Die Regierungskoalition in spe will den angekündigten Aufschlag bei der gesetzlichen Rente um mindestens 0,8 Prozentpunkte kappen und reaktiviert dafür den sogenannten Nachholfaktor. Den hatte die Große Koalition eigentlich bis 2026 ausgesetzt, um die Erosion des Systems ein bisschen abzubremsen. Ab sofort läuft die Altersarmutsproduktion wieder auf Hochtouren – mit Klecker- und Nullrunden bis 2025 und faktischen Minusrunden danach. Dann nämlich gibt es wegen wegfallender „Haltelinien“ nach unten gar kein Halten mehr. Gewerkschaften und Sozialverbände sind alarmiert, Wirtschaftsvertreter voll des Lobes – Auftrag erfüllt. Von Ralf Wurzbacher.
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So schnell hat sich eine Ankündigung selten in Schall und Rauch aufgelöst. „2022 könnten die Renten um 5,95 Prozent in den neuen und 5,18 Prozent in den alten Bundesländern steigen“, teilte der noch und absehbar weiter amtierende Bundesarbeitsminister, Hubertus Heil, vor zehn Tagen mit. Anlass war die Vorlage des Rentenversicherungsberichts 2021 der Bundesregierung. In der Lesart des SPD-Politikers zeugt das Schriftstück von einer rundum heilen Welt. Die ministerielle Stellungnahme im Wortlaut: „Stabiler Beitrag und steigende Renten. Die Rentenversicherung kommt gut durch die Pandemie.“
Nun ja – keine sechs Stunden später ging den „guten Nachrichten für die Versicherten und alle Rentnerinnen und Rentner“, nachdem diese im laufenden Jahr eine Nullrunde im Westen und eine Miniaturzugabe von 0,72 Prozent im Osten hatten schlucken müssen, ein Stück weit die Luft aus. Am späten Nachmittag desselben Tages hatten die Spitzen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ihren Koalitionsvertrag der Öffentlichkeit vorgestellt. Ihr ganzer Stolz enthält auf Seite 73 folgenden Satz: „Wir werden den sogenannten Nachholfaktor in der Rentenberechnung rechtzeitig vor den Rentenanpassungen ab 2022 wieder aktivieren und im Rahmen der geltenden Haltelinien wirken lassen.“ Übersetzt heißt das: Das Rentenplus im nächsten Jahr wird doch nicht so „üppig“ ausfallen, wie Heil noch zum Frühstück glauben machen wollte.
Luft nach unten
Und wenn schon: Konnte er ja nicht ahnen, was die Ampelverhandler alles im Schilde führen. Und von „Nachholfaktor“ war in seinem Rentenreport ja auch nichts zu lesen. Jedenfalls wird dessen Wiederbelebung den Aufwuchs bei den Altersgeldauszahlungen zum 1. Juli des kommenden Jahres mit einem Mal auf höchstens 4,4 Prozent in Westdeutschland und 5,1 Prozent in Ostdeutschland drücken. Das sei aber doch „immer noch sehr ordentlich“, beschied der Minister gegenüber der Springer-Presse, wobei auch diese Ansage längst nicht in Stein gemeißelt ist. Wie der Branchendienst „Versicherungsbote“ am Mittwoch schrieb, war das Bundesarbeitsministerium (BMAS) nach ersten Berechnungen noch davon ausgegangen, „dass die Rente nur etwa um die Hälfte der kommunizierten Zahlen steigen werde“. Klarheit herrscht irgendwann im Frühjahr. Dann erst wird auf Basis der Daten zur Lohnentwicklung abschließend über die künftige Rentenanpassung entschieden. Angesichts der krisenbedingt gebremsten Lohnabschlüsse besteht also durchaus noch „Luft nach unten“.
