Griechenland (V): Gibt es einen Ausweg aus der Sackgasse?
Die Diagnose zum Zustand des „griechischen Patienten“ am Ende des Jahres 2010 soll mit diesem Teil abgeschlossen werden. In den frühen Morgenstunden des 23. Dezember hat das griechische Parlament den Haushaltsplan für 2011, der an dieser Stelle bereits dargestellt wurde, mit 156 Stimmen der Pasok gegen 142 Stimmen der Opposition beschlossen. Bei dieser Abstimmung verlor die Regierungspartei zwar keine abtrünnigen Abgeordneten mehr, aber in der Debatte waren die kritischen Töne unüberhörbar. Bemerkenswert war vor allem, dass die frühere EU-Kommissarin Vasso Papandreou (kein Mitglied der etablierten Familie) ganz offen die „Haltbarkeit“ der Haushaltsplanung bezweifelt. Andere Pasok-Abgeordnete verlangten, man müsse den Bürgern endlich demonstrieren, dass „die Wohlhabenden zahlen“, weil bislang vor allem die ärmeren Schichten belastet worden seien. Von Niels Kadritzke (überarbeitete und ergänzte Fassung vom 2.1. 2011)
Ich werde im Folgenden versuchen
- die wachsenden Probleme darzustellen, die das verletzte Gerechtigkeitsgefühl und der wachsende Pessimismus der Gesellschaft für den inneren Zusammenhalt und die Regierungsfähigkeit der Pasok bedeuten;
- die Reaktionen der Gewerkschaften auf das Sparprogramm einzuschätzen, die im Generalstreik vom 15. Dezember sichtbar wurden und sich in weiteren Streiks einzelner Branchengewerkschaften artikulieren werden;
- die Implikationen des Szenarios aufzuzeigen, das in führenden Wirtschaftszeitungen, aber auch in linken Krisenanalysen immer öfter als nicht nur wahrscheinlich, sondern auch wünschenswert dargestellt wird: ein Staatsbankrott Griechenlands und die damit verbundene Vertreibung aus der Eurozone.
Zunächst will ich jedoch auf den Zustand des öffentlichen Sektors zurückkommen und an die Überlegungen von Nikos Konstandaras anknüpfen (Nachdenkseiten vom 16. Dezember). Die qualitative Reform des öffentlichen Sektors, für die Konstandaras plädiert, wird durch die unmittelbaren Zwänge des Schuldenabbaus eher behindert als gefördert. Das zeigt sich an dem Gesetz über die öffentlichen Unternehmen (DEKO, wörtlich: öffentliche Unternehmen gesellschaftlichen Nutzens), das am 14. Dezember verabschiedet wurde: Hier wird der quantitative Ersparnis-Aspekt dem qualitativen Reform-Aspekt eindeutig untergeordnet.
Problemfall griechische Eisenbahn
Das beste Beispiel bietet das defizitärste aller staatlichen Unternehmen: die Eisenbahngesellschaft OSE. Zwei Zahlen reichen aus, um die katastrophale Misswirtschaft der OSE zu dokumentieren: Die Anzahl der Beschäftigten pro beförderten Personen und Stückgutvolumen und die Zahl der Unfälle pro Kilometer des Schienennetzes (bzw. der Zugfrequenzen). Bei beiden Koeffizienten liegt die OSE in Europa einsam an der Spitze (selbst wenn man die Unfälle an unbeschränkten Bahnübergängen herausrechnet). Zugleich gehören die OSE-Angestellten zu den einkommensstärksten im gesamten öffentlichen Sektor: Sie verdienen mehr als das Doppelte vergleichbar qualifizierter Berufsgruppen. Diese Einkommen bestehen allerdings bis zu einem Drittel aus Zulagen, die durch das Gesetz vom 14. Dezember abgeschafft oder reduziert werden, weil dies rechtlich problemloser geht als Einschnitte in die Grundgehälter.
Die Staatsbahn hat im Lauf der Jahre Gesamtschulden von knapp 11 Mrd. Euro angesammelt (60 Prozent der Gesamtverschuldung aller DEKOs in Höhe von 18,2 Mrd. Euro), 2009 betrug das Jahresdefizit 482 Mio. Euro. Die Sanierung der OSE hat für die Regierung aus zwei Gründen höchste Priorität: Erstens um den Haushalt rasch zu entlasten, zweitens um zumindest den rollenden Teil des Unternehmens (die TrainOSE) zu privatisieren. Letzteres ist bei den aktuellen Personalkosten undenkbar, wie die Griechen aus der Absage der Chinesen gelernt haben, denen sie die TrainOSE aufschwatzen wollten. Deshalb sieht die Sanierung, die von der Troika ultimativ gefordert wird, eine Reduzierung des Personals von 6000 auf 3700 Beschäftigte vor.
Aber wohin mit den Leuten, die teils unkündbar sind, teils teure Abfindungen beanspruchen könnten? Von den 2300 freigesetzten OSE-Mitarbeitern sollen fast alle an anderer Stelle im öffentlichen Sektor untergebracht werden, etwa in Krankenhausverwaltungen, als Hausmeister in Schulen oder als Museumswärter. Dass dabei das Kriterium der Eignung hinter dem staatlichen Bedürfnis nach Entsorgung teuren Personals zurücktritt, liegt auf der Hand. Zudem muss auf einem solchen personellen Verschiebebahnhof erneut der Klientelismus aufblühen. Eine Athener Zeitung befürchtet deshalb einen Schuss in den Ofen, wenn „Abgeordnete und Minister eine neuerliche Chance für politische Gefälligkeiten zugunsten ihrer Cliquen und ihrer Wähler sehen“. Das ganze Verfahren läuft auf das genaue Gegenteil dessen hinaus, was Konstandaras gefordert hat: eine Evaluierung aller Staatsdiener und funktionaler Umbau des gesamten öffentlichen Dienstes.
Arbeitsrechtliche Notstandsgesetze
Das griechische Parlament verabschiedete am 14. Dezember ein zweites Gesetz, und zwar über die „Flexibilisierung“ im Privatsektor. Dieses sieht nicht nur den Abbau von Arbeitnehmerrechten und -ansprüchen vor (v.a. bei Abfindungen im Fall von Entlassungen), sondern unterminiert auch das System der Tarifverträge: Private Unternehmen können das vereinbarte Lohnniveau unterschreiten, wenn es um das „Überleben“ der Firma geht, wobei unklar ist, ob sie der Arbeitnehmerseite die Bilanz vorlegen müssen. Als Untergrenze für solche „Notstandslöhne“ gilt der gesetzliche Mindestlohn von 740 Euro, der bis zu 25 Prozent unter den niedrigsten Tariflöhnen der einzelnen Branchen liegt. Damit werden die Unternehmen im privaten Sektor, in dem seit Beginn der Krise bereits eine faktische Lohnminderung stattgefunden hat (v.a. durch Drohung mit Entlassungen), zu weiteren Kürzungen ermutigt. Selbst die konservative ND hat dieses Gesetz als Rückkehr ins „arbeitsrechtliche Mittelalter“ qualifiziert.
