Belarus: Druck und Gegendruck

Belarus: Druck und Gegendruck

Belarus: Druck und Gegendruck

Ein Artikel von Irmtraud Gutschke

Zur Lösung des Flüchtlingsproblems an der belorussisch-polnischen Grenze setzen Deutschland und die EU auf Sanktionen. Dadurch verschärfen sie die Situation, denn Verhandlungen werden schwierig, wenn nicht gar unmöglich, wenn die andere Seite gedemütigt wird. Von Irmtraud Gutschke.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Sie wollen nach Deutschland oder in ein anderes wohlhabendes Land, auch wenn sie jetzt im Novemberwetter an der polnischen Grenze ausharren. Dazu mussten zahlreiche der Flüchtlinge mutmaßlich nicht „gerufen“ werden, denn viele haben schon Verwandte und Bekannte hier, und alle verbinden ihre Hoffnungen mit den Bildern hiesigen Wohlstands, der sich krass von dem unterscheidet, was diese Menschen zu Hause erleben. Nicht zuletzt durch das Internet sind sie längst mit uns verbunden.

Die von den meisten Medien hierzulande genährte Vorstellung, Präsident Lukaschenko hätte sie ins Land „geholt“, kann noch nicht abschließend beurteilt werden, erscheint aber naiv. Flucht zu organisieren, ist längst zum Kommerz geworden. Wer in Deutschland seine Familienangehörigen nachholen will, das betrifft ja nicht nur Frau und Kinder, kann herausbekommen, wie das zu bewerkstelligen und was dafür zu bezahlen ist. Und auch vor Ort gibt es Netzwerke. Ohne dass Geld geflossen wäre, hätten es viele der Flüchtenden wohl nicht an diese Grenze geschafft.

Sollen Menschen etwa aussortiert werden?

Seit Monaten schon geht die Türkei militärisch gegen kurdische Milizen in Nordirak vor. Viele der vor Polen Gestrandeten sollen aus diesen Gegenden stammen. Die Türkei schottet sich gegen sie ab. Mit mehreren Flügen nach Minsk pro Tag sei Istanbul ein Sprungbrett für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, heißt es auf „Focus online“. Ob Erdogan mit Lukaschenko gemeinsame Sache macht, wird gemutmaßt. Dabei wird die Tatsache umgangen, dass der Westen mit seiner kriegerischen Destabilisierungspolitik im Nahen Osten die Fluchtursachen erst geschaffen hat, die jetzt beklagt werden.

Die belorussischen bzw. russischen Fluglinien „Belavia“ und sogar die „Aeroflot“ zu beschuldigen, sie hätten mutmaßliche Flüchtlinge transportiert, erscheint unglaubwürdig. Wird da etwa verlangt, im weltweiten Luftverkehr von vornherein Menschen auszusortieren, die aus armen, kriegsversehrten Gebieten kommen? Irgendwie haben sie sich Visa beschafft und ein Ticket gekauft. Sind sie da nicht gleichberechtigt mit allen anderen?

Lukaschenko hat Flüge nach Deutschland angeboten

Inzwischen hat der Irak einen Sonderflug für Landsleute angekündigt, die vor der polnischen Grenze kampieren. So sie es wünschen. Aber wollen sie zurück, nachdem sie es mit so vielen Entbehrungen vor die Tore der EU geschafft haben? Lukaschenko hat Flüge per „Belavia“ nach Deutschland angeboten. In dieser verfahrenen Situation wäre das eine Lösung, die deutscher Politik freilich eine Last aufbürdet, welche ihr auf die Füße fallen kann. Dass ein solches humanes Vorgehen von verschiedenen Seiten öffentlich gefordert wird und mehrere Städte die Bereitschaft bekundeten, Migranten aufzunehmen, vollzieht sich in einer Situation wabernden Grolls gegen „die da oben“ und würde rechtspopulistische Kräfte definitiv stärken. Denn die Furcht, dass immer weitere kommen könnten, lässt sich nicht wegreden. Wenn es am Ende doch geschehen muss, so wohl lieber nicht durch ein Dutzend in Berlin landende „Belavia“-Maschinen, die dann in der „Tagesschau“ zu sehen sind, sondern anders, intelligenter.

Intelligenter? Während so viel politische Dumpfheit am Werk ist? In diplomatischen Kreisen mag es kluge Leute geben, die diese Krise durchschauen und über Lösungswege nachdenken. Doch scheinen sie nicht zu denen vorzudringen, welche die Entscheidungsmacht haben. Das muss eine schreckliche Situation sein, mitansehen zu müssen, wie ein außenpolitischer Fehler nach dem anderen gemacht wird.

