Die Aufhebung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ ist überfällig. Nun wird aber diskutiert, Corona-Maßnahmen auch unabhängig von einer nationalen „epidemischen Lage“ weiter in Kraft zu lassen. Das wäre eine weitere Entkoppelung der Grundrechte-Beschränkungen von rationalen Begründungen. Soll die Repression mit diesem Schritt von „Notlagen“ unabhängig gemacht und damit verstetigt werden? Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Die Ausrufung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ war nach offizieller Lesart die Reaktion auf eine ganz außerordentliche Notlage. Laut einem Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn soll diese „epidemische (Not-)Lage“ ab November nicht weiter verlängert werden. Eine solche Verlängerung ließe sich wohl auch bei Ausschöpfung aller Panik-Kapazitäten in Medien und Politik nicht mehr vermitteln und ist auch aus diesem Grund folgerichtig. Prinzipiell wäre dieser Schritt auch rundum zu begrüßen – wenn nicht gleichzeitig die Verlängerung einer „(Not-)Lage“ auf anderen Ebenen gefordert würde: So sollen die Länder auch ohne die offizielle nationale „epidemische Lage“ weiterhin Grundrechte einschränken können (etwa über das in jeder Hinsicht abzulehnende „2G“-Modell), die juristische Basis dafür müsse jetzt geschaffen werden. Beobachter sehen diese juristische Möglichkeit ohnehin schon, Zitate folgen im Text.
Sollen Corona-Maßnahmen von der Gefahr entkoppelt und „normalisiert“ werden?
Eine versuchte Entkoppelung der Corona-Maßnahmen von einer offiziell festgestellten „(Not-)Lage“ könnte der erste Schritt sein, die angeblich einer akuten Gefahrenabwehr dienenden Maßnahmen von der direkten „Gefahr“ zu trennen und damit zu verstetigen und zu „normalisieren“. Einer solchen Tendenz sollte entgegengetreten werden: Mit dem Ende der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ müssen auch die Corona-Maßnahmen beendet werden, die dann nicht einmal mehr den offiziellen Segen haben – von einer rationalen Begründung ganz zu schweigen.
Die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ würde ja nicht ohne Grund auslaufen (wenn es dazu kommt), sondern weil sich das Szenario einer überwältigenden Gefahr durch das (reale) Corona-Virus immer schwieriger aufrechterhalten lässt. Bereits die letzte Verlängerung der „epidemischen Lage“ konnte nicht angemessen begründet werden. Wie könnte man dann nun für die Fortführung der Maßnahmen (und sei es auf Länderebene) argumentieren? Man könnte es seriöserweise nicht: Die Corona-Maßnahmen (vor allem die gegen die Kinder) erfüllen schon lange nicht mehr die Kriterien, angemessen, wirksam und notwendig zu sein, wie das alle entsprechenden Vorschriften verlangen. Die unseriöse offizielle Datengrundlage, die die Corona-Maßnahmen nicht in angemessener Form rechtfertigen kann, haben die NachDenkSeiten kürzlich hier beschrieben.
„Epidemische Lage“ beenden, aber gleichzeitig Maßnahmen fortführen
Wegen der beiden Pole der Debatte („epidemische Lage“ beenden, aber gleichzeitig Maßnahmen fortführen) erhält die Diskussion eine widersprüchliche und anti-wissenschaftliche Note, wie viele andere Aspekte der Corona-Politik auch. Die Position von Jens Spahn wird in diesem Artikel zitiert, in diesem Kommentar bricht der Deutschlandfunk eine Lanze für das gleichzeitige Beenden und Fortführen:
„Der aktuellen Coronalage kann man auch ohne ‚Epi-Lage‘ begegnen, kommentiert Volkart Wildermuth. (…) Doch die Schutzmaßnahmen müssen bleiben – und entsprechende Gesetze zügig verabschiedet werden.“
Ob nun „2G für immer“ bleiben würde, fragt RT in diesem Artikel. Der Rechtsanwalt Friedemann Däblitz ist der Ansicht, dass neue Gesetze für eine Verstetigung der Grundrechte-Einschränkungen gar nicht nötig wären – er zitiert das „Infektionsschutzgesetz“ (IfSG) – demnach könnte auch bei Auslaufen der „epidemischen Lage“ alles „bleiben, wie es ist“:
„Was bedeutet es, wenn die epidemische Lage nationaler Tragweite aufgehoben würde?