Der „Doppelschlag“ gegen die Beschäftigten bei den DEKOs wie im privaten Sektor hat nicht nur die größten Demonstrationen der Gewerkschaften seit Mai 2010 ausgelöst, sondern auch die Spannungen innerhalb der Pasok derart verschärft, dass die politische Belastungsfähigkeit der Regierung an ihre Grenzen kommen könnte. Viele Abgeordnete sehen die Glaubwürdigkeit der Pasok beschädigt, weil die Regierung bei ihren Sparmaßnahmen bis Sommer 2010 größten Wert darauf gelegt, die zwei Millionen Beschäftigten im privaten Sektor vor größeren Einkommenseinbußen zu schützen, weil sie gegenüber dem öffentlichen ohnehin im Nachteil sind. Und zwar nicht nur wegen des niedrigeren Lohnniveaus, sondern auch weil sie, im Gegensatz zu Unternehmern und Freiberuflern, regelmäßig und in vollem Umfang ihre Steuern und Sozialabgaben abführen (müssen). Das Schutzversprechen für diese tatsächlich unterprivilegierte Gruppe hat die Regierung nun unter dem Druck der Troika gebrochen.
Beim Generalstreik vom 15. Dezember, mit dem die Gewerkschaften auf den Doppelschlag vom 14. Dezember reagierten, zeichnete sich erstmals eine „Einheitsfront“ ab, die bis dahin auch bei den „machtvollsten“ Demonstrationen nie zustande gekommen war (dazu unten mehr). An dem Ausstand beteiligten sich deutlich mehr Beschäftigte der privaten Unternehmen als bei früheren Generalstreiks, die fast ausschließlich vom öffentlichen Dienst getragen wurden. Dieser Aspekt ist für die Pasok-Regierung weitaus bedrohlicher als die fast schon rituellen gewaltsamen Aktionen, die den internationalen Medien immer die spektakulärsten Bilder liefern – und damit das Material für eine verzerrte Darstellung der griechischen Realität.
Um diese Bilder angemessen einzuordnen, seien hier einige Hinweise gegeben. Erstens gehören die meist jugendlichen Vermummten, die Mollis werfen, Schaufensterscheiben zerschlagen und Autos anzünden, nicht zum Kern der Streikbewegung, sondern sind Teil einer „Anarcho-Szene“ die in Griechenland seit langem existiert. Zweitens sind die Streiks und Demos der Gewerkschaften nicht der einzige Anlass, den diese Gruppen für ihre Aktionen nutzen; seit Jahren kommt es bei Staatsbesuche missliebiger Politiker oder bei den alljährlichen Demonstrationen am 17. November (zum Gedenken an den Athener Studentenaufstand von 1973 gegen das damalige Obristenregime) in der Innenstadt zu ganz ähnlichen Szenen. Drittens ist die Einsatztaktik der Polizei nicht immer „durchsichtig“, um es vorsichtig auszudrücken. Nach Berichten lokaler Journalisten konnten die vermummten Demonstranten am 15. Dezember am zentralen Syntagma-Platz 20 Minuten lang unbehelligt mehr Brandsätze schleudern als je zuvor, während eine Straße weiter die Athener ihre Weihnachtseinkäufe machten.
Zu dem letzten Aspekt noch ein kleiner Exkurs als Fußnote zu den Bildern in der internationalen Presse: In der FAZ vom 16. Dezember war im Wirtschaftsteil (S.12) ein Foto abgedruckt, auf dem im Hintergrund eine Polizei-Phalanx und im Vordergrund ein brennender Stadtjeep (Typ Dodge Nitro) zu sehen ist. Das ganze unter der Titelzeile: „Brandsätze gegen das griechische Sparprogramm“. Die Pointe, die in dieser Zeile liegt, erschließt sich erst bei genauer Betrachtung: Der Dodge Nitro steht am linken (!) Straßenrand der Odos Omirou, einer Einbahnstraße, in der ein SUV-Besitzer sein Fahrzeug selbst an normalen Tagen niemals abstellen würde. Wenn die Polizei am Tag des Generalstreiks ein solches Teil nicht abgeschleppt hat, gibt es nur eine plausible Erklärung: Beihilfe zum Versicherungsbetrug. In der Tat sind seit dem Sommer bei Demos im Athener Zentrum auffällig viele teure Autos verbrannt; im selben Zeitraum haben viele Besitzer ihre spritschluckenden SUVs abgemeldet, weil ihnen die Benzinkosten über den Kopf gewachsen sind. Eine elegante Alternative ist die Abmeldung durch Flambieren, weil man mittels Vollkasko-Versicherung immerhin noch den Zeitwert des Fahrzeugs kassieren kann. (Das Bild ist hier zu finden)
Unruhe in der Pasok-Fraktion
Um die Lage der Pasok zu ermessen, muss man sich noch einmal die Etappen vergegenwärtigen, in denen die Regierung Papandreou ihren Austeritäts-Kurs (vom griechischen avstirós: streng oder strikt) seit Frühjahr 2010 umgesetzt hat:
- drastische Kürzungen der Einkommen im öffentlichen Dienst und der Rentenbezüge um 15-20 Prozent;
- Erhöhung der direkten und indirekten Steuern auf breiter Front, Verteuerung öffentlicher Dienstleistungen.
Hinzu kommen jetzt ab Anfang 2011:
- Einkommenskürzungen im Bereich der DEKOs;
- Fahrpreiserhöhungen von 30 bis 50 Prozent im öffentlichen Nahverkehr;
- weitere Minderung der Löhne und Gehälter im privaten Sektor.
Addiert man die Einkommensminderungen und die Preissteigerungen – ausgedrückt in der Inflationsrate von 4,6 Prozent für 2010 -, ergibt sich für den Großteil der Bevölkerung eine Senkung des Lebensstandards um 15 bis 25 Prozent. Und das bei steigender Arbeitslosigkeit, die bereits im September eine Rate von 12,6 Prozent erreicht hat; in der Altersgruppe bis 25 Jahren ist bereits jeder vierte arbeitslos. Für diesen Zustand müsste man fast ein neues Wort wie etwa Rezessflation (Rezession + Inflation) erfinden. Nimmt man hinzu, dass der Beginn eines Wirtschaftsaufschwungs noch nicht einmal am Horizont zu sehen ist, könnte das Bild düsterer nicht sein.
