalismus“ bezeichnete, in dessen Dunstkreis der amtierende Präsident als zentrale Figur agiert:

„Duterte selbst ist ein Möchtegern-Marcos, aber ohne den vorgetäuschten Legalismus seines Idols – ein Gangster, ein pseudopopulistischer Provinzpate, der in der Gewalt der Warlords geschult wurde. In Ermangelung eines echten politischen Programms verlässt sich Duterte auf Selbstjustiz, Bestechung, Drohungen und die Manipulation von Militärs und Polizisten.“ [2]

Über andere Parteienspektren, sozialpolitische Alternativen und Positionen der Linken im Lande ab dem im Februar offiziell eröffneten Wahlkampf, der angesichts einer bis dato nicht dagewesenen schroffen gesellschaftlichen Polarisierung/Antagonisierung von massiven Social-Media-Hypes, Cyberattacken, Gewalt und Wahlmanipulationen überschattet werden dürfte, wird es auf diesen Seiten noch einiges zu berichten, kommentieren und analysieren geben.

Titelbild: Marlou Bon-ao/shutterstock.com


Anmerkungen:

[«1] Rainer Werning (9.10.2017): 15 Monate Dutertismo – Annäherungen an ein philippinisches Phänomen * https://www.nachdenkseiten.de/?p=40495

[«2] Siehe: »Wir müssen das giftige Erbe des Feudalismus beseitigen« (Tageszeitung junge Welt) * https://www.jungewelt.de/artikel/415909.befreiungskampf-in-den-philippinen-wir-m%C3%BCssen-das-giftige-erbe-des-feudalismus-beseitigen.html & Neocolonialism And The New Cold War In Southeast Asia: A Diasporic View On The Philippine Crisis | Countercurrents * https://countercurrents.org/2021/12/neocolonialism-and-the-new-cold-war-in-southeast-asia-a-diasporic-view-on-the-philippine-crisis/

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