Deutschland im Booster-Wahn

Deutschland im Booster-Wahn

Deutschland im Booster-Wahn

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

27 Millionen Deutsche sollen bis Weihnachten ihre Booster-Impfung bekommen. Dieses Ziel hat die Noch-Kanzlerin Angela Merkel herausgegeben. Noch nicht einmal die Hälfte dieses Ziels wird erreicht, wenn sich die jetzigen Trends fortsetzen. Die Kapazitäten sind erschöpft und eine nur noch absurd zu nennende Kommunikationspolitik sorgt zudem dafür, dass jüngere Menschen, die gar keine Boosterung brauchen, alten Menschen die Termine wegnehmen. Von den Alten und Vulnerablen in den armen Ländern, die noch gar nicht geimpft wurden, spricht ohnehin keiner mehr. Solidarität? Fehlanzeige! Aber das ist nicht der einzige Schwachpunkt des Booster-Wahns. Sehr zur Freude der Aktionäre der Pharmakonzerne werden nämlich immer noch Impfstoffe gespritzt, die für ein Virus entwickelt wurden, das es schon lange nicht mehr gibt. An neuere Mutationen angepasste Impfstoffe sind zwar bereits entwickelt. Aber die werden erst nächstes Jahr, bei der sicher kommenden nächsten Booster-Runde gespritzt. Der Rubel muss schließlich rollen. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Für die Boosterung gibt es zwei Argumente. Während bei jüngeren Menschen und vor allem bei Kindern das Immunsystem schnell lernt, ist es bei alten Menschen häufig ein wenig träge. Die Boosterung ist dann keine Auffrischimpfung im herkömmlichen Sinn, wie man es von anderen Impfungen kennt, sondern eher Teil der Grundimmunisierung. Ein weiterer Punkt ist, dass die Boosterung das Immunsystem in eine Art „Alarmzustand“ versetzt, so dass die Immunabwehr in den Folgewochen besser auf Notfälle vorbereitet ist. Auch hier geht es allen voran um ältere Menschen, deren Immunabwehr nicht mehr so gut funktioniert. Für jüngere Menschen – und damit sind hier alle unter 60 gemeint – erschließt sich der Sinn einer so frühen Booster-Impfung hingegen nicht. Dazu äußerte sich auch der Virologe Alexander Kekulé in seinem Podcast beim MDR dankenswerterweise in klaren Worten:

Bringt die Booster-Impfung aller Menschen ab 18 was? Da kann ich sagen: Nein, definitiv nicht. Es gibt überhaupt keinen wissenschaftlichen Beleg, nirgendwo, der begründen würde, dass Menschen zwischen 18 und ich sage jetzt mal als Untergrenze 50, wenn man die boostert, dass das irgendwie die Inzidenz drücken würde, da gibt’s kein Beleg für […] Aber ich kann es nur wirklich sagen: das wird nicht funktionieren. Es wird nicht so sein, dass man durch Boostern von Menschen unter 60 irgendwie diese Welle in Griff bekommt, ganz zu schweigen von dem Tempo, was wir hier gerade an den Tag legen.

Diese – eigentlich unstrittigen – wissenschaftlichen Erkenntnisse scheinen jedoch vor allem bei vielen jüngeren Menschen nicht anzukommen. Wie man immer wieder hört und liest, konkurrieren momentan die Alten und Vulnerablen, für die eine Boosterung ja durchaus sinnvoll ist, sowohl in den Arztpraxen als auch bei den noch vorhandenen öffentlichen Impfstellen mit jüngeren Menschen, die eigentlich gar keine Boosterung brauchen. Die chaotische Planung der Booster-Impfung, die vor allem auf Eigeninitiative setzt, verstärkt diesen Trend. So mancher Alte muss nun bis Januar oder Februar warten, bis er einen Termin bei seinem Hausarzt bekommt, oder bei den mobilen Impfzentren wieder von dannen ziehen, weil hunderte junge Menschen schon eine Schlange bilden.

Ein weiterer Verstärker sind die Medien, die in ihrem gnadenlosen Alarmismus auch geimpfte junge Menschen verrückt machen und ihnen grundlos Angst einjagen. Besonders problematisch ist in diesem Kontext natürlich der Narrativ, dass es ein solidarischer Akt sei, sich boostern zu lassen. Bei jüngeren Menschen ist die Boosterung epidemiologisch sinnlos und wenn sie älteren Menschen auch noch die Termine wegnehmen, ist dies das exakte Gegenteil von Solidarität. Dieses unsolidarische Verhalten wird sogar von einigen Personen aus dem linken Umfeld propagiert und mit Fake News angereichert.

Auch dazu findet der Virologe Alexander Kekulé klare Worte:

Aber meines Erachtens ist es so, dass man bei den Boosterungen wirklich sagen muss, das hat keinen Sinn, wenn jetzt die Arztpraxen verstopft sind mit 35-Jährigen, die man so wuschig gemacht hat, dass sie jetzt panisch in die Arztpraxis laufen und sagen, ich brauche jetzt aber unbedingt meine dritte Impfung. Und am besten noch, bevor die sechs Monate rum sind und stattdessen dann diejenigen, die über 60 sind, oder über 50, wo auch immer Sie die Grenze ansetzen, dann eben noch nicht geboostert wurden.

