Der alte und absehbar neue Hauptstadtsenat will dem DB-Konzern die Berliner S-Bahn abkaufen. Zu diesem Zweck werde man ein landeseigenes Unternehmen aufbauen, um sich an künftigen Vergaberunden zu beteiligen. Bei SPD, Grünen und Linkspartei läuft das in der Rubrik Kommunalisierung. Was verheißungsvoll klingt, hat einen gewaltigen Haken: Die laufende Ausschreibung zur Vergabe zweier Teilnetze sowie zur Beschaffung und Instandhaltung eines neuen Fuhrparks soll wie geplant zum Abschluss gebracht werden. Mit der proklamierten Vergesellschaftung könnte es so aber noch Jahrzehnte dauern. Wer weiß, ob sich dann noch jemand an das schöne Versprechen erinnert – oder an „rote Regierungssozialisten“. Von Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Juchee! Das von manchen als „links“ beleumundete Berliner Parteienbündnis aus SPD, Grünen- und Linkspartei schickt sich an, ein wahrhaft linkes Projekt zu wuppen. Am vergangenen Wochenende titelte der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb): „Rot-Grün-Rot will Bund von Verkauf der S-Bahn an Berlin überzeugen.“ Im Klartext: Der alte und wahrscheinlich neue Hauptstadtsenat nimmt die Kommunalisierung der S-Bahn in Angriff. Darauf, so der LINKEN-Verhandler und noch amtierende Kultursenator Klaus Lederer, habe man sich bei den laufenden Koalitionsgesprächen verständigt. Man wolle so auf Ausschreibungsprozesse verzichten, die „viel Stress und Ärger“ machten.
Da hat er wohl recht. Die aktuell laufende Ausschreibung zur Vergabe zweier Teilnetze sowie zur Beschaffung und Instandhaltung eines neuen Fuhrparks kam zuerst gar nicht so richtig vom Fleck. Der Bewerbungsschluss vor neun Monaten wurde mehrmals verschoben, irgendwie waren wohl weniger Interessenten interessiert, als die Verantwortlichen sich erhofft hatten. Im Juni dann stellte der Alstom-Konzern einen Nachprüfantrag zum Vergabeverfahren bei der Vergabekammer des Landes Berlin. Der französische Schienenfahrzeugbauer gilt als einzig ernst zu nehmender Konkurrent der Deutschen Bahn (DB), die aktuell noch in Gestalt ihrer Tochter S-Bahn Berlin GmbH das ganze S-Bahn-Netz bespielt.
Zeitspiel beim Vergabepoker
Der Mitbewerber sieht sich angesichts dieser Ausgangslage im Nachteil und soll gar mit Rückzug gedroht haben, wenn die Regularien nicht im Sinne größerer Chancengleichheit geändert würden. Setzt es wie angekündigt eine Klage, könnte sich die Vergabe Monate, wenn nicht Jahre verzögern. Dabei sollte die nächste Stufe, die Aufforderung zur Abgabe verbindlicher Angebote an die qualifizierten Bieter, schon im Dezember erfolgen. Und für Oktober 2022 ist die Kür des oder der Sieger avisiert. Was, wenn der Zeitplan nicht aufgeht und das Ganze zu einer Hängepartie wird wie im Fall der Berliner U-Bahn? Auch da hatten die Franzosen „Stress und Ärger“ gemacht, als es um den Auftrag zur Fertigung neuer Wagen ging. Am Ende kostete die juristische Keilerei eineinhalb Jahre und das völlig umsonst. Alstom zog den Kürzeren. Angenommen, die Geschichte wiederholt sich: Erfolgt der Zuschlag zum Betrieb von zwei Dritteln des Berliner S-Bahn-Netzes sowie zur Beschaffung und Instandhaltung eines modernen Fahrzeugpools vielleicht erst 2023, 2024 oder sogar später? Dann bliebe nicht mehr viel Zeit für den oder die Gewinner – sofern nicht die DB alles abräumt – um bis 2027 startklar zu sein.
