Der Sonderparteitag der SPD hat die Delegierten angesprochen. Gilt das auch für die Parteimitglieder und für die Wählerinnen und Wähler?
Parteitage richten sich immer auch nach innen, an die Mitglieder. Das galt vom Sonderparteitag der SPD am 21. März in Berlin mit der Neuwahl des Parteivorsitzenden in besonderem Maße.
Da soll natürlich – vor allem in schwierigen Zeiten für die SPD – Mut und Kraft aus der Parteigeschichte und aus historischen Leistungen geschöpft werden und da soll mit neuen Zielen Zuversicht für die Zukunft vermittelt werden. Zur Förderung der Kampfbereitschaft muss der politische Gegner attackiert werden und vor allem muss Geschlossenheit reklamiert und – bei einer Regierungspartei – selbstverständlich mit dem Verlust der Regierungsmacht gedroht werden.
An dieses Rezept hat sich sowohl der scheidende Parteivorsitzende, Kanzler Gerhard Schröder als auch der neu gewählte, Franz Müntefering, akkurat gehalten. Schröder erinnerte an die heftigen Auseinandersetzungen um die Ostpolitik Willy Brandts und an den Militäreinsatz im Balkan. In Afghanistan und im Kosovo habe Deutschland deutlich gemacht, dass es Pflichten und Rechte habe. Und zu den gewonnenen Rechten gehörte auch das Nein zum Irak-Krieg. An Hand der Auseinandersetzung über dieses Nein konnte er auch treffend beweisen, was passiert wäre, wenn “die anderen” an der Macht gewesen wären. Er geißelte zu Recht den Populismus der Union bei der Frage des Beitritts der Türkei in die europäische Union. Wo er Recht hat, hat er Recht.
Auch Müntefering beschwor die 141-jährige Parteigeschichte und die Visionen der Gründerväter, die wollten, dass “es besser wird”. Der Auftritt des Bergmannchores am Schluss des Parteitages – ob man das nun zukunftsgerichtet finden mag oder nicht – sollte sicherlich auch an die Wurzeln der SPD erinnern. “Wir schaffen das”, war sein Appell an die Partei. Dazu knapp, eben wie Müntefering: Opposition sei “Mist”.
Was die Ziele in der Zukunft angeht, nannte Schröder die bekannten Perspektiven “Innovation und Gerechtigkeit” und als neuen Akzent “Sicherheit und Wachstum” – und das auf europäischer Ebene. Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Bildung seien wichtige Teilhabe- und Freiheitsrechte.
Müntefering operierte mit einer spröden Wortschöpfung, nämlich dem “Ehrlich machen”, was geht und was nicht geht.
“Ehrlich machen” reiche von der demographischen Entwicklung, über die Situation der öffentlichen Kassen, vom Terrorismus und den Konsequenzen für die innere Sicherheit und für Militäreinsätze über die Agenda 2010 bis hin zur Unsicherheit darüber, was soziale Marktwirtschaft heute bedeute. Mit diesem “Ehrlich machen” auf allen Politikfeldern rechtfertigte Müntefering den gegenwärtigen Regierungskurs und das Festhalten daran für die Zukunft.
Auch die schärfsten Kritiker am Regierungskurs sollten wirklich nicht klein schreiben, dass Schröders Nein zum Irak-Krieg nicht nur eine richtige, sondern auch eine schwierig durchzuhaltende Entscheidung war. Richtig ist auch, dass die Konservativen immer erkennbarer nicht den Umbau sondern den noch radikaleren Abbau des Sozialstaats wollen, von der “Kopfpauschale” bis zu ihrer “Schnapsidee” einer Steuerreform auf dem Bierdeckel.
Das klare Bekenntnis zur Tarifautonomie und zur Mitbestimmung auch gegen die Fusionsrichtlinie auf europäischer Ebene, sind deutliche Angebote an die Gewerkschaften. Auch die hohe Priorität für die Bildung ist ein wichtiges Signal für die Zukunft. Die “gesetzgeberische Hilfe” für den Fall, dass die Wirtschaft nicht genügend Ausbildungsplätze anbietet, darf ruhig als Friedensangebot an die Parteilinke gewertet werden. Auch wenn dieses Angebot schon seit dem letzten Parteitag Beschlusslage ist.
Müntefering war erkennbar um einen Brückenschlag zu den Gewerkschaften bemüht. “Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist nicht zu Ende”, deshalb werde er das “intensive Gespräch und den Schulterschluss” mit den Gewerkschaften wieder suchen. Es gelte, die Tarifautonomie zu verteidigen und, wenn es nicht anders ginge, auch “in Auseinandersetzung mit Wolfgang Clement” mit Gesetzen für ausreichend Ausbildungsplätze zu sorgen. Das Bekenntnis zur Rolle des Staates “als vereinbarte Form gesellschaftlicher Ordnung”, die man brauche, um etwa Bildung zu finanzieren, war ein lange nicht mehr gehörter Akzent.