Lesenswert ist, wie die kommenden Koalitionäre ihre Rentenerhöhungskürzung begründen. „So stellen wir sicher, dass sich Renten und Löhne im Zuge der Corona-Krise insgesamt im Gleichklang entwickeln und stärken die Generationengerechtigkeit ebenso wie die Stabilität der Beiträge in dieser Legislaturperiode.“ Das klingt fast so, als legten die Altersbezüge und Gehälter stets im selben Tempo zu. Das stimmt natürlich mitnichten, wie die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, am Montag in einer Medienmitteilung unterstrich. „Laut Sozialversicherungsbericht 2021 der Bundesregierung steigen die Altersrenten im Zeitraum 2021 bis 2035 um 37 Prozent. Dagegen steigen die Löhne um 53 Prozent.“ Diese Zahlen sind natürlich Prognosen, die auf Rechenmodellen basieren. Dennoch gelte es, endlich sämtliche Kürzungsfaktoren „dauerhaft aus der Rentenformel zu streichen. Sonst werden die Rentner auch in Zukunft abgehängt“.
Substanzverlust politisch gewollt
Im Fall des Nachholfaktors hatte die Große Koalition lediglich eine Art Verschnaufpause eingelegt, damit die Erosion der gesetzlichen Rente nicht ganz so heftig vonstatten geht. Um die „doppelte Haltelinie“ – 48 Prozent des Durchschnittslohns und 20 Prozent bei den Beiträgen – nicht zu reißen, sollte der Mechanismus eigentlich für die Jahre 2018 bis 2026 auf Eis gelegt werden. Jetzt wird mit dem Aussetzer schon 2022 Schluss gemacht, während man die Haltelinien weiterhin bis 2025 fortwirken lässt. Wie Albrecht Müller hier in seiner Einschätzung zu den rentenpolitischen Vorhaben der Ampelparteien erläuterte, wirkt die Begrenzung der Beitragssätze bei 20 Prozent „wie eine Fessel zur Minderung der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente“, während im Windschatten der scheinbaren Schonung der Beitragszahler deren Aufwendungen für die kapitalgedeckte Altersvorsorge (zum Beispiel Riester-Rente) sukzessive zunehmen. Entsprechend diene das neuerliche Bekenntnis zur Beitragsstabilität auch nur dem Zweck, „die Schleuse für andere Vorhaben wie die sogenannte Aktienrente zu öffnen“.
Verlierer solcher Manöver sind stets die einfachen Altersrentner, denen die Bezüge immer weiter gekappt und die mit leeren Versprechen in die Kostenfalle Privatrente gelockt werden, sowie das Gesamtsystem der Gesetzlichen Rentenversicherung, dessen nachhaltiger Substanzverlust politisch gewollt ist. Gerd Bosbach, emeritierter Statistikprofessor und Betreiber des Blogs „Lügen mit Zahlen“, zeichnet den verhängnisvollen Trend anhand von Zahlen nach. „Während die Rentenausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt seit 20 Jahren nahezu konstant geblieben sind, gibt es heute rund 2,2 Millionen Rentnerinnen und Rentner mehr“, befand er zu Wochenanfang gegenüber den NachDenkSeiten. „Von Teilnahme am Wachstum in dieser Zeit ist nichts zu spüren, und der Spruch, Rentner bekommen immer mehr, ist faktisch völlig falsch und eigentlich eine Frechheit.“
Kürzen in alle Ewigkeit
Tatsächlich ist der Nachholfaktor eine rückwirkende und eine zukünftige Rentenkürzung in einem. Eigentlich folgt die Entwicklung der gesetzlichen Renten grundsätzlich der Lohnentwicklung. Steigen Löhne und Gehälter, steigen auch die Altersbezüge, (wie gesagt: wegen etlicher Kürzungsfaktoren längst in der gleichen Dynamik). In Reaktion auf den Finanzcrash zog die damalige Regierung 2009 eine sogenannte Rentengarantie ins System ein, damit bei sinkender Lohnsumme nicht auch die Altersbezüge nominal fallen. Der Nachholfaktor sorgt dafür, dass die zunächst vereitelte negative Rentenanpassung bei wieder steigenden Löhnen nachträglich ins Kontor schlägt – in Gestalt gebremster Rentenerhöhungen bis hin zu Nullrunden.