Aber solche Sorgen haben sich ja sowieso erledigt. Schließlich setzt doch R2G die Kommunalisierung der S-Bahn aufs Gleis – von wegen weniger „Stress und Ärger“. So ein bisschen beißt sich die Aussage allerdings damit, dass man die Ausschreibung, also den Stressfaktor Nr. 1, einfach mal weiterlaufen lassen will. Laut SPD-Quellen, auf die sich der rbb beruft, bedeute die getroffene Vereinbarung nämlich mitnichten, „die derzeit laufenden Ausschreibungsverfahren abzubrechen“. Vertreter von Die LINKE sollen sich dagegen so eingelassen haben, ein Ende des Verfahrens bleibe eine Option. Ja, was denn nun? Und wie passt das alles mit der Äußerung der neuen Berliner SPD-Vorsitzenden und demnächst wohl ersten Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, zusammen, dass man über das Thema noch sprechen werde?
Giffey bremst Volksentscheid aus
Giffey gilt gerade nicht als großer Fan von Verstaatlichungen und wie zum Beweis betätigt sie sich dieser Tage als Chefbremserin des erfolgreichen Volksentscheids zur Enteignung großer Immobilienkonzerne. Den wollen die Initiatoren vom Bündnis „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ schnellstens umgesetzt wissen und die Linkspartei eigentlich auch. Zu Wochenanfang haben sich die Koalitionsverhandler in der Frage auf einen Fahrplan festgelegt. Demnach soll eine Expertenkommission das Thema in all seinen Dimensionen noch einmal durchkauen und der Senat auf Basis ihrer Empfehlungen im Jahr 2023 „gegebenenfalls Eckpunkte für ein Vergesellschaftungsgesetz“ entwickeln. Danach erst werde die Politik eine abschließende Entscheidung treffen. Immerhin sollen in dem Gremium die Initiatoren des Volksentscheids mitmischen dürfen – quasi als Sterbebegleiter ihres eigenen „Kindes“.
Als eine Mogelpackung ähnlicher Güte könnte sich auch die „Absprache“ entpuppen, die S-Bahn zu kommunalisieren. Dabei waren die Voraussetzungen dafür nie besser als heute. Die geltenden Verkehrsverträge für die Teilnetze Nord-Süd und Stadtbahn laufen ab 2027 sukzessive aus. Bis dahin bliebe genug Zeit, ein landeseigenes Eisenbahnunternehmen auf die Beine zu stellen, das dann in sechs bis sieben Jahren die Nachfolge der S-Bahn Berlin GmbH antreten würde. Juristisch wäre das unter bestimmten Bedingungen durchaus möglich. Das Land kann den Betrieb via Direktvergabe an ein eigenes oder von ihm kontrolliertes Unternehmen übertragen. Was die Sache noch besser macht: 2035 laufen die Verträge zum Betrieb der Ringbahn und der südöstlichen Zulaufstrecken aus. Die Berliner DB-Tochter hatte 2015 bei der ersten Vergaberunde den Zuschlag als am Ende einzig verbliebener Bieter erhalten (was den Propagandisten von „mehr Wettbewerb auf der Schiene“ schon damals gegen den Strich ging).
Landeseigenes Eisenbahnunternehmen
Meinten es die R2G-Macher also wirklich ernst mit ihrer Ansage, könnte Berlin schon in sechs Jahren über zunächst zwei Drittel des S-Bahn-Netzes und mittelfristig über das Gesamtnetz verfügen, um es im Interesse der Kunden, der Beschäftigten und nicht zuletzt des Klimas weiterzuentwickeln? Das passte auch deshalb so gut ins Bild, weil das Land mit der U-Bahn, den Bussen, Straßenbahnen und Fähren schon über einen Gutteil des hauptstädtischen Nahverkehrs waltet. Und wohlgemerkt werden alle diese Leistungen im Zuge einer Direktvergabe durch die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) erbracht. Gesellte sich am Ende noch die S-Bahn dazu, hätte Berlin ein nahezu einheitliches, integriertes öffentliches Verkehrssystem. Was könnte es angesichts der ökologischen Herausforderungen und der beschworenen Mobilitätswende Besseres geben?
Das scheinbar Schöne an der Sache ist: SPD, Grüne und LINKE denken offenbar wirklich in diese Richtung. Nach rbb-Informationen arbeiten diese an einem Plan, „in jedem Falle ein landeseigenes Eisenbahnunternehmen zu gründen“. Dieses, so heißt es weiter, könnte sich gegebenenfalls an künftigen Vergaben beteiligen. Außerdem wolle man beim Bund dafür werben, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen dahingehend zu ändern, dass bei besonderen Netzen wie dem der S-Bahn in Berlin auch Direktvergaben ohne Ausschreibung möglich wären.
