Stellen Sie sich vor, Sie sind der Präsident eines Landes, das Kriege in vielen Regionen der Welt geradezu serienweise geführt und den Tod von Millionen Menschen verursacht hat. Stellen Sie sich vor, Ihr Land hat wie im Irak ein Verbrechen erfunden, um dort einzufallen, zu töten und großartige Kulturgüter zu zerstören. Stellen Sie sich vor, in diesem Ihrem Land muss man über Milliarden verfügen oder Freunde haben, die so viel Geld zur Verfügung stellen, um als Präsident des Landes kandidieren zu können. Sind Sie dann der Präsident einer Demokratie? Wenn Menschen ohne Geld eigentlich nichts zu sagen haben? Stellen Sie sich vor, Sie sind der Präsident eines Landes, in dem der Geist der Rassentrennung immer noch umhergeistert und sich die Verachtung der angeblich minderen Rassen auch im Umgang der Polizei mit diesen eigentlich gleichberechtigten Schwarzen und Latinos äußert. Geschätzte 1000 Menschen Ihres eigenen Volkes werden pro Jahr auf diese Weise ins Jenseits befördert. So sieht Ihr Land aus und Sie nennen es eine Demokratie, eine Demokratie, die von Werten geprägt und geleitet werde, so sagen Sie. – Sie haben offensichtlich das Problem, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu überbrücken. Was machen Sie dann? Die Wirklichkeit ändern? Nein. Sie machen Public Relations. Public Relations, Propaganda – das ist die landesgemäße Antwort auf das Problem. So ist es. Ich fantasiere nicht. Heute eröffnet der US-amerikanische Präsident Biden den sogenannten Demokratie-Gipfel. Albrecht Müller.
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Er hat dazu Vertreter aus 111 Nationen eingeladen. Der Demokratiegipfel soll dazu dienen, die westliche Wertegemeinschaft in ein schönes Licht zu rücken und damit auch das eigene Land positiv zu bewerten. Das soll keine Eintagsfliege sein, es soll weitergehen mit einem weiteren Gipfel.
Auch unser neugewählter Bundeskanzler nimmt an diesem virtuellen Gipfel teil. Andere wie zum Beispiel China oder Russland oder die Türkei und Ungarn sind nicht eingeladen. Dass diese sich darüber beklagen, verstehe ich nicht. Warum wollen sie an einer PR-Aktion teilnehmen?
Ein kritisch denkender Mensch aus Italien hat gerade in il manifesto Erhellendes zum Demokratie-Gipfel geschrieben. Es ist lesenswert. Deshalb haben die NachDenkSeiten diesen Text des Autors Manlio Dinucci übersetzt. In einem dann folgenden Anhang sind die Beiträge von ein paar Medien angerissen und verlinkt.
Und wenn Sie weitere Berichte über diesen oder den nächsten Demokratie-Gipfel sehen, hören oder lesen, dann denken Sie bitte daran: Es ist eine PR-Aktion, die der Beschönigung der Wirklichkeit dient. Zu dieser US-amerikanischen Wirklichkeit gehört zum Beispiel auch die üble Behandlung von Assange. Zu dieser Wirklichkeit gehört auch die Erfindung von Russiagate durch genau jenen Teil der US-amerikanischen Politik, durch die führenden Vertreter der Demokratischen Partei, die sich jetzt mit einem Demokratie-Gipfel feiern will. Zu Russiagate siehe den NachDenkSeiten-Bericht vom 07. Dezember 2021: „Russiagate“-Erzählung zerfällt und hat trotzdem Folgen für die reale Welt.
