Der jetzige SPD-Vorsitzende hat sich entschlossen, im Dezember nicht mehr zur Wahl anzutreten. Das ist ehrenwert. Aber eine Abschiedsmail, die er Ende Oktober an ein SPD-Mitglied geschickt hat – siehe unten – zeugt vom Realitätsverlust und vom Entrücktsein dieses Führungspersonals. Es beginnt schon mit der Überschrift. Sie lautet: „MISSION ACCOMPLISHED“. Mit dieser englischen Allerweltsfloskel überschreibt der Vorsitzende der ehemaligen Arbeiterpartei SPD seinen Abschiedsbrief an ein Mitglied! Die Formel ist außerdem eng verbunden mit dem unseligen George W. Bush und einem militärischen Akt. Siehe hier. Dann übertreibt der Vorsitzende Walter-Borjans in fragwürdiger Weise den Erfolg bei der letzten Wahl. Er nennt das Ergebnis gleich im ersten Satz „einen grandiosen Erfolg“. Albrecht Müller.
Richtig ist, dass die „Sozialdemokratie wieder stärkste Kraft“ geworden ist. Aber das Wahlergebnis ist mit 25,7 % eines der schlechtesten der sozialdemokratischen Geschichte seit 1949. Siehe die folgende Abbildung:
Stimmenanteile der SPD bei den Bundestagswahlen von 1949-2021
Nur zweimal, 2017 mit 20,5 % und 2009 mit 23 %, war das Bundestagswahl-Ergebnis schlechter. Da kann man doch nicht von einem „grandiosen Erfolg“ sprechen, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Auch ansonsten ist der Abschiedsbrief ziemlich schwülstig. Und der scheidende Vorsitzende verliert leider kein Wort darüber,
- dass seine Partei in der wichtigen Frage von Krieg und Frieden die entspannungspolitische Kompetenz aufgegeben hat,
- dass sie zu wichtigen neueren Problemen wie etwa der Vorherrschaft großer Finanzkonzerne von Blackstone bis BlackRock in der deutschen Wirtschaft nichts zu sagen weiß,
- dass sie kein Wort zur verheerenden Situation der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland verliert,
- auch kein Wort dazu, dass seine Co-Vorsitzende im Amt bleiben will. Da wäre besser er, Walter-Borjans, geblieben. Denn mit Saskia Esken verbinden viele einigermaßen wache Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht gerade die von Walter-Borjans bemühten Worte „Ernst nehmen“ und „Vertrauen“. Wer einen Teil der Bürgerinnen und Bürger „Covidioten“ nennt und das dann nicht als Ausrutscher stehen lässt, sondern in vollem Bewusstsein bestätigt, ist nicht ernst zu nehmen und verdient auch kein Vertrauen. Siehe hier:
Saskia Esken zu Corona-Demos – Würden Sie noch mal Covidioten sagen?
25.10.2020 14:21 Uhr
Im ZDF verteidigt die SPD-Vorsitzende ihren “Covidioten”-Tweet. Wer mit bestimmten Leuten zusammen marschiere, müsse sich “möglicherweise Idiot nennen lassen”, sagt Esken.
Das ist die Mail von Norbert Walter-Borjans an das SPD-Mitglied Udo F.:
Von: Norbert Walter-Borjans | SPD-Parteivorstand
Datum: 30. Oktober 2021 um 09:31:27 MESZ
An: …
Betreff: Danke, für Dein Vertrauen, Udo.
MISSION ACCOMPLISHED.
Zuhören — Ernst nehmen — Zusammenrücken: Vertrauen!
Lieber Udo,
fünf Wochen ist es her, dass wir gemeinsam einen grandiosen Erfolg bei der Bundestagswahl feiern konnten: Die Sozialdemokratie ist wieder stärkste Kraft im Land. Jetzt stehen wir mitten in den Verhandlungen zur Bildung einer ungewohnten, aber schon erkennbar tatendurstigen Ampelkoalition. Unsere SPD kann damit zum dritten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die Vorherrschaft der CDU im Kanzleramt brechen!
Begonnen hat all das vor fast zwei Jahren mit den Mitgliedern der SPD: Nach 22 Regionalkonferenzen wurden Saskia und ich durch Euer Mitgliedervotum zu den Parteivorsitzenden gewählt. Vergessen werde ich diesen Moment niemals.
Wir hatten uns vorgenommen, unserer Partei etwas Verlorengegangenes zurückzugeben: Eine Kultur des gegenseitigen Zuhörens und Ernst nehmens, des Zusammenrückens und nicht zuletzt — eine Kultur des Vertrauens.
Zudem haben Saskia und ich die Auffassung vertreten, dass sich die SPD nicht aus einer Koalition heraus definieren darf, sondern eigene Impulse setzen muss. Damit haben wir schon auf dem Parteitag im Dezember 2019 begonnen und haben es in den Koalitionsausschüssen konsequent fortgesetzt.
Wir wollten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und haben unseren Kanzlerkandidaten früh benannt. Wir wollten ein Zukunftsprogramm, das klar ist in seinen Inhalten und bei dem die Mitglieder mitwirken können wie nie. Und: Wir wollten für eine neue Art der Kampagne sorgen, die frischer und selbstbewusster ist als in den vergangenen Wahlkämpfen.
Es ist ein gutes Gefühl, dass uns das alles gelungen ist.
Nun hängt das, was wir alle gemeinsam in den letzten zwei Jahren erreicht haben, nicht von Einzelpersonen ab. Vielmehr kommt es darauf an, den neuen Schulterschluss in der Partei zu festigen. Das schaffen wir am besten mit einer Parteiführung, die die neue Kultur weiter pflegt, aber gleichzeitig Jüngeren Platz macht.
Ich habe mich deshalb nach langer Überlegung dazu entschlossen, auf dem Parteitag im Dezember nicht wieder als Parteivorsitzender zu kandidieren. Ich tue das mit dem guten Gefühl, dazu beigetragen zu haben, dass es gut läuft. Neudeutsch würde man sagen: Mission accomplished.
Die nächsten Wochen sind davon geprägt, in fairen Koalitionsgesprächen eine stabile Regierung des Aufbruchs zu verabreden, die alle drei Partner gemeinsam tragen können und in die wir unsere zentralen sozialdemokratischen Positionen einbringen.
Ich möchte mich schon jetzt bei Dir bedanken, Udo: Für das Vertrauen, für den Zuspruch, aber auch die Kritik, für die Impulse in den Zuschriften und Videoschalten mit so vielen Mitgliedern — und nicht zuletzt für Dein Herzblut für die Sozialdemokratie.
Auf bald, Udo!
Dein Norbert
Titlebild: photocosmos1 / Shutterstock