Nur stellt sich die entscheidende Frage, in welchem Zeitrahmen das alles passieren soll. Und vor allem: Warum will man die Ausschreibung nicht stoppen? Das nämlich wäre jederzeit möglich, wie sich das Bündnis „Eine S-Bahn für alle“ durch einen Gutachter hat bestätigen lassen. Laut dem Oldenburger Rechtsanwalt Benno Reinhardt sei der Auftraggeber „grundsätzlich frei darin, ein Vergabeverfahren abzubrechen und die Beschaffung abzubrechen“. Selbst nach Abschluss des Findungsprozesses wäre der Senat „nicht verpflichtet, den Zuschlag zu erteilen“.
Warten wird teuer
Gleichwohl ist es nicht ganz unerheblich, wann die Notbremse gezogen wird. Unterschieden wird zwischen einem „negativen“ und einem „positiven Interesse“ der Bewerber. Ersteres besteht, wenn noch mehrere Bieter in der Verlosung sind und im Fall des Abbruchs für den bis dahin entstandenen Aufwand entschädigt werden müssen. Nach Reinhardts Einschätzung wären diese Kosten sehr überschaubar. Anders verhielte es sich, wenn die Politik das Ende abwartet und nur noch die siegreichen Kandidaten beziehungsweise ein alleiniger Sieger übrig sind. Wird erst dann die Reißleine gezogen, bestünde ein Anrecht auf Erstattung der entgangenen Gewinne, was sich bei den in Frage stehenden Laufzeiten von 15 bis 30 Jahren im Bereich von Hunderten Millionen Euro bewegen könnte. Als Menetekel schreckt hier die gescheiterte „Ausländermaut“. Die verhinderten Betreiber wollen vom Bund knapp 800 Millionen Euro kassieren, weil Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) das Geschäft ohne Rechtssicherheit eingefädelt hatte.
Faktisch liegen die Dinge so: Je länger die Ausschreibung fortdauert, desto stärker blutet der Steuerzahler. Und ganz arg wird es, wenn man bis zum bitteren Ende zaudert und ein Kandidat auf dem Siegertreppchen steht, den man da nicht haben wollte und deshalb ausbootet. An der Basis der SPD sieht man die Wetteiferei ums beste Angebot ähnlich argwöhnisch wie innerhalb der LINKEN. Beide Parteien lehnen eine Zerschlagung und Privatisierung der S-Bahn ab und plädieren für einen „Betrieb aus einer Hand“. Die Sorge ist, im Falle neuer Betreiber – mit der DB tummelten sich dann mindestens zwei, bei neun Bewerbungsmöglichkeiten womöglich sogar mehr auf dem Gesamtnetz – könnte bald ein riesiges Chaos herrschen: mit einer Vielzahl an Schnittstellen, Doppelstrukturen, Ineffizienzen und immensen Transaktionskosten. Gleichwohl ist die Beschlusslage der Sozialdemokraten die, erst nach Abschluss der Ausschreibung darüber zu befinden, ob man das Ergebnis umsetzt oder dies bei Missfallen unterlässt.
DB, Siemens und Stadler in einem Boot
Insgeheim hofft man in Reihen der SPD (und gewiss auch bei den LINKEN) darauf, und dafür spricht tatsächlich einiges, dass die Deutsche Bahn als alleiniger Triumphator das Rennen macht und damit auch künftig den Gesamtbetrieb erledigt. Die DB hat sich mit Siemens und Stadler zu einem Konsortium zusammengeschlossen. Das verspricht erhebliche Kostenvorteile, da die beiden Fahrzeugbauer bereits die neueste S-Bahn-Reihe fertigen. Als Hauptkontrahent wird ein Verbund aus Alstom und dem deutsch-französischen Bahn- und Busbetreiber TransDev gehandelt. Wie eingangs geschrieben hat Alstom bereits die Justiz in Stellung gebracht. Das strahlt nicht unbedingt Zuversicht aus, am Ende die Nase vorn zu haben.