Diese Stimmung spiegelt sich in der Verfassung der Pasok-Fraktion. Die Partei hat in den Wahlen vom Oktober 2009 im nationalen Parlament (vouli genannt) eine komfortable Mehrheit von 160 der 300 Abgeordnetensitzen errungen. 14 Monate später hat sie nur noch 156 Mandate. Vier Abgeordnete wurden aus der Pasok-Fraktion ausgeschlossen; drei bereits im Mai, nachdem sie gegen die ersten Austeritätsgesetze gestimmt hatten, der vierte am 14. Dezember, nachdem er das Gesetz über die Änderungen im privaten Sektor abgelehnt hatte. Mit einem weiteren Abblättern der parlamentarischen Mehrheit ist zwar nicht zu rechnen, aber in der Fraktion kommt der Unmut über die Regierungspolitik inzwischen offen zum Ausdruck. Denn es sind die Abgeordneten, die in ihren Wahlkreisen die Politik der Regierung verteidigen müssen. Sie kritisieren besonders, dass sie keine Antwort auf die Frage geben können, wie der Ausweg aus der Krise aussehen soll und wann er kommt. Besonders bitter beklagen sich die Parlamentarier über Finanzminister Papakonstantinou, da dieser sie über die wichtigsten Entscheidungen nicht einmal rechtzeitig informiere. Sie seien nur noch dazu da, die Beschlüsse abzunicken, die Papakonstantinou gegenüber der Troika abnicken musste.
Die Wut auf Papakonstantinou führte letzte Woche zu einer ersten kleinen Rebellion. Im Finanzausschuss des Parlaments musste der Finanzminister eine Gesetzesbestimmung zurückziehen, mit der ca. 24 Mrd. Euro – von insgesamt 32,5 Mrd. – der ausstehenden Steuerschulden abgeschrieben werden sollen, weil sie nicht mehr einzutreiben seien. Mehrere Pasok-Abgeordnete verweigerten ihre Zustimmung und beklagten sich so heftig, dass Regierungschef Papandreou zwei Tage später vor der Fraktion erklären musste, man werde die Namen aller Steuerschuldner veröffentlichen und ein Sonderausschuss werde nochmals überprüfen, ob die geschuldeten Summen nicht wenigstens teilweise einzutreiben sind.
(An dieser Stelle ist eine Korrektur an meinem Beitrag vom 16. Dezember fällig. Dort habe ich das Abgeltungsgesetz vom September beschrieben, das einem Erlass von Steuerschulden gleichkommt. Eine griechische Kollegin hat mich belehrt, dass dieses Gesetz sich nicht – wie irrtümlich dargestellt – auf bereits festgesetzte Steuerschulden bezieht, sondern auf die zahllosen Fälle, in denen Kleinunternehmen und Freiberufler von den Finanzämtern noch gar nicht veranlagt wurden. Die potentiellen Einnahmen aus diesen oft bis 2000 zurück reichenden Fällen werden auf 30 Mrd. Euro geschätzt, sodass die von mir errechnete „Verlustquote“ von 95 Prozent für den Fiskus noch höher liegt. Die Kritik an dieser Art „Steueramnestie“ bleibt also richtig und gilt verstärkt, wenn auch noch die festgestellten, aber nicht eingetriebenen Steuerschulden (weitere 24 Mrd. Euro) abgeschrieben werden sollten.)
Die Kritik aus der Pasok an der eigenen Regierung zeugt von dem verzweifelten Bemühen, die Gerechtigkeitslücke des Sparprogramms nicht noch größer werden zu lassen. Das berührt auch die Frage nach ihrem Verhältnis der Partei zu den Gewerkschaften. Diese Frage ist komplizierter als es auf den ersten Blick aussieht. Denn für die meisten Griechen sind die Gewerkschaften keinesfalls die gesellschaftliche Kraft, die auf eine „gerechte“ Verteilung der Krisenlasten drängt. Gewiss artikuliert sich in Generalstreiks auch die Empörung derjenigen, die nicht für die Sünden „der anderen“ büßen wollen. Aber wenn zum Beispiel die Beschäftigten der Athener Verkehrsbetriebe vor Weihnachten acht Tage lang streiken, kämpfen sie für die Erhaltung von Bezügen, die fast alle Athener als Privilegien ansehen (oder auch, wie die berühmte Zulage für „pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz“ als Verhöhnung der Kunden eines Unternehmens, zu dessen Dienstleistung auch die Pünktlichkeit gehört.)
In den meisten europäischen Staaten herrscht die „öffentlichen Meinung“, dass gewerkschaftliche Kämpfe und Forderungen in der Regel auf mehr soziale Gerechtigkeit zielen. In Griechenland ist diese Annahme nicht weit verbreitet. Das hat auch damit zu tun, dass die Syndikate (wie sie auf griechisch heißen) als Teil des „politischen Systems“ gelten, die für Korruption und Klientelismus genauso anfällig sind wie etwa die politischen Parteien. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Im November streikte die Gewerkschaft der Seeleute, damit waren die griechischen Inseln zehn Tage lang vom Rest des Landes abgeschnitten. Auf den Inseln gingen die Leute einhellig – und quer durch die politischen Lager – davon aus, dass die Seeleute gemeinsame Sache mit den Reedereien machte. Die sparen nämlich in der Wintersaison viel Geld für Treibstoff, wenn ihre Schiffe dieselbe Insel nicht täglich mit 300, sondern nur alle drei Tage mit 900 Passagieren ansteuern. Entscheidend ist bei dieser Geschichte nicht, ob die Inselgriechen mit ihrer Vermutung Recht haben, sondern dass sie den Syndikaten einen solchen Deal zutrauen.
