Nicht die Politik trägt die Schuld an Bürger-Zweifeln bezüglich der Regierungspolitik: Verantwortlich für verbreitete Staats-Skepsis sind Verführer im Messenger-Dienst Telegram. Mit dieser verdrehten Logik werden aktuelle Vorstöße für die Einschränkung von Telegram begründet. Zusätzlich wird mit dieser Sündenbock-Taktik das eigene Handeln abgeschirmt und werden Symptome zur Ursache erklärt. Und der neue Kanzler wiederholt den beunruhigenden Satz mit den ausgeräumten „roten Linien“. Von Tobias Riegel.
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Die Bundesregierung prüfe, wie sie der Verbreitung von „Hass und Hetze“ über den Messengerdienst Telegram begegnen könne, sagte laut Medien eine Sprecherin des Justizministeriums am Montag. Telegram werde in allen durch das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachteten Phänomenbereichen verstärkt genutzt, hieß es laut Medienberichten. Das Justizministerium weiter:
„Insbesondere Anhänger der verfassungsschutzrelevanten Corona-Leugner-Szene nutzen die Plattform zur Verbreitung der eigenen Agenda sowie zur Mobilisierung für Demonstrationen und Veranstaltungen.“
Telegram, das seinen Sitz nach eigenen Angaben in Dubai hat und aus Deutschland entsprechend schwierig zu belangen ist, ermögliche „das unkomplizierte Teilen von auch strafrechtlich relevanten Videos, Bildern sowie Audiodateien, greift kaum administrativ in Inhalte ein und bietet dadurch die Möglichkeit, beeinflussend auf andere Personen einzuwirken“, heißt es laut DPA seitens des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
Breiter Chor gegen Telegram
Der breite Chor gegen Telegram umfasst nicht nur Justizministerium und Verfassungsschutz. So will etwa Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) mit Apple und Google über einen Vertriebsstopp für Telegram sprechen. Auch Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) ist für Einschränkungen beim Messenger-Dienst:
„Dort wird geworben für Demonstrationen, dort wird auch zu Gewalt aufgerufen, dort werden Adressen veröffentlicht von Politikerinnen und Politikern. Also, hier muss durchgegriffen werden.“
Gregor Gysi von der LINKEN erstaunt mit der Behauptung, die Demonstranten für Grundrechte stritten „nicht für eine Sache, sie stellen sich gegen den Staat an sich“. Da Proteste vielfach über Messenger-Dienste wie Telegram organisiert würden, spricht er sich für eine schärfere Regulierung aus. Der Rechtsrahmen müsse “angepasst werden”, so Gysi.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) schloss gegenüber Medien sogar eine Blockierung nicht aus: „Zunächst muss man Telegram die klare Aufforderung machen, Hass und Hetze zu beseitigen und es auch rechtlich verbindlich festlegen.“ Sollte sich dann dieser Dienst „nicht bereit erklären, zu helfen, dann gibt es auch Möglichkeiten zu blockieren.“
Wer aber definieren würde, was „Hass und Hetze“ und was legitimer Austausch unter Andersdenkenden ist, bleibt zunächst offen.
Scholz und die „enthemmten Extremisten“
Der neue SPD-Kanzler Olaf Scholz erwähnt Telegram in seiner aktuellen Regierungserklärung zwar nicht direkt – aber er wiederholt dort seine sehr fragwürdigen Positionen zu Andersdenkenden und stärkt damit auch die Kampagne gegen Telegram. Inzwischen fragt man sich, ob die „enthemmten Extremisten“ nicht eher in der Politik und den Chefredaktionen anzutreffen sind als bei Demos gegen unverhältnismäßige, verfassungswidrige und nicht evidenzbasierte Corona-Maßnahmen. Und welche Seite zwingt denn momentan der anderen ihren Willen auf? So sagte Scholz:
“Wir werden es uns nicht gefallen lassen, dass eine winzige Minderheit von enthemmten Extremisten versucht, unserer gesamten Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen. (…)
Um es klar zu sagen: Eine kleine extremistische Minderheit in unserem Land hat sich von unserer Gesellschaft, unserer Demokratie, unserem Gemeinwesen und unserem Staat abgewandt, nicht nur von Wissenschaft, Rationalität und Vernunft. (…) Unsere Gesellschaft ist nicht gespalten“.
