Gestern fand am Londoner Royal Court of Justice der erste Teil der zweitägigen Berufungsverhandlung im Auslieferungsverfahren der US-Regierung gegen Julian Assange statt. Im Januar hatte die zuständige Richterin seine Auslieferung aus gesundheitlichen Gründen und wegen der in den USA auf ihn wartenden Haftbedingungen abgelehnt. Der Vertreter der US-Anklage, James Lewis, QC, hatte gestern darzulegen, welche juristischen Gründe gegen dieses Urteil sprechen. Am Ende des Tages kam für 30 Minuten Verteidiger Edward Fitzgerald zu Wort, und heute wird es umgekehrt gehandhabt. Wann der Schiedsspruch von Lord Justice Holroyde und Lord Chief Justice Burnett erfolgt, ist nicht ganz klar, es war aber von Tagen die Rede. Von Moritz Müller.
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Da ich leider kurzfristig verhindert war und bin, verfolgte ich das Geschehen diesmal bei letmelooktv und anhand der Twittermeldungen verschiedener im Gerichtsaal anwesender oder per Videoschalte teilnehmender Journalisten.
Einen ersten Eindruck bekam ich durch einen Tweet von Rebecca Vincent von Reporter ohne Grenzen, die wie auch im letzten Jahr keinen offiziellen Zugang zum Gerichtssaal bekommen hatte.
„Wir sind nun gezwungen, uns vor der Tür der Besuchertribüne zu drängeln. Man hat uns gesagt, dass 8 Personen reinkommen werden. Ein Mitbürger weigert sich, die Warteschlange zu respektieren und verhält sich den anderen gegenüber recht aggressiv. Das Gericht sollte uns nicht in diese Situation bringen.“
Das klingt wie im September 2020, als wir uns tagelang gemeinsam die Beine in den Bauch standen und deswegen die Stimmung darunter litt. Damals erzählte mir Rebecca, dass sie sich in den Gerichten von Aserbaidschan, der Türkei und Russlands willkommener gefühlt habe als im Herzen Londons.
Julian Assange selber hat auch keinen persönlichen Zugang zu seinem eigenen Verfahren bekommen und soll per Video zugeschaltet werden. Somit kann er während der Anhörung nicht mit seinen Anwälten kommunizieren. Man stelle sich den Aufschrei vor, falls dies in Russland oder auf den Philippinen passieren würde. Aber wir leben natürlich im freien Westen, wo die Rechtsstaatlichkeit ja quasi automatisch stattfindet und diesbezügliche Fragen dadurch abgebügelt werden.
Da von der Besuchertribüne keine Telekommunikation betrieben werden darf, schaltete ich auf die folgenden Kanäle um:
- Kevin Gosztola, Chefredakteur von Shadowproof, aus den USA zugeschaltet
- Dustin Hoffmann, Büroleiter des Europaabgeordneten Martin Sonneborn, der auch letztes Jahr jeden Tag konsistent aus dem Old Bailey berichtete.
Ankläger Lewis versuchte über mehrere Stunden, die medizinischen Gutachten, die zum Urteil von Bezirksrichterin Baraitser geführt hatten, infrage zu stellen und es als unfair darzustellen, dass sie manchen Gutachtern mehr Gewicht zusprach als anderen. Kevin Gosztola merkte zurecht an, dass genau dies die Aufgabe der Richterin sei: die Argumente zu hören, zu beurteilen und zu gewichten.
Besonders hatte es Lewis auf Prof. Michael Kopelman abgesehen, und er versuchte darzulegen, dass dessen Gutachten wertlos seien, weil er in einem ersten Report nicht dargelegt hatte, dass er von den beiden Söhnen von Stella Moris und Julian Assange wusste. Dieser hatte das in folgenden Reports, lange vor Beginn der Anhörung im September, dann doch erwähnt und seine vorherige Diskretion mit der Privatsphäre von Stella Moris und den beiden Söhnen begründet. Die Richterin zeigte hierfür Verständnis und schrieb explizit, dass sie sich selbst nicht getäuscht fühle.
Außerdem behauptete Lewis, die von Kopelman diagnostizierte Depression sei von Assange nur vorgetäuscht. Dazu Dustin Hoffmann aus dem Gerichtssaal:
„Diese Ausführungen zu Kopelmans Expertise waren im September 2020 grotesk und sind jetzt nur noch jämmerlich.“
Insgesamt kein schönes Schauspiel, diese Zerpflückung des mentalen Gesundheitszustandes eines Menschen.
Ein weiterer Komplex waren die in den USA zu erwartenden Haftbedingungen, die im Urteil der ersten Instanz als bedrückend bzw. erdrückend (oppressive) bezeichnet wurden. Lewis sagte, dass es sich nicht um Isolationshaft handele, solange man Zugang zu seinem Rechtsanwalt habe. Außerdem habe die US-Regierung „bindende“ Zusagen gegeben, dass Assange nicht unter den härtesten Bedingungen festgehalten werden würde.
In der entsprechenden Note heißt es einige Zeilen weiter aber, dass Assange doch härteren Maßnahmen unterworfen werden könne, wenn er Dinge tue, die dies erforderten. Den Wert solcher Zusagen kann jeder selbst beurteilen. Und was „bindend“ in diesem Zusammenhang heißen soll, wenn die USA seit jeher alle möglichen Verträge kündigen, wenn diese nicht mehr für sie passen, kann man auch nur vermuten.
Vielleicht sollte sich Lewis mal bei amerikanischen Ureinwohnern nach „bindenden Zusagen“ erkundigen. Da würden diese wohl entweder herzhaft lachen oder angewidert abwinken. Auch am Beispiel Daniel Hale kann man sehen, wie es um Zusagen aus dieser Richtung steht.
In seiner Erwiderung meinte Verteidiger Fitzgerald auch, dass all diese Zusicherungen viel zu spät gekommen seien, denn der ganze Themenkomplex sei ja schon im September 2020 abgehandelt worden, während die „bindenden Zusagen“ erst nach dem Richterspruch im vergangenen Januar gemacht wurden.
Bezüglich der medizinischen Expertisen fragte Fitzgerald, ob sein studierter Freund (learned friend) dasselbe Urteil gelesen habe wie er.
Insgesamt bekommt man den Eindruck, als seien den USA die Luft ausgegangen und dass es auf eine weitere Ablehnung der Auslieferung hinauslaufen müsste. Dass dies dann aber auch noch nicht die Freilassung von Assange bedeutet, ist die Erfahrung aus der letzten Instanz. Außerdem bin ich mir nie ganz sicher, ob ich hier einen offenen Prozess beobachte oder Kasperltheater.
Alle, die Assange gestern auf dem Videoschirm sahen, sagten, dass er dünn und schlecht aussähe. Es ist an der Zeit, dass dieses Trauerspiel beendet wird, bevor es zu spät ist.
FREIHEIT FÜR JULIAN ASSANGE!
Auch der Deutsche Journalistenverband hatte am Dienstag einen Orden für Assange gefordert anstatt eine Auslieferung an die USA.
Hier findet man Dustin Hoffmanns Tweets von gestern und hier auf Englisch eine sehr gute Zusammenfassung von Kevin Gosztola. Oder hier Joe Lauria auf ConsortiumNews.
Heute um 11:30 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit geht die Anhörung weiter und man kann auf obigen Kanälen folgen.
Titelfoto: Drew McFadyen/letmelooktv