Man male sich aus, es kommt doch genau so. Stellt sich der Senat dann hin und tönt: mit mir nicht! Und präsentiert den Berlinern eine millionenschwere Rechnung zur Begleichung von Profiten, die Alstom hätte machen können? Wie das wohl bei den Wählern ankäme? Oder lässt man die Franzosen dann doch lieber ihren Job machen und gibt zerknirscht grünes Licht zum Ausverkauf? Aber nehmen wir nicht das Schlimmste an und gehen von einem Fortwirken des Status quo unter DB-Hoheit aus, womit der „Betrieb aus einer Hand“ sichergestellt wäre und die Zerstückelung der S-Bahn vorerst abgewendet. SPD und Linke werden sagen, das sei die beste aller Lösungen, und selbst die Grünen (ausgerechnet), deren Noch-Verkehrssenatorin Regine Günther den Ausverkauf der S-Bahn zwecks „effektivem Wettbewerb“ bei „vernünftigen Preisen“ und „dauerhaft guter Qualität“ forciert hatte, könnten sich als gute Verlierer präsentieren. Schließlich hätte die Sache ja auch anders ausgehen können.
Wird sich dann noch einer entsinnen, dass R2G früher einmal (heute) die Fahne „Kommunalisierung“ geschwenkt hatte? Hier liegt der Hund begraben. Wer an der Ausschreibung festhält, verunmöglicht eine Kommunalisierung der S-Bahn – und zwar auf ganz lange Sicht. Das landeseigene Eisenbahnunternehmen, das die alte und neue Koalition angeblich aufzubauen gewillt ist, wird nicht mehr als eine leere Hülle im Wartestand. Zum Zuge käme sie frühestens nach Auslaufen der Verkehrsverträge, 2035 für die Ringbahn, ab 2042 für Nord-Süd und Stadtbahn, entweder per Direktvergabe oder durch Beteiligung an der nächsten Ausschreibungsrunde. Auch erscheint der Weg, den die Koalition mit dem Aufkauf der S-Bahn Berlin GmbH verfolgen möchte, viel steiniger als der, auf die Karte Direktvergabe an ein Unternehmen in Landeseigentum zu setzen. Bisher hatte die Bahn-Spitze eine Veräußerung der Tochterfirma stets vehement abgelehnt und auch der Bund als DB-Eigner sperrte sich bis dato gegen das Rezept. Ob sich dies unter einer demnächst SPD-geführten Bundesregierung ändern könnte und es bereits entsprechende Absprachen mit den Berliner R2G-Verhandlern gibt, kann aktuell nur spekuliert werden. Der am Mittwoch von SPD, Grünen und FDP vorgelegte Koalitionsvertrag der künftigen Ampelkoalition greift das Thema jedenfalls nicht auf.
Alles nur Ablenkung?
Keine Frage: Der mindestens rhetorische Richtungswechsel der Berliner Regenten ist mehr als nur ein Achtungserfolg für alle, die seit Monaten gegen den Privatisierungskurs der grünen Verkehrssenatorin aufbegehren. „Eigentlich müssten wir ein riesiges Feuerwerk zünden“, bemerkte Carl Waßmuth vom Verein Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB), der federführend am Bündnis „Eine S-Bahn für alle“ beteiligt ist. „Was da von den Verhandelnden euphemistisch als ‚Stress und Ärger‘ bezeichnet wird, ist ja nur das kleinste Vorgeplänkel des anstehenden Privatisierungsprozesses“, sagte er den NachDenkSeiten. „Noch viel mehr Stress und Ärger dürfte es an der Basis der beteiligten Parteien gegeben haben. Dort konnte schon länger niemand mehr nachvollziehen, was an einem derart neoliberalen Wahnsinnsprojekt sozial, links oder ökologisch sein soll.“
Waßmuths Mitstreiter Janek Neuendorf empfiehlt den künftigen Koalitionären, beim Aufbau eines landeseigenen Unternehmens nicht nur auf eine Karte zu setzen und auf einen Verkauf durch die DB zu hoffen. „Offensichtlich bauen SPD und Linke darauf, dass es am Ende bei den alten Verhältnissen bleibt und der Ruf nach einer Kommunalisierung wieder verstummt“, erklärte er gegenüber den NachDenkSeiten:
„Fakt ist, wer die laufende Ausschreibung fortführen will, verspielt die Möglichkeit einer Kommunalisierung für 15 beziehungsweise 30 Jahre und gefährdet eines der wichtigsten Verkehrssysteme der Stadt.“
Dazu noch einmal Waßmuth: „Wenn die Koalition nicht schnell abbricht, besteht der Verdacht, dass ihre Ankündigung vom Kauf der S-Bahn nur ein Täuschungsmanöver ist.“
Titelbild: fizkes / Shutterstock