Scholz droht: “Wir werden alles tun, was notwendig ist. Es gibt für die Bundesregierung keine roten Linien.“ Seine Regierung werde “nicht einen einzigen Augenblick ruhen, und wir werden jeden nur möglichen Hebel bewegen, bis wir alle unser früheres Leben und alle unsere Freiheiten zurückbekommen haben”.
Corona-Politik ist keine höhere Gewalt: Sie ist politische Gewalt
Zu diesen „Hebeln“ zählt Scholz möglicherweise auch die Einschränkung der Telegram-Kommunikation. Dass es die Regierungspolitik ist, die das „frühere Leben“ und die Freiheiten bedrohen, sagt er nicht: Schließlich haben wir Pandemie und das ist höhere Gewalt. Unter anderem die NZZ hat darauf hingewiesen, dass es rote Linien in einem Rechtsstaat aber immer geben muss – sonst wäre er keiner.
Außerdem muss einmal mehr betont werden: Die Markierung von (nicht geimpften) Sündenböcken für eine Regierungspolitik, die einen Abbau der Intensivbetten zur Folge hatte und die Risikogruppen nicht schützte, ist verwerflich. Das Argument des „Fremdschutzes“ durch die Impfung hat sich erledigt. Darum ist und bleibt die Impfung mit den neuartigen Corona-Impfstoffen eine persönliche Entscheidung. Jede Art von Nötigung und Ungleichbehandlung muss sofort beendet werden, und das nicht nur bezüglich der Impfungen: Wegen der fragwürdigen Datenbasis müsste die gesamte Corona-Politik (im Sinne des Grundsatzes zur Verhältnismäßigkeit) daraufhin geprüft werden, ob sie „geeignet“ und „angemessen“ ist – noch vorher wäre zu klären, ob sie überhaupt „erforderlich“ ist und ob sie einen „legitimen Zweck“ verfolgt.
Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz gegen Telegram?
Zahlreiche große Medien argumentieren ebenfalls für eine Einschränkung von Telegram. Es gibt aber auch Ausnahmen. So schreibt die „Mitteldeutsche Zeitung“ zum Thema:
„Schließlich ist Telegram keineswegs nur eine Plattform für strafbaren Hass, sondern auch ein Vehikel millionenfacher privater Kommunikation. In vielen Diktaturen dieser Welt hat sich das Netzwerk gerade wegen seines Widerstands gegen jede staatliche Regulierung zur bevorzugten Plattform für oppositionelle Bewegungen etabliert. Einfach umzusetzen wäre eine solche Blockade ohnehin nicht: Russland gab den Versuch nach zwei Jahren auf.“
Ein Weg, offiziell an Telegram heranzutreten, würde über das Netzwerkdurchsetzungsgesetz führen. Das Bundesamt für Justiz vertritt die Auffassung, Telegram sei kein reiner Messengerdienst, sondern ein soziales Netzwerk. Folglich gelte für Telegram das Netzwerkdurchsetzungsgesetz – so wie für Facebook und Twitter. Das verlangt unter anderem, dass strafbare Inhalte schnell gesperrt oder gelöscht werden.
Das Unternehmen hat bislang nicht auf Anfragen aus Deutschland reagiert, das sei laut Gründer Pavel Durov auch übliche Praxis. Auf eine Auseinandersetzung mit der iranischen Regierung angesprochen, schrieb er laut DPA 2015 auf Twitter, Telegram habe bislang keine Vereinbarungen mit irgendwelchen Regierungen getroffen und plane auch nicht, dies in Zukunft zu tun.
