Omikron und die Schwarzseher

Omikron und die Schwarzseher

Omikron und die Schwarzseher

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Obwohl wir noch nicht sehr viel über die neue Omikron-Variante wissen, übertreffen sich die Schwarzseher bereits jetzt mit Horrorszenarien. Das RKI drängte gestern auf „maximale Kontaktbeschränkungen“, was auch immer das heißen soll. Kanzler Scholz und Gesundheitsminister Lauterbach taten überrascht und widersprachen; nur um wenig später ebenjene Kontaktbeschränkungen, diesmal auch für Geimpfte und Genesene, zu verkünden. Das alte „Guter Bulle, böser Bulle“-Spiel. Man kennt es. Omikron ist da und nun ist alles anders. Das ist erstaunlich, geben die ersten Daten zur Omikron-Variante aus Südafrika, Großbritannien und Skandinavien doch keinen zwingenden Grund zur Besorgnis. Im Gegenteil. Infektionen mit Omikron scheinen vielmehr milder zu verlaufen und vor allem bei Geimpften und Genesenen nur in seltenen Ausnahmefällen zu schweren Verläufen zu führen. Wenn man sich doch ohnehin sicher ist, dass im nächsten März jedermann entweder geimpft, genesen oder gestorben sei, müsste eine solche Variante doch eigentlich eine gute Nachricht sein. Oder? Von Jens Berger

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wie gefährlich ist Omikron?

Dass ausgerechnet Deutschland mit Pragmatismus auf eine neue Variante des Sars-CoV-2-Virus reagieren würde, war ohnehin auszuschließen. Schon als die damals noch namenlose Variante vor einem Monat in Südafrika entdeckt wurde, reagierten die Medien mit größtmöglicher Panik, mit der sie einmal mehr auch die Politik infizierten. Das erstaunte auch die Entdeckerin der nun von der WHO auf den Namen „Omikron“ getauften Variante – in einem Interview berichtete Dr. Angelique Coetzee, dass es in Südafrika zurzeit „trotz“ Omikron weit weniger Todesfälle als während der Delta-Wellen gäbe, und folgerte, „wenn Omikron wirklich eine so tödliche Variante wäre, würden wir erwarten, dass die Zahlen in die Höhe geschossen sind, aber das passiert hier einfach nicht.“ Und die Daten geben Coetzee recht. Während Südafrika zum Höhepunkt der ersten drei Wellen 306, 575 und 419 Sterbefälle pro Tag (jeweils im Sieben-Tages-Schnitt) vermelden musste, waren es zum Höhepunkt der Omikron-Welle lediglich 46 und hier ist noch nicht einmal klar, wie viele davon auf das Konto der immer noch kursierenden Delta-Variante gehen. Einen wie auch immer gearteten Ausschlag nach oben kann man aus den südafrikanischen Daten nämlich nicht herauslesen.


Quelle: Worldometers

Die Neuinfektionen gehen in Südafrika übrigens bereits wieder spürbar zurück, der „Omikron-Tsunami“ blieb aus. Warum? Ist es nicht so, dass Omikron sich wesentlich schneller ausbreitet als die bislang dominante Delta-Variante? Das ist in der Tat so. Und zwar nicht, weil Omikron selbst nun aggressiver oder ansteckender wäre, sondern weil Omikron durch seine Mutationen auf dem Spike-Protein den großen Vorteil hat, Geimpfte viel einfacher zu infizieren als die Delta-Variante. Auch das ist aber kein Grund zur Panik, da Omikron zwar den Schutz der Impfung vor Infektion nahezu komplett aushebelt, laut den vorliegenden Daten aber der Schutz vor schwereren Krankheitsverläufen weiterhin besteht.

Dieses Phänomen lässt sich gut in einem Land beobachten, in dem die Impfquote deutlich höher als in Südafrika ist und das anders als z.B. Deutschland auch imstande ist, brauchbare Daten zur Pandemie zu erheben und zu veröffentlichen – Großbritannien. Dort verbreitete sich Omikron früh und schnell. Bis zum letzten Wochenende summierte sich die Zahl der dort durch Sequenzierung bestätigten Omikron-Fälle auf fast 50.000. Aktuell meldet Großbritannien täglich rund 90.000 Neuinfektionen, von denen wohl der Großteil auf die Omikron-Variante zurückgeht. In den Medien ist vom Katastrophenfall und einem kollabierenden Gesundheitssystem die Rede. Doch diese Meldungen lassen sich nicht durch harte Zahlen verifizieren. Im Gegenteil. Während die Neuinfektionen sich in der Tat binnen eines Monats verdoppelt haben, ist bei den Krankenhauseinweisungen noch nicht einmal ein kleiner Trend nach oben festzustellen.