§ 28a Abs. 7 IfSG:
(7) Nach dem Ende einer durch den Deutschen Bundestag nach § 5 Absatz 1 Satz 1 festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite können die Absätze 1 bis 6 auch angewendet werden, soweit und solange die konkrete Gefahr der epidemischen Ausbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) in einem Land besteht und das Parlament in dem betroffenen Land die Anwendbarkeit der Absätze 1 bis 6 für das Land feststellt.d.h. alles kann so bleiben wie es ist, es müssen aber die Länderparlamente statt des Bundestages feststellen, dass das Nötig sein soll.“
Immerhin wären dann aber die Länder verantwortlich, einzelne Ministerpräsidenten könnten sich absetzen. Sicherlich werden dann aber schnell Stimmen laut, die einen föderalen „Flickenteppich“ beklagen und ein „einheitliches Vorgehen“ einfordern.
Es gibt Kritik an Spahns Vorstoß – aber aus den falschen Gründen: So wird meist nicht die Widersprüchlichkeit zwischen dem Abschied von der „epidemischen Lage“ einerseits und der Beibehaltung der „(Not-)Lagen“-Maßnahmen andererseits thematisiert, sondern es wird eher die Nicht-Verlängerung der nicht mehr zu begründenden „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ kritisiert. Die SPD-Gesundheitspolitikerin Bärbel Bas hat „zurückhaltend“ auf die Ankündigung von Spahn reagiert. Das Parlament werde entscheiden, „welche Maßnahmen weiterhin notwendig sind, damit das Infektionsgeschehen im Winter eingedämmt bleibt“. Auch sie möchte die Maßnahmen nun offenbar von der akuten Gefahrenabwehr entkoppeln: Unabhängig von der „epidemischen Lage“ seien weiterhin Maßnahmen nötig, so Bas.
Beispiel 9/11: Ohne Widerstand bleiben viele problematische Gesetze in Kraft
Dieser Entkoppelung sowie einer versuchten Verstetigung der „Notmaßnahmen“ und der Einführung einer potenziell streng überwachten „Neuen Normalität“ sollte entgegengetreten werden. Als Mahnung können die nach dem 11. September 2001 als Reaktion auf eine „akute Notlage“ in zahlreichen Ländern eingeführten „Anti-Terror“-Gesetze wirken: Dass diese Gesetze teils bis heute in Kraft sind (also von der ursprünglich auslösenden „Gefahr“ entkoppelt und dadurch verstetigt wurden), haben die NachDenkSeiten kürzlich im Artikel „9/11 und Corona: Die Virus-Politik ist der neue ‚Krieg gegen den Terror‘“ beschrieben. Demnach sind viele der „Sicherheitsgesetze“, die auf 9/11-Medien-Kampagnen von vor 20 Jahren aufgebaut wurden, noch immer wirksam, obwohl zahlreiche damals ins Feld geführte Gründe inzwischen zusammengebrochen sind. Im Artikel wird eine aktuelle Studie zitiert:
„In demokratischen Staaten bleiben viele der ursprünglich zeitlich befristeten, weil massiven Eingriffe in die Privatsphäre, etwa bei der Überwachung der Telekommunikation, der Speicherung von Telekommunikationsdaten oder der Erfassung biometrischer Merkmale, in Kraft und wurden durch die Aufnahme in dauerhaftes Recht normalisiert.“
Der Artikel betont außerdem:
„Die Gesetze stützen sich noch immer auf die faktenlose Macht der damaligen Propaganda. Bezieht man diese Erfahrung auf Corona: Zu glauben, dass die nun aufgebaute, aufwändige digitale Überwachungsstruktur aus Gesundheitspässen, Kontaktnachverfolgung und Status-Abfragen wieder abgebaut würde, wenn Corona „verschwindet“, ist meiner Ansicht nach naiv. Die Bürger in diesem weiterverbreiteten naiven Glauben zu belassen, bedeutet für mich eine verantwortungslose journalistische Arbeitsverweigerung. Was jetzt (in einer sehr wichtigen aktuellen Phase) nicht auf Widerstand stößt und also eingeführt wird, wird uns sehr wahrscheinlich lange erhalten bleiben.“
Titelbild: photocosmos1 / Shutterstock