Kritik an Israels Politik aus dem jüdischen Gebot der Nächstenliebe heraus
Ein Nachruf auf Rolf Verleger
Von Arn Strohmeyer
Die Nachricht vom Tod Rolf Verlegers muss alle, die sich für einen gerechten Frieden im Nahen Osten einsetzen, tief betroffen machen. Mit ihm verlieren wir zudem einen wunderbaren und liebevollen Menschen, den persönlich gekannt zu haben, eine große Bereicherung war. Im Januar dieses Jahres hat er mir noch einen langen Brief geschrieben, in dem er auch auf seine Krankheit einging. Der Brief endete mit den Worten: „Ich muss sehr teure Pillen schlucken, und die Ärzte sind guter Stimmung. Mal sehen, wie es weitergeht…“ Er hat den Kampf gegen seine Krankheit verloren, er ist nur 70 Jahre alt geworden. Wir haben mit ihm einen der besten und kenntnisreichsten Mitstreiter für ein Ende der Gewalt und der Unterdrückung in Israel/Palästina verloren. Der Verlust wiegt sehr schwer.
Die Motivation für sein politisches Engagement war das Judentum, so wie er es verstand. Über diese Religion schrieb er: „Das Judentum war über Jahrhunderte eine Ideologie der Befreiung, der Möglichkeit der kommenden Erlösung, der Heilung der Welt durch Gottes Gnade.“ Das Gebot der Tora „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!“ oder in anderer Übersetzung „Liebe Deinen Nächsten – er ist wie Du!“ war für ihn die universale Kernaussage dieser Religion. Er zitierte immer wieder den Satz, den der Rabbi Hillel (geb. 70 v.u.Z.) zu einem Schüler auf die Frage nach dem Wesentlichen im menschlichen Leben gesagt hat: „Was Dir verhasst ist, das tu Deinem Nächsten nicht an!“. Hillel fügte hinzu: „Das ist die ganze Tora. Der Rest ist Erläuterung.“
Dieses Liebes-Gebot hat Rolf Verleger ganz wörtlich genommen, und es war sein Motiv, sich in die israelische Politik einzumischen und einer ihrer entschiedensten Kritiker zu werden. Denn beruflich hatte er als Neurologe gar nichts damit zu tun. Angesichts der unsagbaren Verbrechen, die die Zionisten seit ihrer Einwanderung in Palästina an der indigenen Bevölkerung begangen haben, schrieb er: „Das Judentum, meine Heimat, ist in die Hände von Leuten gefallen, denen Volk und Nation höhere Werte sind als Gerechtigkeit und Nächstenliebe.“
Im Juli 2006 fiel Israels Armee erneut in den Libanon ein. Der Kriegsgrund war ein militärisches Scharmützel mit der Hisbollah an der Grenze zum Zedernstaat, bei dem mehrere israelische Soldaten getötet und zwei gefangengenommen wurden. Israel antwortete wie immer mit brutaler und unverhältnismäßiger Gewalt auf den Vorfall. Der Zentralrat der Juden in Deutschland warb daraufhin in großen Zeitungsanzeigen für Solidarität mit der israelischen Kriegspolitik. Rolf Verleger, der Delegierter im Zentralrat war, schrieb aus diesem Anlass einen Brief an die Leitung des Zentralrats – die Präsidentin Charlotte Knobloch, Prof. Dr. Korn und Dr. Graumann. Darin kritisierte Verleger massiv die Parteinahme für Israels Invasion, denn diese Militäraktion werde Israel nicht sicherer, sondern unsicherer machen, weil es sich durch diesen Krieg erneut die Wut und den Hass der Nachbarstaaten zuziehen würde.
Verleger fragte dann in seinem Brief angesichts dieser Gewalteskalation: „Ist das noch dasselbe Judentum, das der Rabbi Hillel mit seiner Aufforderung zur Nächstenliebe meinte?“ Und er beantwortete die Frage so: „Das glaubt mir doch heutzutage keiner mehr, dass dies das ‚eigentliche‘ Judentum ist, in einer Zeit, in der der jüdische Staat andere Menschen diskriminiert, in Kollektivverantwortung bestraft, gezielte Tötungen ohne Gerichtsverfahren praktiziert, für jeden getöteten Landsmann zehn Libanesen umbringen lässt und ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legt. Ich kann doch wohl vom Zentralrat der Juden in Deutschland erwarten, dass dies wenigstens als Problem gesehen wird.“ Und er schloss seinen Brief mit den Worten: „Die israelische Regierung braucht unsere Solidarität. Im Moment ist sie aber auf einem falschen Weg, daher braucht sie von solidarischen Freunden jetzt nicht mehr Waffen oder mehr Geld oder mehr public relation, sondern mehr Kritik.“ Diese Kritik am israelischen Kriegszug und am Zentralrat kam in seiner jüdischen Gemeinde nicht gut an. Er verlor nach diesem Brief sein Mandat als Delegierter für das Zentralratsdirektorium.
Die Politik Israels gegenüber den Palästinensern warf für Verleger die Frage nach der jüdischen Identität auf. Für ihn war völlig klar, dass Israels Gewaltpolitik gegen ein ganzes Volk und der „erstickende“ zionistische Nationalismus nichts mit Judentum zu tun haben. Wenn es für ihn eine Identifikation mit Israel geben konnte, dann nur eine solche: „Für mich kann es überhaupt keinen Zweifel daran geben, Jude sein bedeutet, neben dem Stolz auf die jüdische religiöse Tradition, sich dem jüdischen Staat zugehörig fühlen. Und dieses Gefühl der Zugehörigkeit bedeutet, sich dafür einzusetzen, dass dieser Staat Frieden mit seinen arabischen Nachbarn macht, indem er endlich aufhört, die arabischen Palästinenser als Menschen zweiter Klasse zu behandeln.“
An die Juden in Deutschland richtete er einen flammenden, aber auch warnenden Apell: „Juden in Deutschland, die ihre jüdische Identität auf diese Weise definieren, als Bekenntnis zur aktuellen Politik des jüdischen Staates, setzen Kritik an Israels Politik gleich mit Verrat am Judentum, denn gemäß dieser Identitätsproblematik gibt es kein Judentum außerhalb der Unterstützung der Politik Israels. Das ist Nationalismus als Identitätsersatz. Das ist nicht gut, denn übersteigerter Nationalismus hat schon andere Länder in den Abgrund geführt, und so könnte es auch Israel gehen.“
Aus diesem Geist heraus hat sich Rolf Verleger immer wieder mit seinem kritischen Intellekt, seiner humanitären Gesinnung und seinem hohen moralischen Anspruch in die politische Debatte über Israel und den Nahen Osten eingemischt. Seine Stimme, die nun verstummt ist, ist für uns ein unersetzbarer Verlust.