Hospitalisierungen im Zusammenhang mit Covid 19
Quelle: Britisches Gesundheitsministerium

Bei den Sterbefällen weist der Trend in Großbritannien sogar nach unten.


Sterbefälle im Zusammenhang mit Covid 19

Quelle: Britisches Gesundheitsministerium

Zum Vergleich: Großbritannien meldet aktuell mit seinen 91.743 Neuinfektionen rund dreimal so hohe Zahlen wie Deutschland (37.854 im Sieben-Tages-Schnitt). Obgleich Großbritannien fast dreimal so viele Infizierte meldet, liegt die Zahl britischen Sterbefälle (97 im Sieben-Tages-Schnitt) bei rund einem Viertel der deutschen Sterbefälle (378 im Sieben-Tages-Schnitt). Auch die Zahl der täglichen Hospitalisierungen liegt mit 919 um ein Vielfaches unter dem deutschen Wert mit 4.136. Ähnlich sieht es auf den Intensivstationen aus, wo der britische Wert mit 879 Covid-19-Intensivpatienten ebenfalls nur rund ein Viertel des deutschen Wertes mit 4.582 ausmacht.

Diese Beobachtung trifft nahezu spiegelbildlich auf die anderen mit Deutschland vergleichbaren Länder zu, die immer wieder im Zusammenhang mit der Omikron-Variante genannt werden. Auch in Norwegen und Dänemark steigen die Neuinfektionen rasant, jedoch ohne sich gleichzeitig in steigenden Hospitalisierungen oder gar Sterbefällen bemerkbar zu machen.


Neuinfektionen in Deutschland, Großbritannien, Norwegen, Dänemark und Südafrika

Quelle: FT


Sterbefälle im Zusammenhang mit Covid 19 in Deutschland, Großbritannien, Norwegen, Dänemark und Südafrika

Quelle: FT

Nun könnte man viel über die Gründe dieser Zahlen spekulieren, die für deutsche Medienkonsumenten sicherlich kontraintuitiv sind. Richtig ist, dass die Neuinfektionen eine Größe sind, die einen zeitlichen Vorlauf vor den Hospitalisierungen und mehr noch den Sterbefällen hat. In Südafrika und Großbritannien ist die Omikron-Variante jedoch bereits seit einem ganzen Monat im Umlauf und auch dort gibt es nicht einmal einen Hinweis darauf, dass sie negative Auswirkungen auf die schweren Verläufe haben könnte. Richtig ist auch, dass der Großteil der Infektionen die Altersgruppe zwischen 20 und 40 trifft und hier vor allem sozial aktive Mitglieder betroffen sind, die in großer Mehrheit entweder als geimpft oder genesen gelten und daher ohnehin kein großes Risiko auf einen schweren Krankheitsverlauf haben. Welche Folgen Omikron für nicht geimpfte Angehörige der Risikogruppen haben wird, ist mangels brauchbarer Daten zurzeit nicht seriös zu sagen. Was man jedoch anhand der vorhandenen Daten mit großer Sicherheit sagen kann, ist, dass Omikron kein „Killervirus“ ist und die auch und vor allem in Deutschland schon wieder geschürte Panik kontrafaktisch ist, sich also aus den zur Verfügung stehenden Daten nicht erklären lässt.

Wie sind die politischen Reaktionen zu bewerten?

In Deutschland setzt man einmal mehr voll auf Booster-Impfungen. Ob die irgendeinen Einfluss auf Omikron haben, ist ungewiss. Gewiss ist jedoch, dass die „rettende“ Wirkung von Booster-Impfungen in der Breite maßlos überschätzt wird. Auch hier hilft ein Blick auf das wohl einzige Land, das fähig ist, vernünftige Daten zu erheben und zu veröffentlichen – Großbritannien. Die dortigen Daten, die sich auf rund 170.000 Testergebnisse beziehen, zeigen, dass die doppelte Impfung mit den in Deutschland vorherrschenden mRNA-Impfstoffen einen Schutz von 93,1% vor schweren Krankheitsverläufen bietet.