Diese allerdings wirken über die Gegenwart hinaus, weil die nächste Anpassung auf Basis des aktuellen Niveaus vorgenommen wird. „Niedrige Rentenanpassungen von heute führen zu niedrigen Renten von morgen“, beklagte denn auch VdK-Chefin Bentele und weiter: „Die Ampel-Parteien sind offensichtlich vor dem Druck der Arbeitgeber und wirtschaftsnaher Professoren eingeknickt.“ In die gleiche Kerbe schlägt der Sozialverband Deutschland (SoVD), dessen Präsident Adolf Bauer am Dienstag warnte: „Die Wiedereinführung würde schon heute das Auskommen der Rentnerinnen und Rentner von morgen gefährden und den Rentenpakt auf lange Sicht destabilisieren.“ Mit einer „trickreichen Rentenkürzung durch die Hintertür“ wolle man „auf dem Rücken von Millionen Menschen Geld sparen, die teilweise schon heute kaum über die Runden kommen“, monierte der Verbandsobere und konstatierte: „Was früher schon schlecht war, bleibt auch heute schlecht.“
Geld(b)-Rot-Grün liefern
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hatte schon am 17. November in einer „kurzen Geschichte des Nachholfaktors“ zu entsprechenden rot-grün-gelben Planspielen für dessen Reaktivierung Position bezogen. Anders als vielfach behauptet, sei dieser nicht infolge des globalen Finanzcrashs von 2008 eingeführt worden, sondern schon 2007 im Kontext der Rente mit 67 nach dem RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz. Dahinter habe von Beginn an die „politische Idee des Beitragssatzdogmas und eines sinkenden Rentenniveaus“ gestanden und auch jetzt sei es alleinige Zielrichtung, „die Renten langsamer steigen zu lassen als die Löhne“. Der DGB hat die drohenden Konsequenzen durchgerechnet. Demnach werden die Rentensätze allein bis 2025 mit voraussichtlich 12,4 Prozent und bei einer zu erwartenden Nullrunde 2024 um fast vier Prozent langsamer zulegen als die Löhne. „Und ab 2025 steigen die Renten nach geltendem Recht bis 2035 um über zehn Prozent langsamer als die Löhne, denn nach 2025 gilt die Haltelinie nicht mehr und das Rentenniveau darf wieder ungebremst sinken.“
Offensichtlich gehe es „gerade nicht darum, dass die Renten wie die Löhne steigen“, stellt der DGB fest. Auch von Generationengerechtigkeit könne keine Rede sein, „denn der Nachholfaktor und ein sinkendes Rentenniveau treffen gerade die jüngeren Menschen“. Es sei, folgert der Gewerkschaftsdachverband, „politisch bewusste Irreführung, diese Kürzungsziele mit dem Prinzip zu begründen, die Renten sollen wie die Löhne steigen, wenn doch das Gegenteil gefordert wird“. Reiner Heyse, Mitbegründer von „Seniorenaufstand“, einem Koordinierungskreis gewerkschaftlicher Seniorenpolitiker im norddeutschen Raum, kommentierte am Donnerstag gegenüber den NachDenkSeiten: „Wunderwerk der Mathematik? Nein, gesetzlich korrektes Ergebnis der Absenkung des Rentenniveaus, wie es 2004 beschlossen wurde. Jede Abweichung von diesem Kurs lässt die neoliberalen ‚Experten‘ medienwirksam aufheulen. Dafür sind die Gehörgänge von Gelb-Rot-Grün weit geöffnet.“
Auftraggeber zufrieden
An andere Körperöffnungen, und jene, die es sich darin einrichten, will man lieber nicht denken. Das Lob der Bosse haben sich die Regierenden in spe auf alle Fälle verdient. „Das klare Bekenntnis der Ampel zur Wiedereinführung des Nachholfaktors muss jetzt ohne Abstriche umgesetzt werden“, gab der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur zu Protokoll. Und Lars Feld, früherer Vorsitzender der „Wirtschaftsweisen“, erkannte messerscharf: „Ohne den Nachholfaktor wären die Rentnerinnen und Rentner absolute Krisengewinnler.“ Oma Erna in einem Atemzug mit Jeff Bezos – das hat was.
Titelbild: Matej Kastelic/shutterstock.com