Streiks und Gewerkschaften in Griechenland: einige Besonderheiten
- Opportunistische Terminologie:
Zunächst muss man wissen, dass in Griechenland nicht überall, wo „Gewerkschaft“ oder „Streik“ draufsteht, auch Gewerkschaft oder Streik drin ist. Als „Gewerkschaften“ posieren auch Gruppen von Kleinunternehmern, die eigentlich Berufs- oder Unternehmerverbände sind. Das bekannteste Beispiel sind die Lastwagenbesitzer, die im Sommer einen längeren „Streik“ organisierten, mit dem sie ihre erheblichen Privilegien verteidigen wollten (dazu unten mehr). Auch die Besitzer der Kioske (der periptero ist meist ein Familienbetrieb, der fast rund um die Uhr offen hat), sprechen von „Streik“, wenn sie einen Tag dicht machen, um gegen die Erhöhung der Tabaksteuer zu protestieren, die ihre Zigarettenumsätze mindert. Dasselbe gilt für die Taxi-Unternehmer, die gegen die Einführung von Quittungen „streiken“, weil sie die steuerliche Erfassung ihrer Umsätze verhindern wollen. Die Taxibesitzer sind überhaupt die Großmeister der opportunistischer Terminologie: Wenn sie ihren Kunden vor Ostern und Weihnachten zwei Wochen lang für jede Fahrt einen Aufpreis von 1 Euro abverlangen, sprechen sie dreist von einem „Oster-„ bzw. „Weihnachtsgeschenk“ (dieses Jahr haben sie auf dieses doro krisenhalber erstmals verzichtet). - Parteifärbung der Gewerkschaften:
Der Einfluss der politischen Parteien auf die Gewerkschaften macht sich über die Delegiertenversammlungen der beiden großen Gewerkschaftsverbände GSSE und ADEDY, aber auch in den Einzelgewerkschaften geltend. Die Vorstände werden von den Delegierten anhand von Parteilisten (also von Pasok, ND, KKE und der Linkspartei Synaspismos) gewählt und die Parteien brüsten sich ganz offen, dieses oder jenes Syndikat zu beherrschen oder „erobert“ zu haben. (Eine ähnliche „Parteipolitisierung“ herrscht auch bei den Vorstandswahlen der Berufskammern von Rechtsanwälten, Ärzten, Notaren usw.). In der Vergangenheit war die Parteinähe für die Gewerkschafter des jeweiligen Regierungslagers eher ein Vorteil als ein Handicap, weil sie sich ihren Mitgliedern als „Transmissionsriemen“ für die Durchsetzung gewerkschaftlicher Forderungen darstellen konnten. In der Tat sind viele Errungenschaften speziell im öffentlichen Sektor – und damit auch das Lohngefälle gegenüber dem privaten Sektor – durch den Einfluss der Pasok-Gewerkschaftsführer auf „ihre“ Regierung zu erklären. Seit der Krise gilt natürlich das Gegenteil: Die Gewerkschafter können nicht mehr „liefern“ und sehen sich stattdessen von der Regierung aufgefordert, ihren Kollegen die Logik und Notwendigkeit des Sparprogramms zu vermitteln; deshalb sitzen sie jetzt in der Klemme und können nur noch in beide Richtungen – der Regierung und ihrer Mitglieder – versprechen, „das Schlimmste zu verhindern“.
Dieses Dilemma haben die kommunistischen Gewerkschafter nicht. Als stramme Kaderpartei fährt die KKE eine Doppelstrategie. Zum einen agiert sie innerhalb der „Einheitsgewerkschaften“, zum anderen mittels der eigenen „Richtungsgewerkschaft“ namens PAME (Vereinigte kämpferische Arbeiterfront). Mit jedem ihrer Aufrufe und Aktionen gibt die PAME zu erkennen, dass sie sich – wie die KKE – als revolutionäre Avantgarde und Schulmeisterin der Gewerkschaften versteht (als Beispiel der jüngste Appell vom 17. Dezember: “Die PAME ruft die Gewerkschaften auf, ab sofort über die weitere Eskalation der Streiks zu diskutieren und die Arbeiter entsprechend vorzubereiten und zu organisieren…“). Das demonstriert sie auch in ihren Aktionen, die sie im Auftrag der KKE-Führung und ohne Absprache mit den Gewerkschaftsverbänden unternimmt. Selbst bei den sieben Generalstreiks dieses Jahres organisierte die PAME stets eine eigene Kundgebung und einen separaten Demonstrationszug, der sich erst am Ende mit den Massen der anderen Gewerkschaften vereint. - Kluft zwischen öffentlichem Dienst und privatem Sektor:
Noch wichtiger als die parteipolitische Überformung ist der latente Gegensatz zwischen den beiden Gewerkschaftsverbänden GSEE (Allgemeine Konföderation der griechischen Arbeiter) und ADEDY (Dachverband der Gewerkschaften der griechischen öffentlichen Bediensteten). Der ADEDY organisiert die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, der GSEE die des privaten Sektors (aber auch die Belegschaften der öffentlichen und halb öffentlichen Unternehmen). Über beiden Verbänden gibt es kein Dach wie es in Deutschland der DGB darstellt; gemeinsam organisiert und finanziert ist nur das gewerkschaftliche Institut für Arbeitsforschung (INE).
Zwar wurden die meisten Generalstreiks dieses Jahres gemeinsam von GSEE und ADEDY ausgerufen, aber so lange die Haushaltskürzungen der Regierung vor allem auf Kosten des öffentlichen Dienstes gingen, brachte der ADEDY viel mehr Mitglieder auf die Straße als der GSEE. Und während der öffentliche Dienst fast geschlossen die Arbeit einstellte, wurde in „der Wirtschaft“ trotz Generalstreik weiter gearbeitet. Das lag zum einen daran, dass die Beschäftigten im Privatsektor wenig Lust hatten, die Privilegien der Staatsbediensteten zu verteidige. Und zum anderen am unterschiedlichen Organisationsgrad, der im privaten Sektor bei 18 Prozent liegt, während im ADEDY etwa 60 Prozent der öffentlichen Bediensteten organisiert sind (Stand von 2007). - Aufsplitterung der Syndikate und Branchenegoismen:
Beide Gewerkschaftsverbände bestehen aus einer Vielzahl von Einzelgewerkschaften, die eine starke Zersplitterung in einzelne Berufsgruppen abbilden, aber auch verstärken. Die Untergliederungen des ADEDY entsprechen bezeichnenderweise den Ressorts der nationalen Regierung, während sich der GSEE aus fast 70 Branchensyndikaten zusammensetzt, die auch winzige Berufssplittergruppen repräsentieren (z.B. Steinbrucharbeiter, „Beschäftigte in privaten Casinos“ oder „Angestellte der nationalen Sportzentren“). Bis vor kurzem waren sogar die Bankangestellten auf mehrere Syndikate aufgeteilt. Diese Strukturen kultivieren einen Berufsgruppen-Egoismus, der die Gewerkschaften häufig zum Hemmschuh überfälliger Reformen gemacht hat, zum Beispiel im Bereich der Sozialkassen. So scheiterte vor acht Jahren die Regierung Simitis mit einem ersten Anlauf zur Reform des Sozialversicherungssystems vor allem daran, dass jede der ca. 150 Berufskassen Angst hatte, bei einer „Kollektivierung“ ihrer separaten Kranken- und Rentenkassen für andere Berufsgruppen draufzahlen zu müssen. Die engstirnige Interessenwahrnehmung zeigt sich auch in Forderungen, die für die meisten Gewerkschaften im EU-Bereich undenkbar wären. So haben einige Branchensyndikate erkämpft, dass Familienangehörige bei der Rekrutierung von Arbeitskräften bevorzugt werden (z.B. in Bereichen des öffentlichen Dienstes und bei den Banken). Vor einigen Jahren haben etwa die Piloten der damals noch staatlichen Olympic Airways für das Ziel gestreikt, dass 10 Prozent der Ausbildungsplätze für Nachwuchspiloten an ihre eigenen Sprösslinge vergeben werden.
