Hartz IV soll schon bald Geschichte sein. So tönt es vollmundig aus den Kreisen der Koalitionsverhandlungen der Ampel-Parteien. Stattdessen soll künftig ein sogenanntes Bürgergeld die Grundsicherung gewährleisten. Die alten Sanktionen bleiben wohl erhalten. Was sich jedoch laut des Sondierungspapiers ändern wird, sind die Zuverdienstmöglichkeiten. Wer die Grundsicherung vom Staat bekommt, soll künftig mehr Geld hinzuverdienen dürfen, ohne dass er hohe Abzüge zu befürchten hat. Das klingt aber nur auf den ersten Blick sozial. Das Bürgergeld droht vielmehr eine Neuauflage des Kombilohn-Modells zu werden, bei dem der Staat und somit der Steuerzahler Unternehmen subventioniert, die Niedriglöhne zahlen und sich aus der Sozialversicherung stehlen. Von Jens Berger.
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Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist nicht vom Himmel gefallen. Er war vielmehr die Zielsetzung der Agenda-Politik der rot-grünen Regierungskoalition unter Gerhard Schröder. Dieser bekannte 2005 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos voller Stolz: „Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“ Und das stimmt auch, wobei sich das Attribut „der beste“ natürlich – wie bei Gerhard Schröder auch nicht anders zu erwarten – nicht auf die Arbeitnehmer-, sondern auf die Arbeitgeberperspektive bezieht. Denn es ist gar nicht so einfach, in einem Land mit relativ hohen Lebenshaltungskosten einen Lohnsektor zu etablieren, bei dem die Einkünfte aus der Arbeit nicht zum Leben ausreichen.
Eines der Kernelemente für die Rahmenbedingungen dieses Niedriglohnsektors ist die staatliche Subventionierung von schlecht bezahlten Tätigkeiten. Diese Subventionierung funktioniert vor allem durch einen „Lohnzuschuss“, den im Hartz-IV-Modell die sogenannten Aufstockungen darstellen. Vereinfacht: Wer trotz seiner regulären Arbeit am Ende des Monats nicht über das Existenzminimum kommt, kann sein Einkommen durch Hartz-IV-Leistungen aufstocken lassen. Somit bezahlt die Gemeinschaft die Differenz zwischen (Niedrig-)Lohn und Existenzminimum – eine Summe, die in einer wirklich sozialen Marktwirtschaft der Arbeitgeber bezahlen müsste.
Mit einem funktionierenden Markt hat dies nichts zu tun. Würde der Arbeitsmarkt auch in den unteren Lohnklassen funktionieren, hätte der Anbieter von Arbeitskraft die Möglichkeit, einen zu schlechten Preis (also hier: Lohn) abzulehnen. Das ist im Hartz-System durch die Androhung von Sanktionen nicht möglich. Der Arbeitnehmer wird also dazu gezwungen, einen – wie Ökonomen sagen – „falschen“ Preis zu akzeptieren. Und die Allgemeinheit sorgt über die „Aufstockung“ dafür, dass er dies zumindest auf allerniedrigstem Niveau auch kann. Mit Solidarität hat das aus dieser Perspektive nicht viel zu tun. Könnte der Arbeitnehmer seine Miete oder seine Nahrungsmittel nicht mehr bezahlen, würde er obdachlos werden oder würde verhungern und stünde dem Niedriglohnsektor nicht mehr zur Verfügung. Könnte er sich sein Auto oder das Ticket für Bus und Bahn nicht mehr leisten, käme er nicht mehr zum Arbeitsplatz. Der Arbeitgeber hat also aus ökonomischer Perspektive großes Interesse daran, dass seine Beschäftigten im Niedriglohnsektor nicht unter das Existenzminimum fallen. Man sollte diese ökonomische Perspektive übrigens nicht mit Zynismus verwechseln. Genau so argumentiert die neoliberale Schule der Volkswirtschaft.