Strafbarkeit muss die Justiz feststellen – und nicht private Unternehmen
Die AfD ist laut Medien gegen Regulierungen: „Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gehört abgeschafft“, sagt Joana Cotar, Digitalisierungsexpertin der AfD-Bundestagsfraktion. Es sei richtig, dass sich Telegram dem entziehe. Schließlich stehe es jedem frei, direkt gegen die Person vorzugehen, die einen vermeintlich strafbaren Inhalt über den Messengerdienst verbreitet habe.
Konstantin Kuhle, stellvertretender FDP-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, findet das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ebenfalls problematisch: “Es verpflichtet die sozialen Netzwerke selbst zur Löschung strafbarer Inhalte”, so Kuhle. Aber: “Über die Strafbarkeit einzelner Inhalte hat in Deutschland die Justiz zu entscheiden und nicht private Unternehmen.“ Auf diesen zentralen Punkt sind die NachDenkSeiten etwa am Beispiel Facebook eingegangen:
„Es geht hier also nicht darum, bestimmte Inhalte von Kritik abzuschirmen, sondern darum, ein Prinzip zu verteidigen – das Prinzip der freien Rede. Das darf in Fällen von Beleidigungen, Volksverhetzung etc. von deutschen Gerichten eingeschränkt werden. Ein privater US-Konzern hat dazu kein Recht. Darum müssen einerseits die Gerichte personell gestärkt werden und muss andererseits Facebook in der Willkür der Löschungen beschränkt werden.“
Offizielle Verrohung ist gefährlicher als Nutzerkommentare
Telegram-Kommentare können außerdem gesellschaftlich bei weitem nicht so zerstörerisch wirken wie die Corona-Politik und die zugehörige ganz offizielle Meinungsmache gegen Millionen Andersdenkende. Außerdem wird Hass im Internet zu allererst durch (vor allem soziale) Spaltung und der dafür verantwortlichen Politik erzeugt, nicht durch Forenbeiträge: Diese Kommentare sind ein Symptom, die Ursache liegt in der Politik. Es gab auch bereits vor Corona gravierende soziale Spaltungen und Ungleichheiten. Die aktuell durch die Corona-Politik und die harte Propaganda vorsätzlich aufgerissenen Gräben kommen noch zu diesen Verwerfungen hinzu.
Es ist auch ein Akt der Heuchelei zu beobachten: Die, die nun wegen „Hass“ nach Einschränkungen der Kommunikation rufen, schreiten nicht ein, wenn aktuell in großen Medien oder von der Politikerkanzel vorsätzliche gesellschaftliche Spaltung und sprachliche Verrohung betrieben wird.
Telegram als Ventil: Diffamierung und Verbot schaffen Subkulturen
Auch hat Telegram die Funktion eines Ventils: Wenn andersdenkende Bürger sich in den großen Medien nicht wiederfinden, wenden sie sich ab. Werden Andersdenkende so konsequent in die Ecke getrieben wie in den vergangenen Monaten, dann muss irgendwann Verzweiflung entstehen. Wären Demos gegen die Corona-Politik nicht bis zur Lächerlichkeit eingeschränkt (oder ganz verboten), würden sich die Bürger auf den gewohnten Wegen zur Demo verabreden: Diffamierung und Verbot schaffen Subkulturen. Ich finde nicht jede Ausprägung des aktuellen Protests gegen die Corona-Politik gut – prinzipiell ist es aber sehr zu begrüßen, dass nun eine Protestbewegung in Gang gekommen ist.
Zur gesellschaftlichen Befriedung müsste von offizieller Seite die Hand ausgestreckt werden – doch die neue Regierung wählt den Weg der Provokation und der Eskalation.
Wie bei allen Kommunikationswegen gibt es auf Telegram teils sehr fragwürdige Äußerungen. Die den Corona-Protesten pauschal unterstellte „allgemeine Staatsfeindlichkeit“ trifft aber auf die große Mehrheit der Kritiker der Corona-Politik nicht zu: Statt dessen könnte man aber die aktuelle Regierungspolitik indirekt als „staatsfeindlich“ bezeichnen: Weil sie sich gegen Grundrechte richtet und vorsätzlich den gesellschaftlichen Frieden beschädigt.
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