Angesichts der parteipolitischen Aufspaltung und der Zerklüftung in fast schon zunftartige Berufssyndikate kann in Griechenland von einer kompakten und strategisch handlungsfähigen „Gewerkschaftsbewegung“ kaum die Rede sein. Und schon gar nicht von einer Verständigung über die gewerkschaftlichen Ziele und Prioritäten in Zeiten des drohenden Staatsbankrotts. Auch Gewerkschaften haben ein Problem der „gesellschaftlichen Akzeptanz“. Sie repräsentieren per definitionem ein Gruppeninteresse, aber ihre Forderungen und Aktionsformen werden umso erfolgreicher sein, je stärker sie eine politisierte „öffentliche Meinung“ mitnehmen können. Wenn eine Gewerkschaft die Meinungen und Stimmungen derer außer Acht lässt, deren Interessen durch Streiks beeinträchtigt werden, obwohl sie mit den Streikenden und den Streikzielen sympathisieren, hat sie in jedem Fall ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wenn sie zu „eigensüchtig“ agiert, werden ihre Aktionen von großen gesellschaftlichen Mehrheiten als unsolidarisch wahrgenommen.
Streiken für unsoziale Privilegien
In Griechenland hat es im Lauf des Jahres mehrere Streikaktionen gegeben, die den Gruppenegoismus derart auf die Spitze trieben, dass sie von einer breiten (und keineswegs manipulierten) öffentlichen Meinung als „asozial“ verurteilt wurden. Dazu einige Beispiele.
- Im Februar begannen die Zollangestellten einen separaten Streik gegen die Einkommenskürzungen, von denen sie wie alle öffentlichen Bediensteten betroffen waren. Mit ihrer Weigerung, den Verkehr an den Grenzen abzufertigen, wollten sie erzwingen, dass sie von den Sparmaßnahmen ausgenommen werden. Diese Forderung begründete die Sprecherin der Zöllnergewerkschaft mit dem Argument: Wir sind es schließlich, die dem Staat die Zolleinnahmen verschaffen. Die Zöllner drohten also, das Staatsdefizit noch zu vergrößern, das die Sparmaßnahmen nötig gemacht hatte. Ihre nachgerade separatistische Taktik verstieß eindeutig gegen die innergewerkschaftliche Solidarität, wurde aber bezeichnenderweise von den anderen ADEDY-Gewerkschaften nicht gerügt.
- Im Frühjahr und Sommer betrieb die PAME über mehrere Wochen einen separaten Partisanenstreik im Hafen von Piräus. Tagelang blockierten weniger als hundert Seeleute-Gewerkschafter, verstärkt durch Mitglieder des KKE-Studentenverbands, den Zugang zu Linienschiffen, die Piräus mit den ägäischen Inseln verbinden. Der Protest galt dem Plan der Regierung, in Piräus auch Kreuzfahrtschiffe aus Nicht-EU-Ländern anlegen zu lassen. Was das mit den Linienschiffen zu tun hat, konnte die PAME den betroffenen Passagieren
- Touristen wie Inselgriechen – ebenso wenig erklären wie der empörten Öffentlichkeit.
- Im August versuchte die LKW-Lobby unter Führung der Tanklaster-Besitzer, mit einem „Streik“ die Benzinversorgung des Landes lahmzulegen. Die Aktion begann gezielt an dem Wochenende, an dem halb Griechenland in Urlaub fährt. In Athen gab es endlose Schlangen vor den Tankstellen, und die internationalen Medien brachten Berichte über motorisierte Touristen, die kein Benzin mehr auftreiben konnten. Der volkswirtschaftliche Schaden (Tourismus, Exporte) ging in die Milliarden. Und die Streikziele? Die LKW-Besitzer wollten den Plan der Regierung torpedieren, den „closed shop“ ihrer Berufssparte aufzubrechen. Der Hintergrund: Über 30 Jahre lang hatte der Staat auf Druck der LKW-Besitzer keine neuen Lizenzen für das Speditionsgewerbe vergeben, mit der Folge, dass die Lizenzen nur noch innerhalb der Familie vererbt oder gegen hohe Ablösesummen verkauft wurden. Der geschlossene Markt ließ den Preis für eine LKW-Lizenz auf eine sechsstellige Euro-Summe steigen, eine Benzintransport-Lizenz kostet bis zu 250 000 Euro. Die Erlöse aus den Lizenzverkäufen wurden damit zu einer Art Ruhestandsgeld, das in der Branche als etablierter Anspruch galt. Wobei die meisten LKW-Besitzer nicht nur eine einzelne Lizenz verkaufen können (der Anführer des „Streiks“ vom August war Besitzer eines Familienunternehmens mit acht LKW-Lizenzen).
In allen genannten Fällen ist es der Regierung gelungen, die Streikenden zum Aufgeben zu bewegen. Im Fall der Zollbediensteten durch disziplinarische Maßnahmen, im Fall des Hafenstreiks durch den Einsatz der Polizei, im Fall der Spediteure durch Androhung einer „Zwangsverpflichtung“ (die mit einem nationalen „Notstand“ begründet werden kann) und den Einsatz von Armeefahrzeugen, die das Benzin an die Tankstellen transportierten. In allen Fällen hatte die Regierung die öffentliche Meinung eindeutig auf ihrer Seite. Beim Hafenstreik der PAME und in der Krise der Benzinversorgung kritisierten viele sogar, dass sie zu spät durchgegriffen habe.
Dabei wird das Streikrecht in der Bevölkerung keineswegs in Frage gestellt. Aber es herrscht das verbreitete Gefühl, dass Gruppen- oder Partisanenstreiks nicht nur keine Erfolgschancen haben, sondern illegitim sind, wenn einzelne Berufsgruppen die eigenen Interessen über die der Gesellschaft zu stellen. Diese Einschätzung beruht auf der wachsenden Einsicht, dass die Griechen alle gemeinsam in derselben „Scheiße“ sitzen, und auf dem Gefühl, dass die Syndikate mit der größten Streikschlagkraft nicht unbedingt die legitimsten Ziele verfolgen. Das erklärt die Ambivalenz, die sich immer wieder in Umfragen zeigt: regelmäßig qualifizieren zwischen 70 und 80 Prozent der Befragten das Sparprogramm als „ungerecht“ oder „unfair“, fast ebenso viele sprechen sich aber auch gegen Streiks aus. Und zwar nicht, weil sie das Streikrecht in Frage stellen (das tun nur ganz wenige), sondern weil sie nicht glauben, dass sich irgendwelche Streikziele gegen „die Realität“ durchsetzen lassen.
