Um die Olympischen Winterspiele in China im nächsten Jahr ist eine Debatte voller Doppelstandards entbrannt. Die Forderungen der USA und anderer westlicher Länder nach einem „diplomatischen Boykott“ wegen Menschenrechtsverletzungen sind angesichts der westlichen Angriffskriege, der Wirtschaftssanktionen, der Drohnenmorde, der NSA-Überwachung und vieler anderer Aspekte geradezu absurd. Durch solche Vergleiche wird China nicht politisch-moralisch weißgewaschen, sie stellen aber ein rationales Verhältnis innerhalb der jeweiligen Menschrechtsvergehen her: Etwa außenpolitisch ist der Westen nicht in der Position des humanen Lehrmeisters. Neben der aktuellen Heuchelei ist prinzipiell festzustellen, dass durch moralische Aufladung das Potenzial großer Sportveranstaltungen zur Völkerverständigung beschädigt wird. Von Tobias Riegel.
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Die USA haben laut Medienberichten angekündigt, keine diplomatischen oder offiziellen Vertreter zu den Spielen Anfang 2022 nach China zu schicken. Australien, Kanada, Neuseeland und Großbritannien schlossen sich dem an.
Hintergrund sind laut den Berichten vor allem angebliche Vorgänge in der Region Xinjiang. Dort sollen, so Vorwürfe westlicher Medien und Politiker, bis zu einer Million Mitglieder der uigurischen Minderheit in Umerziehungslagern interniert sein, auch Vorwürfe eines „Genozids“ wurden in der Vergangenheit geäußert. Auf diese Vorwürfe und ihren fragwürdigen Charakter sind die NachDenkSeiten kürzlich im Artikel “China, Xinjiang und der Genozid“ eingegangen.
„Der diplomatische Boykott ist das Mindeste, was Deutschland tun kann“
Die Boykotte mehrerer Staaten befeuern laut Medien auch die Diskussion innerhalb Deutschlands. So forderte der menschenrechtspolitische Sprecher der Unions-Fraktion, Michael Brand, Bundeskanzler Scholz und Außenministerin Baerbock dazu auf, im Februar 2022 keine politischen Vertreter aus Deutschland zu den Winterspielen zu schicken. „Der diplomatische Boykott ist das Mindeste, was Deutschland gemeinsam mit anderen in Europa tun kann“, sagte Brand dem „Tagesspiegel“. Brand sagte außerdem mit Blick auf Staatspräsident Xi Jinping:
„Es gibt überhaupt keine Notwendigkeit bei Olympia, einem Fest des Friedens und der Verständigung, neben einem zu stehen, der foltern und töten lässt.“
Auf eine vergleichbare Konsequenz etwa gegenüber den Verantwortlichen für die Guantanamo-Folter der USA wartet man vergeblich. Das (wie Brand selber sagt) „Fest der Verständigung“ mit haltloser Heuchelei aufzuladen, ist abzulehnen.
Die FDP-Europapolitikerin Nicola Beer geht noch weiter als Brand und sagte laut Medien, die Europäische Union sollte „nicht nur im Windschatten der USA bleiben, sondern sich selbst für die Einhaltung von Menschenrechten auf die Hinterbeine stellen und sich für einen gänzlichen Boykott der Winterspiele aussprechen“, so die Vizepräsidentin des EU-Parlaments gegenüber den Zeitungen der „Funke Mediengruppe“. Bundeskanzler Scholz hat noch keine Entscheidung über einen möglichen diplomatischen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking mitgeteilt.
Sport-Events als Bühne der moralischen Selbstinszenierung
Mit einer Verurteilung der westlichen Boykott-Rufe soll China wie gesagt nicht von Kritik abgeschirmt werden. Auch ist das „chinesische Modell“ mit seinen zumindest für Außenstehende teils sehr autoritär erscheinenden Elementen meiner Meinung nach nicht anzustreben. Inakzeptabel ist aber der Versuch einiger westlicher Staaten, sich mit dem Fingerzeig auf China selber als unbefleckt darzustellen. Denn die belegten Menschenrechtsverletzungen allein durch USA und NATO stellen jene Chinas in den Schatten: Die nun auftrumpfenden westlichen Nationen sind (zumindest was die Außenpolitik betrifft) nicht in der Position des politisch-moralischen Richters über andere Länder.
Außerdem könnten internationale Sportveranstaltungen (aller Kommerzialisierung zum Trotz) noch immer ein Potenzial zu Völkerverständigung haben, weil sie bei richtiger Nutzung eine kurze Phase der Annäherung selbst in konfrontativen Zeiten sein können. Das setzt aber Zurückhaltung bei allen Beteiligten voraus, also auch bei den jeweiligen Gastgebern. Damit Sportveranstaltungen ihr positives Potenzial entfalten können, galt es einst als Tabu, sie exzessiv zu politisieren. Dieses Tabu ist längst gebrochen: Aber auch wenn große Sport-Events möglicherweise schon immer mehr oder weniger instrumentalisiert wurden, so ist bei den jüngeren Veranstaltungen doch eine starke Zunahme der Intensität der jeweiligen Propaganda festzustellen – so auch etwa bei der Fußball-WM 2018 in Russland.
Wenn diese Tendenz nicht gebrochen wird, werden internationale Sportveranstaltungen künftig immer weniger der Verständigung dienen, sondern zur Bühne für moralische Anklagen und Selbstinszenierungen verkommen. Den Charakter dieser Inszenierungen bestimmt dann die Seite, die stärkere Kanäle der internationalen Meinungsmache beherrscht.
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