Fünftes Sanktions-Paket als „klare Botschaft“

Gerade haben die EU-Außenminister in Brüssel ein fünftes Paket von Sanktionen beschlossen, um eine „klare Botschaft“ nach Minsk zu senden. Wie lächerlich! Die Cowboys drohen mit ihren Pistolen. Was soll „Minsk“ jetzt machen? Schnell ein Dörfchen bauen für 2000 Leute (wie viele sind es eigentlich wirklich?) mit Rundumversorgung und mit Stacheldraht umzäunt? Mit medizinischem Personal und Wachposten natürlich. Und die Menschen dorthin schaffen? Freiwillig gehen sie nicht, denn sie wollen ja in die EU.

Tatsächlich ist, was viele nicht wissen, am 1. Juli 2020 ein „Visa- und ein Rückübernahmeabkommen” zwischen der EU und Belarus in Kraft getreten, das die „sichere und geordnete Rückkehr von Personen“ meint, „die sich irregulär in der EU oder in Belarus aufhalten“. Bestünde es noch, könnte besprochen werden, wie am besten mit der Situation umzugehen ist.

Doch im August 2020 änderte sich alles. Alexander Lukaschenko gewann die Wahl mit 80,23 Prozent. „Fälschung“ hieß es aus dem Westen. Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja (9,9 Prozent) hätte man lieber gesehen. Zwei Tage nach der Wahl reiste sie nach Litauen aus und trommelt seitdem bei der EU und in den USA (wo sie überall in Ehren empfangen wurde) für Sanktionen gegen ihr Land. Man fragt sich ja, wie der Westen je auf sie setzen konnte. Offensichtlich ist eine geopolitische Rechnung nicht aufgegangen. Lukaschenko, der für Russlands Präsident Putin mitunter auch ein schwieriger Partner war, schloss sich diesem nun enger an, ohne allerdings Abstriche an seiner Souveränität zuzulassen.

Das Feindbild ist stabil

Den Sanktionen der EU und der USA nach der Wahl 2020 folgten weitere wegen der angeblich erzwungenen Landung eines Ryanair-Flugzeuges auf dem Flug von Athen nach Vilnius im Mai dieses Jahres. Der Oppositions-Aktivist Roman Protassewitsch war dabei in Minsk verhaftet worden. Inzwischen ist er wieder frei. Lukaschenko wolle dadurch die Opposition spalten, hieß es in der „taz“. Was er auch tut, das Feindbild ist stabil.

Wie weitreichend die Wirtschaftssanktionen gegen Belarus inzwischen sind, ist auf der Webseite des Europarates im Detail verzeichnet. Um Ausfuhrbeschränkungen für zahlreiche wichtige Güter geht es ebenso wie um Einschränkungen beim Zugang zu den Kapitalmärkten der EU. „Schließlich wird die Europäische Investitionsbank weder Auszahlungen noch Zahlungen im Rahmen von bestehenden Vereinbarungen in Bezug auf Vorhaben im öffentlichen Sektor tätigen, und sie wird alle bestehenden Dienstleistungsverträge über technische Hilfe aussetzen.“ Das ist der Hintergrund von Lukaschenkos Verlautbarung, sein Land habe weder die Mittel noch das Geld, um die Flüchtlinge zu stoppen.

Vorgeschichte einer verfahrenen Situation

Die Finanzierung von Projekten in Belarus zur Stärkung des Grenzschutzes und zum Bau von Flüchtlingsunterkünften wurde also abgebrochen. Dass Minsk daraufhin bereits im Juni dieses Jahres das Rücknahmeabkommen mit der EU aussetzte, gehört unbedingt zur Vorgeschichte der momentan verfahrenen Situation. Voller Hochmut hat man sie nicht kommen sehen. Im Oktober schlug Innenminister Seehofer im Kabinett Alarm. „An der deutsch-polnischen Grenze wurden im Zuge intensivierter Binnengrenzfahndungsmaßnahmen bereits über 5700 Flüchtlinge und Migranten unter anderem mit Visa für und Einreisestempeln von Belarus festgestellt“, wird er von der Deutschen Welle zitiert. Die Zahlen würden „stetig“ steigen. Derzeit warteten „circa 15 000 Migranten in Belarus auf eine Weiterreise nach Westen”.