Nun aber zum eigentlichen Anliegen, dem Kommentar aus Italien:
Die Kunst des Krieges – Die tragische Farce des Demokratie-Gipfels
Von Manlio Dinucci*
Am 9. und 10. Dezember lädt US-Präsident Biden zu einem „Demokratie-Gipfel“, zu dem „Führungspersönlichkeiten aus Regierungen, Zivilgesellschaft und dem Privatsektor“ zusammenkommen werden. Die Gästeliste umfasst 111 Länder, darunter sind 28 der 30 NATO-Mitgliedsstaaten: Die Türkei und Ungarn sind nicht dabei. Ausgeglichen wird das durch die Teilnahme Israels und der Ukraine, zusammen mit 26 der 27 EU-Mitgliedsstaaten mit der Ausnahme von Ungarn. Der Gipfel „wird ihnen eine Plattform zur Verfügung stellen zur Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten im eigenen Land und im Ausland sowie zur gemeinsamen Abwehr der größten Gefahren, denen Demokratien sich heute gegenübersehen“. Dies wird „ein Aktionsjahr“ einleiten, „mit dem Ziel, Demokratien reaktiver und widerstandsfähiger zu machen“, das in einem zweiten Gipfel kulminieren wird, um „eine Gemeinschaft von Partnern aufzubauen, die sich für eine globale demokratische Erneuerung einsetzen“.
Joe Biden hält also daran fest, was in seinem Wahlprogramm angekündigt war: an einem globalen Gipfeltreffen der Staaten der freien Welt mit dem vorrangigen Ziel, „Russlands Aggression abzuwehren, die militärischen Fähigkeiten der NATO auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten und Russland die realen Kosten für seine Verletzung internationaler Normen aufzubürden“ und gleichzeitig „eine einheitliche Front gegen Chinas offensive Aktionen und Menschenrechtsverletzungen aufzubauen“. Auf die Weise werden die Vereinigten Staaten wieder einmal „die Führungsrolle beim Erstellen der Regeln spielen“. „Die Verteidigung demokratischer Werte“ – das wiederholte Biden als Präsident – „ist in unsere nationale DNA eingeschrieben“.
Was in die DNA der Vereinigten Staaten eingeschrieben ist, zeigen schätzungsweise einhundert Eroberungskriege, die die US-Geschichte charakterisieren. Laut einer dokumentierten Studie von James Lucas (s. il manifesto vom 20. November 2018) führte allein die Serie von Kriegen und Staatsstreichen der Vereinigten Staaten zwischen 1945 und heute in mehr als 30 asiatischen, afrikanischen, europäischen und lateinamerikanischen Ländern zu 20 bis 30 Millionen Toten, dazu zu Hunderten Millionen Verletzten – viele von ihnen mit bleibender Behinderung – dazu wahrscheinlich Hunderten Millionen von Toten aufgrund der indirekten Kriegsfolgen: Hungersnöte, Epidemien, Zwangsmigration, Sklaverei und Ausbeutung, Umweltzerstörung, und der Abzug von Ressourcen für die Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse zur Deckung der Militärausgaben. In den blutigsten Kriegen – dem Korea-, Vietnam- und Irakkrieg – war das US-Militär direkt für den Tod von 10 bis 15 Millionen Menschen verantwortlich. Den blutigsten Coup hat die CIA 1965 in Indonesien organisiert: Sie hat den indonesischen Todesschwadronen die Liste mit den ersten 5.000 Kommunisten und anderen zu tötenden Menschen gegeben. Die Zahl der getöteten Menschen wird auf zwischen eine halbe und drei Millionen Menschen geschätzt.
Joe Biden selbst, der für den „Demokratie-Gipfel“ wirbt, spielte in dem Teil der Geschichte eine führende Rolle. 2001 unterstützte er als Vorsitzender der Senats-Kommission für auswärtige Angelegenheiten Präsident Bushs Entscheidung, Afghanistan anzugreifen und in Afghanistan einzumarschieren, und 2002 setzte er sich für eine parteiübergreifende Resolution ein, die Präsident Bush dazu ermächtigte, den Irak anzugreifen und in das Land einzumarschieren. 2007 verabschiedete er einen Plan zur Aufteilung des Irak in drei Regionen – eine kurdische, eine sunnitische und eine schiitische – was der US-Strategie entgegenkam. Zwischen 2009 und 2017 nahm er an Planung und Ausführung der Kriege gegen Libyen und Syrien und am Putsch in der Ukraine teil, in dem Biden wiederum eine direkte und entscheidende Rolle spielte.
