„Wir erleben gerade eben eine Pandemie der Ungeimpften und die ist massiv“. Mit diesen Worten läutete vor einer Woche Bundesgesundheitsminister Spahn die vierte Welle ein. Diese „Pandemie der Ungeimpften“ geistert seitdem durch Kommentare und Leitartikel. Dabei schwingt mehr oder weniger direkt stets mit, dass die Ungeimpften für die steigenden Inzidenzen, sich füllende Krankenhäuser und zunehmende Sterbefälle verantwortlich seien. Belegen lässt sich diese These jedoch nicht. Wenn man vor allem Ungeimpfte testet, kriegt man natürlich auch vor allem ungeimpfte Testpositive. Zahlen, die weiterhelfen würden, veröffentlicht das RKI nicht. Zahlen aus Großbritannien weisen hingegen in eine ganz andere Richtung: Dort infizieren sich Geimpfte häufiger mit dem Coronavirus als Ungeimpfte. Und es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass dies in Deutschland großartig anders ist. Von Jens Berger.
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Anders als Jens Spahn und die Leitartikler spricht der Virologe Alexander Kekulé daher auch von einer „unsichtbaren Welle der Geimpften“. Er geht von einer „riesigen Welle Dunkelziffer von Menschen [aus], die geimpft sind oder genesen sind oder beides, und die das Virus munter weitergeben“. Diese These ist stichhaltig und dafür gibt es zwei Gründe.
Offiziell erfasst werden nämlich nur Testpositive, bei denen ein PCR-Test positiv ausfällt. Doch wer wird getestet? Die Tests sind ja keine Zufallsstichprobe, sondern stellen vor allem durch die 3G-Regelung eine strenge Vorauswahl dar. Wenn ein Geimpfter und ein Ungeimpfter in ein 3G-Restaurant gehen wollen, muss der Ungeimpfte sich testen lassen. Selbst wenn beide das Virus in sich tragen, geht daher lediglich der Ungeimpfte ins Netz der Statistiker. Der Geimpfte muss sich nicht testen lassen und so kriegt niemand mit, ob er überhaupt infiziert ist oder nicht.
Neben den Tests aus der 3G-Regelung stellen die freiwilligen Tests, die man beispielsweise machen lässt, wenn man wegen Erkältungssymptomen zum Arzt geht, ein zweites Standbein der Statistik dar. Wer jedoch symptomfrei ist oder nur leichte Symptome hat, geht auch nicht zum Arzt und lässt sich testen. Einer der Vorteile der Impfung ist aber, dass die Infektion in vielen Fällen symptomfrei oder lediglich mit sehr milden Symptomen verläuft. Auch hier rutschen geimpfte Infizierte daher in aller Regel durch das Statistiknetz.
Wie groß der Anteil geimpfter Infizierter wirklich ist, ließe sich daher nur über die Testungen ermitteln, die wirklich zufällige Stichproben darstellen. Solche Testungen sind aber selten und Daten dazu liegen dem RKI nicht vor. Mehr noch: Das RKI veröffentlicht selbst auf Nachfrage von Journalisten keine nach Impfstatus aufgeschlüsselten Inzidenzen (Folge 236 ab Minute 53:00) „weil diese verzerrungsanfällig [seien]“. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Das RKI führt dazu aber immerhin sehr richtig aus, dass „Geimpfte seltener getestet werden, erst recht wenn sie keine Symptome haben“.
Um diese Daten zu bekommen, muss man daher nach Großbritannien schauen, dessen vielgescholtenes Gesundheitssystem in Sachen Transparenz und Datenqualität dem RKI ohnehin meilenweit voraus ist. Und die britischen Daten sind in diesem Punkt wirklich überraschend. Dort kann man nämlich in allen Altersgruppen über 18 klar erkennen, dass Geimpfte sich nicht etwa seltener, sondern ganz im Gegenteil deutlich häufiger mit Corona infizieren als Ungeimpfte.