Quelle: Britisches Gesundheitsministerium

Durch die Boosterung lässt sich dieser Wert zwar auf 98,8% steigern, aber das dürfte für sämtliche Menschen, die nicht einer Hochrisikogruppe angehören und die ohnehin kein hohes individuelles Krankheitsrisiko haben, kein derart entscheidender Zusatznutzen sein, dass sich dadurch die massive Kampagne für Boosterungen in allen Altersgruppen rechtfertigen ließe.

Deutschlands zweite Lösung ist es, nun auch mit aller Macht die Kinder zu impfen. Hier zeigen die Daten aus Großbritannien jedoch, dass gerade die – auch dort nur in sehr geringem Umfang geimpften – Kinder und Jugendlichen bei den Neuinfektionen mit der Omikron-Variante nahezu gar keine Rolle spielen.


Quelle: Alex Selby

Das ist auch nicht sonderlich überraschend, da der große Unterschied zwischen Omikron und Delta ja die höhere Infektionsrate von Omikron bei den Geimpften ist. Mit dem Impfen von bislang Ungeimpften kann man zwar deren individuelles Krankheitsrisiko, aber nicht die Inzidenzen von Omikron senken. Die gehen – auch das sieht man anhand der britischen Daten, wo der Peak offenbar bereits überschritten ist – auch von alleine wieder zurück.

Ein anderes Szenario

Auch wenn die Hoffnung vergebens ist – es wäre doch schön, wenn man mit ein wenig mehr Pragmatismus auf die Daten blicken würde und vor allem die elende Schwarzseherei aufgeben würde. Ginge man nicht mit überbordendem Pessimismus, sondern mit etwas Optimismus an die Sache, würde sich nämlich ein ganz anderes Szenario eröffnen. Die Omikron-Entdeckerin Angelique Coetzee spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer vertanen Chance: „Wenn wir überreagieren, laufen wir Gefahr, die Vorteile einer Variante zu verpassen, die eher ein Freund als ein Feind sein könnte“. Was sie damit meint, ist durchaus eine Überlegung wert.

Neue Varianten müssen schließlich keine Bedrohung, sondern können sogar eine Erlösung sein. Dies wäre der Fall, wenn eine Variante auftritt, die hoch infektiös ist, aber gleichzeitig weniger schwere Krankheitsverläufe mit sich bringt. Neben Sars-CoV-2 gibt es schließlich auch noch weitere Typen des Corona-Virus, die weit verbreitet sind und nur sehr selten schwerste Krankheitsverläufe mit sich bringen. Eine SARS-CoV-2-Variante, die weniger pathogen ist, also seltener schwere Verläufe verursacht, und so ansteckend ist, dass sie die gefährlicheren Varianten verdrängt, würde sich da nahtlos einreihen. Der große Vorteil: Eine solche Variante würde den menschlichen Organismus im Idealfall immunisieren und damit Schutz vor späteren, vielleicht wieder gefährlicheren Varianten bieten. Sie wäre also eine Art natürliche Impfung mit einem hoch infektiösen Lebendimpfstoff. Ist diese Vorstellung naiv? Keinesfalls. Viele Virologen und Immunologen hoffen selbst auf einen „Messiasvirus“, also einen „Erlöservirus“. Wenn der nun zu Weihnachten käme, wäre das ja fast etwas Metaphysisches.

Ob Omikron ein solcher „Erlöservirus“ sein kann, ist jedoch hoch spekulativ. Noch wissen wir dazu schlicht zu wenig – insbesondere zur Wirkung bei ungeimpften Angehörigen der Risikogruppen. Die Hoffnung auf dieses positive „Alternativszenario“ ist jedoch keineswegs unrealistischer als die Angst vor der „Killermutante“. Aber Hoffnung hat zurzeit keine Saison. Die Schwarzseher bestimmen das Programm und die Politik. Und daran wird sich leider auch durch das vor der Tür stehende „Fest der Hoffnung“ nichts ändern.

Titelbild: Tomas Ragina/shutterstock.com


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