Das Wahlergebnis für Franz Müntefering mit über 95% Zustimmung – nach Björn Engholm, das zweitbeste Ergebnis für einen SPD-Vorsitzenden nach dem Kriege – beweist, dass die Delegierten auf diesem Parteitag angesprochen und erreicht worden sind.
Der neue Parteivorsitzende wies aber in seinem Schlusswort selbst darauf hin, dass man draußen noch auf “viele Zweifel und Missverständnisse” stoße.
Ob diese Zweifel und Missverständnisse bei den übrigen Parteimitgliedern und vor allem bei den Wählerinnen und Wählern mit diesem Sonderparteitag beseitigt werden konnten, muss bezweifelt werden. Der Kurs der Bundesregierung wurde Zweiflern gegenüber jedenfalls weder überzeugend begründet noch wurden seine Erfolge deutlich gemacht. Weil das nicht ganz so einfach ist, stellte Schröder gleich am Anfang seiner Rede apodiktisch klar, dass sein Reformprogramm “richtig und notwendig” sei. Und Müntefering begründete auch nur, das man entschieden habe und nun entschlossen und geschlossen gehandelt werden müsse.
Man hat es wohl aufgegeben, glaubhaft machen zu können, dass es bei der Agenda schon heute sozial gerecht zuginge, deshalb wurde von Gerhard Schröder wie von Franz Müntefering vor allem auf die Generationengerechtigkeit in der Zukunft abgehoben. “Gerecht zu sein, heißt immer daran denken, dass Menschen auch morgen eine faire Chance haben müssten”. Die Kritik der Gewerkschaften an der sozialen Unausgewogenheit konterte Schröder mit dem Hinweis, dass schließlich “auch Gewerkschafter Kinder” hätten. Man dürfe sich kommenden Generationen gegenüber nicht dem Vorwurf aussetzen, man habe zuviel aufgezehrt und zu wenig übrig gelassen.
Einmal mehr muss die vermeintlich unumstößliche Statistik zur Begründung herhalten. Diesmal mit einer neuen Variante bei den “demographischen” Bezugsgrößen: 1960 seien 10 Arbeitnehmer auf einen Rentner gekommen; heute seien es drei Arbeitnehmer pro Rentner und in 20 Jahren 2 Arbeitnehmer pro Rentner.
Warum hat eigentlich auf dem Parteitag niemand die Frage gestellt, wie wir die Verschlechterung der Relation 10 zu 1 von 1960 auf 3 zu 1 bis heute verkraftet haben und was denn angesichts dieser dramatischen Verschlechterung eine so “radikale Veränderung” ausmacht, wenn sich diese Relation nun von 3 zu 1 auf “nur” 2 zu 1 verschlechtern sollte.
Irgendjemand hat offenbar eingesehen, dass man mit den bisher zitierten demographischen Prognosen – also dem Verhältnis von Jüngeren zu Älteren – doch nicht so leicht Panik machen kann (Siehe dazu auch die Beiträge von Bosbach, Hauser und Müller in den NachDenkSeiten). Also muss eine neue Schreckenszahl her: Die Relation Arbeitnehmer pro Rentner.
Was aber wäre mit dieser Relation, wenn wir heute viereinhalb Millionen Arbeitslose weniger und mit der stillen Reserve womöglich sieben Millionen Arbeitnehmer mehr pro Rentner hätten und wie wäre es, wenn wir irgendwann auf dem Weg bis 2020 Vollbeschäftigung hätten, die Frauenerwerbsquote auf skandinavische Verhältnisse oder das Ruhestandsalter angehoben hätten? Wie würde dann das Verhältnis von Arbeitnehmern pro Rentner aussehen. Mit welcher Wachstumsrate ginge es sowohl Arbeitnehmer als auch Rentnern in zwanzig Jahren besser. Wie man an dieser zentralen Perspektive arbeiten könnte, darüber blieb der Parteitag leider viele Antworten schuldig.
Da könnte Franz Müntefering etwas “Ehrlich machen” und dann könnte er Mut zu neuen Antworten zeigen. Diese würden allerdings die bisherigen Antworten der Agenda “ehrlich” in Frage stellen. Solche Ehrlichkeit lässt aber seine Maxime “entschieden ist entschieden und jetzt nur noch entschlossen und geschlossen durchhalten” wohl kaum zu.
p.s.: Der Appell zur Geschlossenheit gilt allerdings offenbar auch nur für das “normale” Parteimitglied oder für die Kritiker der Agenda, nicht aber z.B. für den Wirtschaftsminister. Der darf offenbar, wie z.B. die Ökosteuer, alles, was einmal beschlossen wurde, in Frage stellen.