Die soziale Explosion ist ausgeblieben
Man kann diese Haltung als Resignation oder als Realismus beschreiben. Tatsache ist jedenfalls, dass die große Mehrheit der griechischen Bevölkerung auf die Krise bislang eher apathisch als rebellisch reagiert. Die von vielen erwarteten – und insbesondere im Ausland beschworenen – sozialen Unruhen oder gar Explosionen sind bislang ausgeblieben. Das kann sich zwar schnell ändern, wenn die Härten des Sparprogramms erst einmal voll durchschlagen. Und die Ergebnisse der Kommunalwahlen wie die Zweifel an der Regierungspolitik, die in der Pasok-Fraktion artikuliert werden, könnten durchaus Vorboten einer stärkeren Protestbewegung sein. Aber am Ende des Krisenjahres 2010 muss man sich fragen, warum die Reaktion der griechischen Gesellschaft bislang so verhalten geblieben ist.
Um eine schlüssige Antwort zu geben, wäre ein ganzes Forschungsprojekt nötig. Hier sei nur auf einige Aspekte verwiesen, die es sich schon deshalb zu betrachten lohnt, weil sie aus dem „linken Weltbild“ häufig herausfallen.
Die schiere Wucht der Krise lähmt die Reaktionen und wirft die meisten Leute auf die eigenen Sorgen und Nöte zurück: Jeder ist mit Überlebensstrategien für die eigene engere Umgebung und insbesondere die Familie ausgelastet, und zwar praktisch wie psychologisch. Diese „asoziale“ Fokussierung auf die Familie steht kollektiv artikulierter Solidarität prinzipiell im Wege. Sie ist im übrigen nur die andere Seite jenes „amoralischen Familialismus“, den Sozio-Ethnologen als Hauptursache für die verbreitete Bereitschaft sehen, Korruputionspraktiken mitzumachen oder zu dulden, sobald sie sich mit dem „Familieninteresse“ legitimieren lassen.
Eine Adressat für die Wut und Verbitterung über die Krise und ihre Folgen ist schwer zu identifizieren: Auch diejenigen, die über die aktuelle Regierung fluchen und sie durch Nichtwählen bestrafen, wissen im Grunde, dass ein offensichtlich „ungerechtes“ Sparprogramm nicht die Wunschpolitik der Pasok ist. Sie ist der Regierung durch eine Realität aufgezwungen, als deren Interpret die Troika auftritt. Und gegen die kann man zwar demonstrieren, aber man kann sie nicht beeinflussen oder gar bestrafen.
Das Gefühl, gegen die bittere Realität nichts bewirken zu können, wird von vielen als realistische Ohnmacht empfunden. Auch diejenigen, die noch regelmäßig demonstrieren, glauben nicht, dass sie damit etwas gegen den drohenden Staatsbankrott ausrichten können, der ja keine Schimäre oder ideologische Erfindung ist. Und die europaweite Krisenentwicklung macht es noch schwieriger, diese Realität zu leugnen oder zu verdrängen. Auch die Demonstranten wissen, dass die „Schuldfrage“ und die „Gerechtigkeitsfrage“, die sie in ihren Protesten artikulieren, keine Antwort auf die Frage gibt, wie der Staatsbankrott ohne die Kredite von EU und IWF abzuwenden wäre. Im Mai 2010 erklärte Papandreou den öffentlichen Bediensteten, die gegen die Streichung ihres 13. und 14. Monatsgehalt protestierten: Wenn wir das nicht tun, können wir euch das 8. Gehalt nicht mehr auszahlen, weil wir im August pleite sind. Das war keine Demagogie, wie die KKE bis heute behauptet, sondern die nackte Wahrheit unter dem Diktat der Finanzmärkte.
Die Ohnmacht ist durchdrungen von dem Gefühl einer Mitschuld an der heutigen Kalamität. Hinter dem Patriotismus „der Griechen“, die auf Kritik von außen oft empfindlich bis empört reagieren, verbirgt sich eine höchst kritische Wahrnehmung der eigenen Realität. Ein Leitartikel in To Vima vom 12. Dezember hat diesen selbstkritische Realismus präzise beschrieben: „Auf die tiefe ökonomische Krise reagieren die Bürger, als hätten alle sie erwartet. Das erklärt ihre Reaktion auf härtesten Sparmaßnahmen, die jemals in Griechenland durchgesetzt wurden… Offenbar akzeptieren die Bürger mit großer Geduld die „harte Realität“, dass die heutige Generation für die Verschwendung der vorherigen Generation zahlen muss.“
Gibt es eine andere Lösung der Krise?
Das bringt uns zum Schluss auf die Frage, wie man die griechische Krise „von außen“ bewerten und mit welchen Kräften im Lande man „sympathisieren“ soll. Mit anderen Worten: Wie lässt sich ein realistischer Blick auf den Zustand der griechischen Gesellschaft und Wirtschaft mit den Postulaten der „internationalen Solidarität“ vereinbaren? Es gibt linke Positionen, die sich diese Frage erst gar nicht vorlegen. In der Diskussion, die im Frühjahr 2010 im Rahmen der Attac geführt wurde, waren Stimmen zu hören, die es verwerflich fanden, den Eigenanteil der griechischen Gesellschaft an ihrer Krise auch nur zu benennen. Solcher freiwilligen, moralisch begründeten Realitätsblindheit ist mit Gramsci entgegen zu halten: Wenn man mit dem Kopf gegen die Wand der Realität läuft, leidet nicht die Wand Schaden, sondern der Kopf.
Eine solche Position, die sich im Wesentlichen auf die Beschimpfung der Finanzmärkte beschränkt, ist nicht nur intellektuell borniert, sondern auch unsolidarisch, weil sie das bittere Dilemma der griechischen Krisenopfer ignoriert. Und zwar auch das Dilemma der Gewerkschaften. Oder würde irgendjemand einer Gewerkschaftsführung hierzulande empfehlen, einen Streik zu beginnen – und zu finanzieren – wenn von vornherein feststeht, dass nicht einmal ein fauler Kompromiss zu erreichen ist?
Ein militanter und kompromissloser Widerstand der Gewerkschaften gegen das Sparprogramm der Regierung Papandreou ist im Grunde nur mit einem Kalkül zu begründen: Wenn man die Streiks – auch von einzelnen schlagkräftigen Berufsgruppen – als Instrument sieht, um eine radikale andere Krisenlösung als die des Memorandums zu erzwingen.
Warum ein haircut für Griechenland katastrophal wäre
Die einzige alternative Krisenlösung ist unter den gegebenen Bedingungen der Staatsbankrott und in seinem Gefolge die Abwertung der griechischen Staatsschulden nach argentinischem Vorbild. In diesem Lösungsmodell, das in der Wirtschaftspresse und in den Chefetagen der Hedgefunds längst durchgespielt wird, ist ein „haircut“ vorgesehen, der die griechischen Bonds um mindestens 50 Prozent abwertet. Es ist interessant, dass eine solche radikale Umschuldung auch von linken Ökonomen als Ausweg aus der griechischen Krise diskutiert wird. Diese sehen den Charme einer haircut-Lösung erklärtermaßen darin, dass damit endlich die Banken zur Kasse gebeten werden, nachdem sie zuvor mit dem Handel von „Risikopapieren“ so kräftig abgesahnt haben.