Genau darauf läuft es zurzeit hinaus. Wie es anders gehen kann, zeigen die Niederlande. Dort bekommen nur Personen über 60 Jahren die Booster-Impfung. Die Vergabe wird zentral organisiert und die Interessierten bekommen eine persönliche Einladung, während in Deutschland das pure Chaos herrscht und in einer Art „Survival of the fittest“ verängstigte junge Menschen alten Menschen die ohnehin knappen Termine wegschnappen.

Die Boosterung ist in ihrer in Deutschland praktizierten Form jedoch nicht nur auf nationaler Ebene unsozial. Während hierzulande „pumperlgsunde“ junge Menschen sich die Spritze geben lassen, bleiben in vielen Entwicklungsländern selbst hochvulnerable Personen und Mitarbeiter des Gesundheitssystems ungeimpft. WHO-Chef Tedros Ghebreyesus sieht Booster-Impfungen für Gesunde daher auch äußerst kritisch. „Täglich werden weltweit sechs Mal mehr Auffrischimpfungen verabreicht als erste Impfdosen in Ländern mit niedrigen Einkommen. Das ist ein Skandal, der jetzt gestoppt werden muss“, so Ghebreyesus. „Mit der richtigen Mischung können Länder sowohl die Übertragung von Covid-19 niedrig halten als auch ihre Gesellschaften und Wirtschaft offenhalten“, sagte Ghebreyesus. „Kein Land kann sich einfach aus der Covid-19-Pandemie herausimpfen.“ Das ist in Deutschland jedoch offenbar noch nicht angekommen.

Dabei ist es ohnehin unverständlich, warum in einem Land wie Deutschland im Winter 2021 Impfstoffe gespritzt werden, die gegen ein Virus schützen sollen, das es in dieser Form in Europa seit Monaten gar nicht mehr gibt. Die momentan verabreichten Impfstoffe bauen auf dem Wuhan-Typ des Virus auf. Der war zu Beginn der Impfkampagne vor knapp einem Jahr auch noch dominant.

Verteilung der Virusvarianten in Europa
Quelle: Nextstrain

Seitdem wurde er jedoch zunächst vom Alpha-Typ (ehemals „britische Variante) und später vom Delta-Typ (ehemals „indische Variante“) komplett verdrängt. Gegen diese Delta-Variante haben Hersteller wie Pfizer-Biontech auch bereits seit Juli dieses Jahres einen angepassten Impfstoff in Produktion, der aufgrund des „Typen-Zulassungsverfahrens“, ähnlich wie bei den jährlich neu zusammengesetzten Grippe-Impfstoffen, auch in einem Schnellverfahren zugelassen werden könnte. Dass dies nicht geschieht, ist nur mit den Profitinteressen der Pharmakonzerne zu erklären. Die jetzige „Booster-Kampagne“ ist ohnehin bereits bezahlt und größtenteils ausgeliefert. Würde sie mit dem angepassten Impfstoff erfolgen, wäre es wohl schwer, im nächsten Jahr wieder Millionen Menschen zu einer Impfung zu bringen und die Politik davon zu überzeugen, weitere Milliarden für Impfstoffe auszugeben. Also liefert man lieber – um es mal mit anderen Branchen zu vergleichen – ein minderwertiges Vorserienprodukt aus, zu dem man im nächsten Jahr mit großem Tamtam ein kostenpflichtiges Update herausbringen kann. Vielleicht unterstützt Bill Gates die Branche ja nicht nur finanziell, sondern bringt hier auch sein Knowhow ein – solche Geschäftspraktiken sind schließlich in der Softwarebranche gang und gäbe.

Ein wenig in den Hintergrund geraten ist derweil, dass die momentane Kampagne gegen Ungeimpfte angesichts der logistischen Probleme beim Boostern ziemlich widersinnig erscheint. Die Impfkapazitäten sind zurzeit auf Anschlag ausgelastet. Und epidemiologisch macht es auch überhaupt keinen Sinn, wenn man nun einem jungen, gesunden Ungeimpften seine erste Impfdosis verabreicht, anstatt ältere Risikopatienten zu boostern. Beides geht nicht, dafür fehlen die Kapazitäten. Die Inzidenzen sind hoch und eine reguläre Erst- und Zweitimpfung braucht ohnehin so lange, um voll zu wirken, bis die Winterwelle schon wieder durch ist. Wenn man Alte und Vulnerable boostert, tritt die Wirkung jedoch sofort ein – pünktlich zum Höhepunkt der Winterwelle. Würde man wirklich Leben retten wollen, sollte man also die jüngeren Ungeimpften einfach in Ruhe lassen – ihr Risiko bei einer Infektion ist und bleibt extrem gering. Stattdessen sollte man sich – wenn man denn schon so viel wie möglich impfen will – auf die freiwilligen Booster-Impfungen bei den Alten und Vulnerablen konzentrieren. Man ist jedoch genau den anderen Weg gegangen. Kann es sein, dass man nun auch die Schuld für diesen Fehler abwälzen und abermals auf die Ungeimpften schieben will?

Titelbild: Olivier Le Moal/shutterstock.com