15 000 im Oktober, 2000 jetzt? Auf jeden Fall nicht sofort haben deutsche Medien in Richtung jener Panikmache geschwenkt, die manchmal schon an Kriegsberichterstattung denken lässt. „Iraker festgenommen: Flüchtlinge durchbrechen Grenze nach Polen“ („Ntv“), „Europa braucht einen Zaun an der Grenze zu Belarus“ („Der Spiegel“), „Balten rufen EU zum Handeln auf“ („FAZ Net“).

Will man etwa einen Krieg riskieren?

Der Opferstatus schweißt einen Staat zusammen. Polen sieht sich äußerer Bedrohung ausgesetzt und ruft nach NATO-Beistand. Will man etwa einen Krieg riskieren? 15 000 Militärangehörige wurden an die Grenze verlegt. Gegen 2000 Migranten? Laut RT Deutsch hat der polnische Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak bestätigt, dass britische Truppen beim Bau einer Grenzmauer helfen sollen. Der britische Verteidigungsminister wird zum Besuch erwartet. Wieso nun die Briten, die gar nicht mehr in der EU sind? Auch die Ukraine will Grenzschutzbeamte und Offiziere der Nationalgarde nach Polen schicken.

Zuvor hatte die Russische Föderation bestätigt, dass im Rahmen von Militärübungen in der Nähe der Stadt Grodno ein Kontingent von Fallschirmjägern über Weißrussland abgesetzt wurde. Am Donnerstag hat Moskau (laut RT) atomwaffenfähige Überschallbomber im Rahmen einer Langstrecken-Trainingsmission in den belarussischen Luftraum entsandt. Die USA rüsten die Ukraine weiter auf und prüfen weitere antirussische Sanktionen. Der ukrainische Verteidigungsminister wird im Pentagon erwartet. Derweil kreuzen US-Kriegsschiffe im Schwarzen Meer. Die 2000 Migranten als Brandbeschleuniger eines sich zuspitzenden internationalen Konflikts?

Merkel und Putin

Erst Ende Oktober hat ein gemeinsames Kollegium der Verteidigungsministerien von Russland und Belarus das Zusammenwirken bekräftigt, das im Rahmen eines Integrationsabkommens längst festgelegt ist. Und auf „Ria Novosti“ gab es gerade jetzt mehrere Zitate Lukaschenkos, der auf seine Freundschaft mit Putin verweist, weil sie beide „von ganz unten“ gekommen sind und eine gemeinsame Sprache sprechen.

Zweimal hat Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem russischen Präsidenten telefoniert. Albrecht Müller hat zu Recht darauf verwiesen, dass dabei „die im Westen ausgedachte Botschaft“ untermauert wurde, Russland stecke hinter der ‚Schleusertätigkeit‘ des weißrussischen ‚Machthabers‘, wie man hierzulande sagt“. Putin reagierte entsprechend, verwies auf die Souveränität von Belorussland und mahnte Verhandlungen mit der dortigen Führung an. Doch weil Merkel sich hilfesuchend an ihn wandte: Hat sich im Hintergrund womöglich doch etwas getan?

Heiko Maas knüpft Dialog an „Kurswechsel“

Tatsächlich wäre es vonnöten, dass die Bundeskanzlerin sich mit dem belorussischen Präsidenten zusammensetzt. Doch wie soll dies gelingen, wenn ihr Außenminister die ganze Zeit nach neuen Sanktionen ruft? Von Lukaschenko käme keine Reaktion, verlautbarte sie, um ihre Anrufe bei Putin zu begründen. Wenn Heiko Maas den dringend notwendigen Dialog mit Minsk allerdings an die Bedingung knüpft, dass dort ein „Kurswechsel“ stattfindet, gibt es keine Chance.

Was da inzwischen zerstört wurde, wie ist es noch zu kitten? Angela Merkel dürfte wissen, dass Sanktionen eher das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken. Dialektisches Einmaleins: Druck erzeugt Gegendruck – Kränkung, Trotz, Abwehr oder Schlimmeres. Hat sie das mal laut ausgesprochen? Davon ist nichts bekannt. Kann sie überhaupt in diese Richtung befriedend wirken, wenn Washington auf Teufel komm raus einen Keil zwischen Deutschland/EU und Russland treiben will? Ist Merkel Teil dieses Keils? Wird eine künftige Bundesregierung diesbezüglich womöglich noch willfähriger sein?

