Einige Stimmen verlangen von nicht geimpften Bürgern, dass sie auf Behandlungen im Krankenhaus verzichten sollen – das ist verwerflich. Als Reaktion werden Listen erstellt, wer dann „ebenfalls“ sein Recht auf ein Intensivbett verlieren sollte: Raucher, Raser, Übergewichtige, Alkoholiker, Extremsportler. Diese Reaktion ist verständlich. Aber zum einen sollte man nicht auf das Niveau der Corona-Kampagne hinabsteigen. Zum anderen hat der Teufelskreis aus gegenseitigen Aufrechnungen von „unberechtigten“ Intensivbehandlungen das Zeug, die Idee eines halbwegs solidarischen Gesundheitssystems in seinen Fundamenten zu schädigen – er sollte unterbrochen werden. Ein Appell zur Mäßigung. Von Tobias Riegel.
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Man ist beim Thema Corona inzwischen einiges gewohnt an fragwürdigen Vorstößen. Doch die „Hocheskalation“ bei den Angriffen auf wichtige Grundsätze des Zusammenlebens lässt sich immer noch weiter treiben. Ein negativer Höhepunkt waren in den vergangenen Monaten etwa die Forderungen von Akteuren der Impfkampagne nach einem Verzicht Nichtgeimpfter auf eine Intensivbehandlung.
Gefährliche Versuchsballons
Dieser Angriff auf ein solidarisch verstandenes Gesundheitssystem sticht meiner Meinung nach nochmals heraus aus den gefährlichen Spaltungsversuchen der letzten Zeit. Die Stimmen relativieren sich teils wieder und kommen bisher aus der zweiten oder dritten Reihe, aber die Erfahrung der vergangenen Monate zeigt, dass solche Versuchsballons sehr schnell Realität werden können. So sagte bereits vor einiger Zeit Wolfram Henn, Humangenetiker und Mitglied des Ethikrats der Bundesregierung:
“Wer partout das Impfen verweigern will, der sollte, bitte schön, auch ständig ein Dokument bei sich tragen mit der Aufschrift: ‘Ich will nicht geimpft werden. Ich will den Schutz vor der Krankheit anderen überlassen. Ich will, wenn ich krank werde, mein Intensivbett und mein Beatmungsgerät anderen überlassen’“
Auf dem Portal „Die Sachsen.de” wird formuliert, „wie Ungeimpfte der Gesellschaft wenigsten (sic) etwas helfen können“:
„Höhere Krankenkassenbeiträge, Beteiligung an den Behandlungskosten, Verzicht auf Behandlung, Impfpflicht.“
Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli sagte kürzlich:
„Und wer Impfgegner ist, der müsste eigentlich eine Patientenverfügung ausfüllen, worin er bestätigt, dass er im Fall einer Covid-Erkrankung keine Spital- und Intensivbehandlung will. Das wäre echte Eigenverantwortung.“
Verantwortungslose Tabubrüche
Wie nun auch der Schweizer Wirtschaftsprofessor Marius Brülhart sagte, hatte ein Genfer Gesundheitsdirektor gefordert:
„Ungeimpfte sollen ihre Spitalkosten selber tragen.“
Folgenden Vorschlag zu den Kosten (allerdings auch für Extremsportler etc.) hat hierzulande etwa Jürgen Zastrow, Leiter der Kreisstelle der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, gemacht :
“Man muss auch mal darüber diskutieren, ob man diejenigen Kosten, die einer dadurch verursacht, dass er sich unnötigerweise infiziert, demjenigen belastet, der sie auslöst – anstatt der Allgemeinheit.“
Solche Vorstöße zur Aufweichung eines zumindest in Teilen noch solidarischen Systems nehmen Versicherer gerne auf: Die R+V-Versicherung trägt sich laut Medien mit dem Gedanken, „möglicherweise Tarife nach Impfstatus zu unterscheiden.“ In Singapur ist man einen Schritt weiter: Laut Medien müssen dort nicht geimpfte Bürger die Behandlungskosten bei einer Covid-Erkrankung künftig selber zahlen.
Der „Standard“ findet den Vorschlag des Bioethikers Peter Moeschl, von Impfgegnern eine Patientenverfügung zu verlangen, mit der sie im Falle einer Covid-Erkrankung auf eine intensivmedizinische Behandlung verzichten, „inhaltlich überzeugend“. Im Internet kursieren „satirische“ Vordrucke für solche „Verzichtserklärungen“.
Es gibt weitere Beispiele in Medien und Politik für Forderungen in dieser Richtung. Diese Äußerungen offenbaren nicht nur individuelle Kälte. Sie offenbaren auch Verantwortungslosigkeit: Niemand weiß, wie sich solche harschen Tabubrüche in der gesellschaftlichen Kommunikation langfristig auswirken – hier wird an den Grundfesten unseres Zusammenlebens gesägt.
Wer ist für Klinikengpässe verantwortlich?
Die Bezeichnung der Impfung als „Schutz für andere“ ist durch das teilweise Versagen der Impfstoffe auf dem Gebiet der Ansteckungsverhinderung erheblich geschwächt. Zum Argument, „die Ungeimpften“ würden nun einen Gesundheitsnotstand auslösen, ist zu sagen: 1. Bisher sind die Szenarien der Kliniküberlastung (im Vergleich zum „Normalfall“) nicht eingetroffen. 2. Der Kampfbegriff von der „Pandemie der Ungeimpften“ ist nicht seriös. 3. Das Gesundheitssystem war bereits lange vor Corona überlastet, vor allem wegen falschen Entscheidungen der Politik und der Folgen von Privatisierungen. 4. Diese bereits bestehenden Mängel wurden angesichts des Virus nicht behoben – im Gegenteil: Noch während der „Pandemie“ wurde der Verlust von tausenden Intensivbetten zugelassen, während die Risikogruppen nicht geschützt wurden.