Covid-19-Fälle nach Impfstatus
Quelle: UK Health Security Agency, COVID-19 vaccine surveillance report – Week 42
In der Altersgruppe der 18- bis 59-Jährigen galten dort in den Kalenderwochen 38 bis 41 679 Ungeimpfte und 1.074 Geimpfte (jeweils pro 100.000 Einwohner) als infiziert. Bei den über 60-Jährigen ist der Trend noch deutlicher. Dort kommen pro 100.000 Einwohner auf 326 Ungeimpfte 585 geimpfte Infizierte. Natürlich ist die Zahl der Geimpften größer als die Zahl der Ungeimpften, dennoch weisen diese Zahlen klar darauf hin, dass sich mehr Geimpfte als Ungeimpfte infizieren und Ungeimpfte somit auch nicht als Infektionstreiber gesehen werden können.*
Covid-19-Fälle nach Impfstatus
Quelle: UK Health Security Agency, COVID-19 vaccine surveillance report – Week 42
Warum Geimpfte sich in Großbritannien häufiger als Ungeimpfte infizieren, ist nicht bekannt. Dass hierbei das Verhalten eine Rolle spielt, ist jedoch wahrscheinlich. Zugespitzt könnte man zumindest für Großbritannien auf dieser Basis daher eher von einer Pandemie der Geimpften als von einer Pandemie der Ungeimpften sprechen. Doch auch das würde zu kurz greifen, denn es sind ja nicht die Teststatistiken, sondern die schweren Krankheitsverläufe, die Corona zu einer Gefahr machen. Und hier passen auch die britischen Daten wieder ins gängige Narrativ.
Hospitalisierte Covid-19-Fälle nach Impfstatus
Quelle: UK Health Security Agency, COVID-19 vaccine surveillance report – Week 42
Über alle Altersgruppen hinweg ist hier der Anteil der Ungeimpften bei den mit Covid 19 assoziierten Krankenhauseinweisungen deutlich höher als der Anteil der Geimpften. Geimpfte infizieren sich häufiger, erkranken aber seltener schwer an der Krankheit. Letzteres ist ja bekannt und wird von zahlreichen anderen Studien und Datenreihen gestützt. Da die britischen Zahlen jedoch auch nach dem Alter der hospitalisierten Personen aufgeschlüsselt sind, fällt hier ein anderer – in Deutschland viel zu selten beachteter – Aspekt auf: Covid 19 ist unabhängig vom Impfstatus nach wie vor vor allem eine Krankheit des Alters.
So weisen auch die geimpften über 80-Jährigen eine deutlich höhere Hospitalisierungsrate auf als die ungeimpften 60- bis 69-Jährigen, die nach deutscher Definition ja zu einer Risikogruppe gehören. Erkennbar ist an den Zahlen auch, dass die unter 40- und mehr noch die unter 30-Jährigen – egal ob geimpft oder ungeimpft – für die medizinische Betrachtung der Pandemie überhaupt keine Rolle spielen. Noch deutlicher wird das, wenn man sich die Sterbefälle mit Coronazusammenhang anschaut.
Verstorbene Covid-19-Fälle nach Impfstatus
Quelle: UK Health Security Agency, COVID-19 vaccine surveillance report – Week 42
Hier spielen sogar sämtliche unter 60-Jährige – egal ob geimpft oder ungeimpft – keine Rolle und selbst die 60- bis 69-Jährigen haben auch ungeimpft ein überschaubares Risiko. Das Gros der Sterbefälle machen – geimpft oder ungeimpft – nach wie vor die über 80-Jährigen aus. Das Risiko geimpfter über 80-Jähriger, an Corona zu sterben, ist sogar höher als das Risiko ungeimpfter 70- bis 79-Jähriger.
Die Zahlen aus Großbritannien zeigen daher vor allem eins: Wir haben es weder mit der Pandemie der Ungeimpften noch mit einer Pandemie der Geimpften, sondern mit einer Pandemie der Alten zu tun. Das war seit dem ersten Ausbruch in Wuhan so und das hat sich auch durch die Impfkampagne nicht geändert. Wer Menschenleben retten will, der sollte daher nicht die Ungeimpften stigmatisieren und schikanieren, sondern die Alten schützen – egal ob geimpft oder ungeimpft.
* Anmerkung (12:00): Der Absatz wurde korrigiert, da in der vorherigen Version nicht klar wurde, dass die Zahlen sich auf die Gesamtbevölkerung und nicht auf die gesamte Zahl der Ungeimpften bzw. Geimpften beziehen.
Titelbild: Zubada/shutterstock.com