Sanktionen: Hat diese „Erziehungsmethode“ schon je „Bekehrung“ gebracht?

Sanktionen sind in Mode gekommen. Man hat schon gar keinen Überblick mehr, wie viele Länder auf diese Weise den Knüppel des Westens zu spüren bekommen haben. Hat diese „Erziehungsmethode“ schon je „Bekehrung“ gebracht? Oder schenkte sie den politischen Akteuren nicht in erster Linie bloß die Genugtuung, irgendwie agiert zu haben, um in der Öffentlichkeit das Gesicht zu wahren?

Sein Gesicht wahren muss allerdings auch Alexander Lukaschenko. Nicht nur sein starkes Ego, auch die Bevölkerung seines Landes verlangt das von ihm. Was für eine Demütigung die Sanktionen gegen Belarus für ihn persönlich sind, wird im Westen unterschätzt. Wie überhaupt die emotionale Seite von Politik, die vielleicht umso bedeutsamer wird, je weiter man nach Osten kommt: Achtung gegenüber dem Anderen inklusive Akzeptanz unterschiedlicher Positionen ist die Voraussetzung einer gedeihlichen Lage für alle. Im Westen aber sonnt man sich in einer Überheblichkeit, die dabei ist, ihre Voraussetzungen zu verlieren. Vielleicht ist es ja sogar so, dass die Pose der Stärke eine krisenhafte Lage überspielen will.

Gelten „Menschenrechte“ an der EU-Außengrenze?

Die Gaslieferungen von Russland nach Europa über die Jamal-Pipeline zu durchbrechen, wie Lukaschenko vage androhte, so weit wird es hoffentlich nicht kommen, obwohl er dazu in der Lage wäre. Ein diesbezügliches Gespräch mit Putin soll laut „Ria Novosti“ gerade stattgefunden haben. Aber ein Schusswechsel an der Grenze muss nicht von ganz oben befohlen sein. Wer garantiert, dass es nicht zu einer Eskalation kommt?

Und derweil lagern Männer, Frauen und Kinder in der Kälte. Heiko Maas bekundete gerade in der „Tagesschau“, dass Deutschland sie keinesfalls aufnehmen werde. „Menschenrechte“ – wie viele Interventionen sind mit diesem Kampfbegriff des Westens gerechtfertigt worden. Ganz offensichtlich gelten „Menschenrechte“ an der EU-Außengrenze nicht mehr. Wir sind dabei, unsere humanen Werte zu verraten. Das wird uns auf die Füße fallen.

Merkel spricht mit Lukaschenko

Der für die Nacht zum Dienstag von polnischer Seite prophezeite Grenzdurchbruch der Migranten (gegen eine solche militärische Übermacht?) hat wohl nicht stattgefunden. Andererseits berichten Medien aktuell von Eskalationen an der Grenze und dem Einsatz von Wasserwerfern gegen Flüchtlinge durch Polen.

Und Angela Merkel hat 50 Minuten lang mit Alexander Lukaschenko telefoniert, wie der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, mitteilte. Grünenpolitiker Nouripour nannte das erwartungsgemäß ein »verheerendes Signal«. Laut „Sputnik Belarus“ habe Lukaschenko konkrete Vorschläge zur Lösung des Problems gemacht, die erst verlautbart werden, wenn Merkel sie „mit Mitgliedern der EU“ diskutiert hat.

Quellen:

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gruene-kritisieren-angela-merkels-telefonat-mit-alexander-lukaschenko-a-4ea2c08d-9111-4488-824f-5c2c46b4ea11?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph

https://www.rnd.de/politik/lage-an-belarussischer-grenze-eskaliert-polen-setzt-wasserwerfer-gegen-migranten-ein-L3CG76RGTVFNGFKE5FF7PBJDR4.html

https://www.focus.de/politik/ausland/gemeinsame-sache-mit-lukaschenko-im-belarus-streit-waechst-der-druck-auf-erdogan_id_24416582.html

https://taz.de/Blogger-Protassewitsch-auf-Twitter/!5780832/

https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eastern-partnership/belarus/

https://www.dw.com/de/seehofer-will-deutsch-polnische-patrouillen-an-der-grenze/a-59561054

https://de.rt.com/international/127174-telefonate-merkel-lukaschenko-macron-putin-krise-polnische-grenze/

https://ria.ru/20211116/nato-1759269239.html

Titelbild: Von LukeOnTheRoad / Shutterstock.com

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