Und die Verantwortlichen für dieses Handeln wiegeln zur Ablenkung nun die Bürger gegen den Sündenbock „Ungeimpfter“ auf. Zu all dem kommt noch hinzu, dass alle offiziellen Zahlen zu den „Infizierten“, zu den „Fallzahlen“, zu den „Inzidenzen“ und zu den „mit oder an“ Corona Verstorbenen unter Manipulationsverdacht stehen.
Sündenbock-Strategie
Doch die Sündenbock-Strategie ist erfolgreich: Vielen Bürgern fährt bei den hier zitierten Forderungen (und wegen der ausbleibenden Empörung) ein Schreck in die Glieder. Auch lenkt die Taktik wirkungsvoll von politischem Versagen ab. Insofern sind die Äußerungen durchaus im Einklang mit der bereits im Papier des Innenministeriums dargelegten Taktik der Furcht.
Mindestens ein gewisses Unbehagen sollten allerdings auch geimpfte Bürger spüren, schließlich würde diese Ungleichbehandlung nicht die letzte sein: Wenn man jetzt zulässt, dass Prinzipien derart beschädigt werden, dann können sie in Zukunft auch jene Bürger nicht mehr schützen, die sich aktuell auf der „sicheren Seite“ fühlen.
Zusätzlich zu diesen (gesunden) „egoistischen“ Motiven für eine Empörung über Teile der Impfkampagne müsste sich auch eine Besorgnis über den Zustand der Gesellschaft allgemein gesellen. Die Eskalation schreitet schließlich unaufhörlich voran: Während die verfassungswidrigen „Lockdowns für Ungeimpfte“ bereits umgesetzt werden, steigen die hier zitierten Versuchsballons, um die Grenze für das Sagbare immer weiter zu verschieben – und in der Folge die Grenze für das Machbare.
Haben auch Raucher und Raser ihr Recht auf Behandlung „verwirkt“?
Und weil diese Angriffe auf Grundgedanken unserer Gemeinschaft so gravierend sind, rufen sie (in Foren oder Gesprächen) nachvollziehbare, aber dennoch fragwürdige Reaktionen hervor – etwa in Form von Listen von Bürgern, die „ebenfalls“ ihr Recht auf angemessene Behandlung „verwirkt“ hätten: so zum Beispiel Raucher, Raser, Übergewichtige, Alkoholiker, Extremsportler.
Diese Gegenpolemik ist wirkungsvoll, sie erscheint – auch wenn die Vergleiche teils hinken mögen – im ersten Moment angebracht und gerechtfertigt. Langfristig kann aber das Hinabsteigen auf das Niveau der „Angreifer“ wichtige Prinzipen beschädigen: Bürger könnten sich bestätigt fühlen, denen es vielleicht schon vor Corona gegen den Strich ging, dass sie sich selber mit großer Mühe „gesundhalten“ und sie dann aber trotzdem für die Behandlung von Heroinabhängigen oder extrem Übergewichtigen aufkommen müssen. Würden nun alle Bürger gegenseitig Wohlverhalten auf bestimmten Verhaltensgebieten als „Eintrittskarte“ zum Spital verlangen, wäre das destruktiv für die Gesellschaft.
Bereits die Debatte über selektive Behandlungen wirkt zerstörerisch
Diese Tendenzen müssten also auch bei „impfkritischen“ Bürgern zurückgewiesen werden. Denn diese Gedankengänge bedrohen zum einen den Konsens einer noch in Ansätzen solidarischen Gesundheitsorganisation, in der jeder Patient fast ohne Vorbedingungen behandelt wird. Dass dieses Ideal in einem zunehmend privatisierten Gesundheitssystem ohnehin oft verletzt wird, ist kein Grund, es nun gänzlich zu Grabe zu tragen.
Zum anderen sind diese Gedanken heuchlerisch, weil vielleicht eines Tages eben jener Gesundheitsapostel einen Unfall verschuldet und dann ja wiederum von den Beiträgen auch der Übergewichtigen versorgt wird. Auch gibt es die Volksweisheit: „Raucher gehen nicht in Rente“ – sind Nichtraucher unterm Strich also teurer für die Gesellschaft?
Weil also Forderungen in dieser Richtung inhaltlich unhaltbar sind und bereits die Debatte darüber zerstörerisch wirken kann, sollte man keine Steilvorlage bieten. Man kann die Forderungen nach Behandlungsverzicht empört zurückweisen – aber vielleicht ohne dabei ebenfalls unsolidarische Argumente zu nutzen.
Impfdebatte als Ablenkung?
Man muss meiner Meinung nach auf die hier zitierten Vorstöße reagieren. Andererseits haben sie, so wie die gesamte Impfdebatte, ein starkes Potenzial der Ablenkung: Verdeckt wird von den Impf-Kontroversen aktuell unter anderem, dass ein bestimmendes Motiv hinter der Corona-Aufregung mutmaßlich die Installierung von langfristigen Überwachungs-Praktiken ist, dass die Ampelkoalition gerade eine unsoziale Steuerpolitik plant und dass es beunruhigende Signale für geopolitische Zuspitzungen gibt.
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Titelbild: Natalia Siverina / Shutterstock