Mit Blick auf die Demokratie im Inneren reicht es, sich vor Augen zu führen, dass die Polizei laut offizieller Statistik jährlich rund 1.000 wehrlose Bürger in den USA tötet, vor allem Schwarze und Menschen hispano-amerikanischer Herkunft. Es reicht auch aus, daran zu erinnern, dass die Vereinigten Staaten den Journalisten Julian Assange zu 175 Jahren Haft verurteilen wollen, weil er ihre Kriegsverbrechen ans Licht gebracht hat. In ein paar Tagen wird die britische Gerichtsbarkeit wahrscheinlich über seine Auslieferung an die USA entscheiden. Derweil war Großbritannien Co-Gastgeber eines Vorbereitungstreffens für den Gipfel, es trug den Titel: „Verteidigung der Demokratien vor Desinformation“ und stellte „die gute fachliche Praxis zur Förderung eines offenen und transparenten Informationssystems“ in den Mittelpunkt.
*Kommentator bei “il manifesto”, essayist, geograf, geopolitiker und hier der rest = Manlio Dinucci | Fazi Editore * . Autor auch von workers.org/author/manlio/
Anhang:
Ein paar wenige Hinweise auf Medienstimmen zum Demokratie-Gipfel:
Tagesschau
Virtuelles Treffen
Biden lädt zum Demokratie-Gipfel
Stand: 09.12.2021 07:42 Uhr
Die Demokratie ist weltweit in Gefahr, befürchten die USA. Deshalb hält Präsident Biden einen Gipfel zu dem Thema ab. Auch Kanzler Scholz ist dabei. Wegen der übrigen Gästeliste gibt es aber Stirnrunzeln.
Claudia Sarre, ARD-Studio Washington
Polen ist eingeladen. Ungarn nicht. Auch Russland und China sind nicht geladen, dafür aber die Philippinen und Pakistan. Alte US-Verbündete wie Saudi-Arabien oder Ägypten sind ebenfalls nicht erwünscht.
…
Handelsblatt:
Biden lädt zum Demokratie-Gipfel ein – und spaltet damit die Welt
Der US-Präsident lädt mehr als 110 Länder zu einem Video-Gipfel für Demokratie ein. Das sorgt für böses Blut bei denen, die draußen bleiben müssen. Dazu gehören China, Russland und Ungarn.
Die Zeit:
Fünf vor acht / US-Demokratiegipfel:
Eine Kolumne von Matthias Naß
US-Präsident Joe Biden lädt zu einem zweitägigen Videogipfel für Demokratie ein.
Berlin, Brüssel
Joe Biden hat den Titel mit Bedacht gewählt: Wenn der US-Präsident am Donnerstag die Regierungschefs aus rund 110 Ländern zu einer Video-Konferenz begrüßt, dann tut er das unter der Überschrift: „Gipfel für Demokratie“. Zum einen ist dies ein Hinweis darauf, dass Gefahren für die Demokratie nicht nur von autoritären Mächten wie China oder Russland drohen, sondern auch von der inneren Schwäche zum Beispiel der USA selbst.
Zum anderen wollte Biden vermeiden, dass die Liste der Geladenen die Welt in Gut und Böse spaltet. Das zweite Ziel hat Biden schon vor Beginn der zweitägigen Mammutveranstaltung verfehlt. Russland und China, aber auch die Türkei und Ungarn haben heftig dagegen protestiert, dass sie nicht eingeladen wurden. Zumal andere Länder wie Pakistan, die Philippinen und Polen dabei sind, obwohl sie wegen Verstößen gegen demokratische Prinzipien immer wieder am Pranger stehen.
Kritik gibt es aber auch an der Glaubwürdigkeit des Gastgebers selbst: „Die USA sollten hier nicht führend auftreten“, sagt Ian Bremmer, Präsident der internationalen Politikberatung Eurasia Group, „denn auch in Amerika ist die Demokratie angeschlagen.“ Gemeint ist damit die vom ehemaligen US-Präsidenten Trump und seinen Anhängern nicht akzeptierte Wahlniederlage 2020, die am 6. Januar zum gewalttätigen Sturm auf das Kapitol führte.
„Dass eine reife Demokratie wie die amerikanische, die auch noch eine Sonderstellung in der Geschichte für sich beansprucht, Bilder produziert, wie wir sie am 6. Januar gesehen haben, das wird nachhaltige Wirkung weit über US-Grenzen hinaus haben“, sagt der amerikanische Stanford-Politologe Francis Fukuyama.