Die Bestrafung der „Couponschneider“, also der Banken und anderen Profiteure an den Bondsmärkten, ist freilich nur die eine Seite des Umschuldungsmodells. Die andere Seite ist die Wirkung für Griechenland. Um die kümmern sich die linken haircut-Fans entweder gar nicht, oder sie betrachten sie sogar als Segen für die griechische Gesellschaft: Das Land aus den Klauen des IWF und der Euro-Partner zu befreien, erscheint als die große Chance des Neubeginns.
Diese Annahme ist eine große Illusion. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Darauf hat Lorenzo Bini Smaghi, eine maßgebliche Stimme aus der EZB, in der Financial Times vom 17. Dezember hingewiesen: “Viele Kommentatoren nehmen nicht wahr, dass bei einem Staatsbankrott die Hauptlast nicht etwa die ausländischen Gläubiger zu tragen haben, sondern die Bürger des betreffenden Landes und vor allem die, die am verwundbarsten sind. Sie bekämen die Folgen vor allem als Entwertung ihrer Einkünfte und Vermögenswerte zu spüren.“
Die meisten Ökonomen und anderen Experten, denen die griechische Realität vertraut ist, sehen als Folgen von Staatsbankrott und Umschuldung einen Crash des griechischen Banksystems voraus. Die Gründe:
- griechische Bonds im Wert von 60 Mrd. Euro liegen bei den einheimischen Banken (viel mehr als bei deutschen und fast so viel wie bei französischen Banken), die durch einen haircut tödlich getroffen wären;
- die griechischen Banken hätten keinerlei Zugang mehr zu den internationalen Finanzmärkten.
Aber das wäre nur der Anfang. Da alle Szenarien einer griechischen Umschuldung den Ausstieg aus dem Euro mitdenken (sei es als Rückkehr zur Drachme, sei es als Teilhabe an einem Euro-Süd nach der fixen Idee von Hans Olaf Henkel), sind auch die Implikationen dieser zwingenden Entwicklung ins Auge zu fassen. Entgegen der Annahme, eine „Abwertung“ der griechischen Währung sei der Königsweg aus der Krise, wären die Folgen höchst negativ:
- Die griechischen Staatsschulden wären nach wie vor Verpflichtungen in Euro (ein Beispiel: ein haircut dieser Schulden um 50 Prozent wäre bei einer Abwertung der griechischen Währung um 50 Prozent völlig neutralisiert);
- die Abwertung würde zur Flucht sämtlicher Einlagen aus dem griechischen Bankensystem führen;
- Investitionen aus dem Ausland, auf die Griechenland dringend angewiesen ist, würden durch eine weiche Währung abgeschreckt;
- die griechischen Importe würden sich enorm verteuern (z.B. die unentbehrlichen Energieimporte) und die Zahlungsbilanz extrem belasten;
- die neue Währung wäre von Anfang an inflationär, vor allem zu Lasten der Masseneinkommen.
Das Hauptargument für eine Abwertung der Währung ist stets die gesteigerte Exportfähigkeit. Die aber würde im griechischen Fall kaum etwas nützen, weil das Land – im Gegensatz zum Fall Argentinien – kaum etwas exportiert (der Anteil der Exporte am BIP liegt derzeit bei 8,7 Prozent), was sich ohne ausländische Investitionen auch so schnell nicht ändern wird. Das einzige relevante „Exportgut“ ist natürlich der Tourismus, aber die Verbilligung des Produkts „Ferien in Griechenland“ hätte kurzfristig gegen etablierte Märkte wie Spanien und Türkei nur begrenzte Chancen und würde mittelfristig durch inflationäre Tendenzen wieder hinfällig.
Das entscheidende Argument gegen die Krisenlösung nach der Formel „haircut +Abwertung“ ist aber folgende Überlegung: Einen auch nur bescheidenen Erfolg – im Sinne von Wirtschaftswachstum und Staatsentschuldung – bietet auch diese „Alternative“ nur, wenn das Land mittelfristig die Probleme löst, die heute die Regierung Papandreou unter der Knute der Troika und des Memorandums angehen muss. Auch dieses Konzept geht also niemals auf ohne:
- eine radikale Verschlankung und qualitative Reform des öffentlichen Dienstes;
- die kostenmäßige Rationalisierung der öffentlichen Betriebe;
- die drastische Erhöhung der staatlichen Einnahmen;
- eine einschneidende Reform des Rentensystems (das im heutigen Zustand nicht lebensfähig ist, weil jeder Rentner im Durchschnitt nur 26 Jahre in das Versicherungssystem einzahlt, während die Anspruchszeit immer länger wird).
Dass eine griechische Regierung ein solches Programm stemmen könnte – und das unter Bedingungen einer Inflation und ohne Auslandsinvestitionen – ist mindestens so unwahrscheinlich wie die Realisierung des heutigen Sparprogramms in dem vorgesehenen Zeitraum, der wie gezeigt viel zu kurz ist.
Prolongierung der Kredite als Ausweg aus der Krise
Ein realistischer Ausweg aus der Misere, in der sich Griechenland heute befindet, ist offensichtlich nur die Verlängerung des Zeitraums, der Athen für die Rückzahlung seiner Schulden eingeräumt wird. Nur so kann das Land eine tiefgehende Rezession vermeiden und seinen Bürgern wieder eine zaghafte Hoffnung für die Zukunft geben. Nur so kann es die Bedingungen überwinden, die der Kommentator Antonis Karakousis in To Vima als Sackgasse beschreibt, weil die Regierung es nicht schafft, dem Land eine Perspektive aufzuzeigen, und deshalb Gefahr läuft, „den Kampf vorzeitig zu verlieren.“
Die einzige Möglichkeit, die griechischen Sparbemühungen zum erfolgreichen Ende zu führen, sieht Karakousis in der Prolongierung der griechischen Kredite, also längeren Fristen für die Rückzahlung (die auf keinen Fall mit einer Umschuldung im Sinne eines haircut zu verwechseln ist). Diese Prolongierung dürfe sich nicht nur auf das 110 Mrd. Kreditprogramm der Europartner und der IWF beschränken, sondern müsse sich auf sämtliche griechischen Schulden beziehen, also auch auf die 100 Mrd. Euro, die bei der EZB aufgenommen wurden (die griechische Bonds weiterhin aufkauft, obwohl diese auf den Märkten keine Nachfrage mehr erzielen) und auf die zig Milliarden Euro für die Bonds, die bei europäischen Banken liegen (mit denen die Bedingungen einer Prolongierung gesondert ausgehandelt werden müssten).