Ein weiterer Effekt der Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die Agenda-Politik war (und ist) die Flucht aus der Sozialversicherung. Wer nur in einem „geringfügigen“ Maß arbeitet, zahlt auch keine Sozialabgaben für die Krankenversicherung, die Rente oder die Arbeitslosenversicherung. Der Arbeitnehmer hat zwar dann mehr Netto vom Brutto, wie es ein alter Wahlkampfschlager der FDP so schön forderte, aber der eigentliche Profiteur dieser Umgehung der Sozialsysteme ist natürlich der Arbeitgeber, da er ebenfalls keine Beiträge für die Sozialsysteme abführen muss. Das sind die berühmt-berüchtigten „Lohnnebenkosten“, die ebenfalls mal ein Wahlkampfschlager waren. Auch dies sollte man aus der Arbeitgebersicht betrachten, um den eigentlichen Sinn dahinter zu verstehen: Wenn ein Supermarkt einen vollzeittätigen Verkäufer zum Mindestlohn beschäftigt, muss der Arbeitgeber für diese Arbeitskraft die vollen Sozialbeiträge zahlen. Beschäftigt er stattdessen drei oder vier Teilzeitverkäufer auf Minijob-Basis kommt er um diese Kosten herum. Die Folge für die Gesellschaft: Immer mehr Menschen werden aus einem „echten“ sozialversicherungspflichten Vollzeitjob herausgedrängt, bei dem der Arbeitgeber sich paritätisch an der Finanzierung des Sozialsystems beteiligt.
Summa summarum bilden also die Hartz-Gesetze kombiniert mit den Möglichkeiten zur Schaffung nicht-sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse genau die Rahmenbedingungen, unter denen laut Gerhard Schröder „Europas bester Niedriglohnsektor“ entstehen konnte. Und die Gemeinschaft subventioniert dies über ihre Steuern und über die Sozialsysteme.
Wenn einem diese Zusammenhänge klar sind, wird man sicher auch die nun debattierten „Zuverdienstmöglichkeiten“ anders bewerten. Diese sind nämlich keine soziale Großtat, sondern stellen vielmehr eine Ausweitung der Subventionierung für schlechtbezahlte Tätigkeiten außerhalb der Sozialsysteme dar. Wenn ein Bürgergeld-Empfänger beispielsweise ohne Abzüge 500 Euro im Monat hinzuverdienen dürfte, wäre dies allen voran eine gute Nachricht für die Arbeitgeber.
Warum sollte der Supermarktbetreiber dann überhaupt noch sozialversicherungspflichtige Vollzeitmitarbeiter einstellen? Es ist doch betriebswirtschaftlich viel günstiger, stattdessen Bürgergeld-Empfänger auf 500-Euro-Basis zu beschäftigen. Die können dank des Bürgergelds ja ihre Miete zahlen und verhungern nicht und 500 Euro zusätzlich auf die Hand – es fallen ja weder Steuern noch Sozialabgaben an – reichen dann auch für ein Leben auf einem immer noch niedrigen, aber immerhin über dem heutigen Hartz-IV-Niveau angesiedelten Leben.
Ist das Bürgergeld plus Zuverdienstmöglichkeiten also letztlich doch gar nicht so schlecht für die Betroffenen? Nein! Denn die Alternative zu Bürgergeld plus Zuverdienst ist in diesem Falle ja nicht die Grundsicherung, sondern ein regulärer Job plus Sozialversicherung. Die Arbeit muss ja schließlich getan werden und wenn es dem Supermarktbetreiber nicht möglich ist, durch die angebotenen Deregulierungen sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu umgehen, macht er den Supermarkt ja nicht dicht, sondern muss wohl oder übel reguläre Arbeitskräfte einstellen und Sozialabgaben zahlen. Das drückt den Gewinn. Für den Bürgergeldempfänger heißt dies jedoch, dass er ohne dieses Instrument eher einen regulären sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz hätte und mit der Zeit auch Rentenansprüche aufbauen kann. Ein Bürgergeld mit Zuverdienstmöglichkeiten versperrt diesen Weg.
Letztlich stellt ein Bürgergeld mit Zuverdienstmöglichkeiten somit das klassische Kombilohn-Modell dar – ein Modell, bei dem der Staat über Transferleistungen niedrig bezahlte Beschäftigungsverhältnisse subventioniert. Das ist FDP pur. SPD und Grüne stehen somit vor dem zweiten arbeits- und sozialpolitischen „Sündenfall“ in ihrer Geschichte.
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