Als Voraussetzungen für einen solchen Lösungsweg sieht der Kommentator:
- die Einsicht bei den Gläubigern, dass es nicht anders geht;
- in Athen: politische Stabilität und beharrliches Bemühen der Regierung Papandreou;
- auf europäischer Ebene: die „geeigneten Partner“ für eine solche Lösung.
Welches die „geeigneten Partner“ für diesen Ausweg aus der griechischen Sackgasse sind, lässt der Kommentator offen. Ob die Deutschen dazu gehören (wollen), muss hierzulande schon in allernächster Zeit entschieden werden.
Nachtrag: Umschuldungs-Szenarien in der griechischen Presse
Die Athener Zeitung Ta Nea berichtete am 24.12. über ein Konzept, das die Regierung in diskreten Beratungen mit dem Zentralbankvorsitzenden Giorgos Provopoulos und Vertretern der großen griechischen Banken entwickelt habe. Federführend bei diesen Beratungen sei Lukas Papadimos gewesen, der ökonomische Sonderberater von Papandreou, der als ehemaliger Vizepräsident der EZB vorzügliche Kontakte zu Entscheidungsträgern in den Euro-Ländern hat. Nach diesem Konzept soll Griechenland nach 2013 einen Umschuldungsplan vorlegen, der ausdrücklich einen Haircut, also eine Abwertung der Schuldensumme ausschließt. Nach Angaben der Zeitung werde dieser Plan bereits „inoffiziell“ mit der EU-Kommission, der EZB und mit der Regierung in Berlin „kommuniziert“ und sei „prinzipiell positiv“ aufgenommen worden. Im dem Artikel heißt es wörtlich:
„Der Plan lehnt jede Idee einer Umschuldung gleich welcher Art vor dem Auslaufen des Kreditprogramms von EU und IWF (also vor 2013) ab, wie sie von vielen EU-Vertretern vorgeschlagen wurde…. Nach diesem Plan… wird Griechenland nach dem Ende des Memorandums eine Umschuldung vornehmen, die zwei Hauptziele hat:
- Zum einen die Verlängerung der Rückzahlungsfristen nicht nur für das Kreditprogramm von 110 Mrd. Euro vom IWF und den europäischen Regierungen, sondern auch für die Kredite, die sie von anderen Gläubigern aufgenommen hat.
- Zum anderen wird angestrebt, den Zinssatz für diese Kredite herabzusetzen, auf keinen Fall aber soll der Wert dieser Kredite reduziert, also ein haircut vorgenommen werden.
Die Realisierung dieses Plans der griechischen Regierung – der offenbar im Grundsatz grünes Licht aus Brüssel bekommen hat – setzt voraus, dass bis dahin eine Verbesserung der Basisdaten der griechischen Volkswirtschaft eintritt. Das aber kann nach Ansicht der zuständigen (einheimischen wie ausländischen) Stellen nur gelingen, wenn das Programm des Memorandums in der verbleibenden Zeit gewissenhaft und ohne Abstriche und Verzögerungen umgesetzt wird.
Damit Griechenland in der Lage ist, über die Umstrukturierung seiner Schulden gemäß der gewünschten Bedingungen zu verhandeln, muss das Land – wie aus EU-Kreisen verlautet – seine öffentlichen Finanzen in Ordnung gebracht haben, das heißt: durch Erhöhung der Einnahmen und Begrenzung der Ausgaben das Defizit auf die angestrebte Zielmarke zurückgeführt haben. Was die Einnahmen betrifft, so wird bereits die technische Expertise des IWF bei der Umorganisierung der Finanzämter genutzt, wobei der Kampf gegen die Steuerhinterziehung als ein absolutes Muss angesehen wird. Was die Begrenzung der Ausgaben betrifft, so versteht man darunter das Einschrumpfen des öffentlichen Dienstes und des staatlichen Sektors im weiteren Sinne, wobei gleichzeitig ein effektiverer Staat angestrebt werden muss, was wiederum – zusammen mit anderen Maßnahmen – ein Anreiz für Investitionen darstellt. Als vordringliches Thema wird auch die möglichst schnelle Umsetzung der von der Regierung angekündigten Reformen gesehen. Entscheidend ist dabei für die EU-Vertreter die Frage der Arbeitsbeziehungen, weil sie davon ausgehen, dass auf diese Weise die Arbeitskosten gesenkt und die Konkurrenzfähigkeit der griechischen Wirtschaft erhöht werden kann.“
Wie Ta Nea weiter berichtet, herrscht in Athen zum Jahresende allerdings Nervosität angesichts der Möglichkeit, dass die Rating-Agentur Fitch seine Bewertung der griechischen Bonds auf „junk“ (Schrottpapiere) herabsetzen könnte, wie es die beiden anderen Rating-Agenturen bereits getan haben. In diesem Fall müsse die EZB womöglich ihre Politik ändern, weil sie die griechischen Staatspapiere nicht mehr als Garantie für (billige) Kredite an griechische Banken akzeptieren könne. Im besten Fall könnte die EZB bei der Bewertung dieser Sicherheit einen größeren Abschlag vornehmen. Wobei die Zeitung darauf hinweist, dass die EZB bei diesen griechischen Papieren derzeit bereits einen 15-prozentigen Abschlag gegenüber ihrem Nennwert einkalkuliert.
Für den Fall einer stärkeren „Abwertung“ der von den Banken hinterlegten Bonds befürchte die Regierung „dass dies in der jetzigen Phase bei den meisten griechischen Banken zu einem akuten Kapitalmangel führen würde, während zugleich bei den Reserven der Sozialversicherungskassen – die ebenfalls solche Bonds halten – große Löcher entstehen würden. Damit sei mittelfristig die Auszahlung der Renten gefährdet, wofür dann die Regierung einspringen müsse, was dann neue Probleme für die öffentlichen Finanzen bedeuten würde.“
Details über dieses „Rettungsmodell“ einer Prolongierung hat der griechische Vertreter beim IWF, Panayotis Roumeliotis am 26. Dezember in einem Interview mit Kathimerini mitgeteilt. Demnach solle Griechenland eine „Gnadenfrist“ (tilgungsfreie Zeit) von viereinhalb Jahren bekommen, danach werde sich die Rückzahlungszeit von den ursprünglich vorgesehenen zwei auf fünfeinhalb Jahre verlängern. Bei den Diskussionen im Gouverneursrat des IWF hätten sich auch die Vertreter der europäischen Länder für die Prolongierung ausgesprochen. Der IWF warte jetzt auf die Zustimmung der Eurogruppe, darüber würde im Januar verhandelt. Roumeliotis wörtlich: „Die Notwendigkeit dieser Regelung wird von allen Beteiligten anerkannt, insbesondere nach der Bewilligung des Pakets für Irland.“