Die Preise steigen. Für September meldete das Statistische Bundesamt eine Steigerung des Verbraucherpreisindex um 4,1 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Das ist der höchste Wert seit 1993. Vor allem stark steigende Energiepreise haben in diesem Jahr die Inflation getrieben. Schon warnen zahlreiche Ökonomen und Leitartikler vor der „Rückkehr der Inflation“. Doch das ist nicht nur zu kurz gedacht, sondern vor allem eine manipulative Finte, um dringend nötige Lohnsteigerungen abzuwenden. Nötig wären jetzt vor allem punktuelle Hilfen für die Menschen, die unter den hohen Energiepreisen leiden, und keine alarmistische Debatte über das Inflationsgespenst. Von Jens Berger.
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Wer in diesen Tagen tankt oder schlimmer noch seinen Heizölvorrat für den Winter aufstocken muss, muss tiefer denn je in die Taschen greifen. Im Schnitt werden für Heizöl zurzeit mehr als 90 Cent pro Liter fällig – das ist mehr als doppelt so viel wie ein Jahr zuvor. Nun gibt es Stimmen, die vor allem die Klimapolitik für diesen Preisanstieg verantwortlich machen. Doch das ist nicht sonderlich überzeugend. Richtig ist, dass die in diesem Jahr eingeführte Energiesteuer (aka CO2-Abgabe) den Preis erhöht hat. Es handelt sich hierbei jedoch „lediglich“ um 7,9 Cent pro Liter. Wenn Sie heute Ihren Heizungstank mit 3.000 Liter füllen, zahlen Sie im Schnitt rund 2.700 Euro und damit rund 1.400 Euro mehr als im Jahr zuvor. Für die Energiesteuer fallen jedoch „nur“ 237 Euro Mehrkosten an.
Wohin geht der Rest? Das ist vergleichsweise einfach. Vor einem Jahr kostete Rohöl an den Weltmärkten rund 40 US-Dollar pro Barrel, heute ist es mit rund 85 US-Dollar doppelt so teuer. Und die aktuellen Heizölpreise sind auch keine historische Ausnahme, sondern lagen auch ohne Energiesteuer in den Jahren 2013 und 2014 auf einem sehr ähnlichen Niveau. Damals lag der Rohölpreis übrigens durchweg über der 100-US-Dollar-Marke. Was die aktuellen Rekordpreise besonders macht, ist nicht deren Höhe, sondern vor allem deren Steigerung gegenüber dem Vorjahr, als die Rohstoff- und Energiepreise durch die globale Corona-Maßnahmen-Krise tief im Keller waren. Und was für das Heizöl gilt, gilt wegen des höheren Steuersatzes und des damit niedrigeren Anteils des Rohstoffanteils am Verbraucherpreis in abgeschwächter Form auch für Kraftstoffe, Gas und sogar Strom. Statt „die Rückkehr der Inflation“ müsste es hier also eher heißen: „die Rückkehr der hohen Energiepreise“.
Es sind jedoch nicht nur die Energiepreise, die gegenüber dem letzten Jahr deutlich zugenommen haben. Auch die Nahrungsmittelpreise – hier insbesondere das Gemüse – und zahlreiche andere Güterpreise haben binnen eines Jahres stark zugelegt. Die Gründe dafür sind mannigfaltig und haben oft mit den Corona-Maßnahmen zu tun. Dabei geht es um gestörte Lieferketten und einen Mangel an Arbeitskräften, die während der Maßnahmen im letzten Jahr freigestellt und nun nicht so schnell wieder besetzt werden können. Prognosen, wie sich diese Preise künftig entwickeln, sind schwer. Sie könnten wieder zurückgehen, wenn die zugrundeliegenden Probleme in den Griff bekommen wurden. Sie könnten aber auch auf dem Niveau bleiben. Dass sie jedoch stetig in diesem Maße steigen, ist sehr unwahrscheinlich. Eine dauerhafte „Inflation“ würde jedoch – wenn man andere Faktoren herauslässt – ein dauerhaftes Steigen dieser Preise voraussetzen.
Sowohl die steigenden Energiepreise auf den Rohstoffmärkten als auch die Preissteigerungen gelten in der Volkswirtschaft als externe Effekte. Das ist wichtig, wenn man über das Thema Inflation spricht. Solche externen Effekte sind meist vorübergehender Natur, können jedoch durchaus eine höhere Inflation auslösen. Dazu müssen jedoch weitere Effekte eintreten. In den 1970ern war es beispielsweise die Ölkrise, die eine Zeit höherer Inflationsraten initiiert hat. Weil die Energiepreise stark stiegen, sahen die damals starken Gewerkschaften ihre Chance gekommen, Lohnabschlüsse zu fordern – und auch durchzubekommen – die noch über den Preissteigerungen lagen. Das löste dann eine sogenannte Lohn-Preis-Lohn-Spirale aus. Die höheren Löhne trieben die Preise und die Gewerkschaften nutzten die Preissteigerungen, um abermals hohe Lohnsteigerungen durchzusetzen. Das wäre alles gar kein Problem gewesen, wäre damals die Bundesbank nicht auf die irrwitzige Idee gekommen, die Inflation über Zinssteigerungen wieder einzufangen und damit eine schwere Wirtschaftskrise auszulösen.
Genau um diese Lohn-Preis-Lohn-Spirale geht es auch zwischen den Zeilen bei der aktuellen „Inflationsdebatte“. Selbstverständlich wissen auch die neoliberalen Leitartikler und monetaristisch denkenden Ökonomen, dass externe Effekte keine dauerhafte Inflation auslösen. Sie wissen jedoch auch, dass die heutigen Preissteigerungen bei den Arbeitnehmern den Wunsch nach längst überfälligen Lohnsteigerungen forcieren. Und dies soll – komme, was wolle – verhindert werden. Schon ist die Rede von „übermäßig hohen“ Lohnsteigerungen (Zitat IfW-Chef Gabriel Felbermayr) und die FAZ stellt fest: „Wie schlimm es [mit der Inflation] kommt, hängt nun auch von den Gewerkschaften ab“.
Könnten „übermäßig hohe“ Lohnsteigerungen denn zu einer neuen Lohn-Preis-Lohn-Spirale führen? Zumindest in der Theorie mag das so sein. In der Praxis sieht es jedoch vollkommen anders aus. Die letzten zwei Jahrzehnte waren eher von einer negativen Lohn-Preis-Lohn-Spirale gekennzeichnet, bei der die Abschlüsse zu keinen nennenswerten Reallohnsteigerungen führten und die Preise noch nicht einmal im von der EZB vorgegebenen Zielkorridor stiegen. Dass sich dies nun diametral ändert und die heute schwachen Gewerkschaften dauerhaft Abschlüsse durchsetzen können, die weit über der Preissteigerung liegen, ist ungefähr so unwahrscheinlich wie der Gedanke, dass Friedrich Merz sich von einer Vermögensbesteuerung begeistern lässt. Daran – und damit an das Inflations-Gespenst – sollten wir also lieber erst gar keinen Gedanken verschwenden. Denn diese Debatte lenkt von wichtigen Fragen im Zusammenhang mit der Preissteigerung ab.
Denn Menschen, die finanziell nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, ist es vollkommen egal, wodurch Preissteigerungen verursacht wurden. Wenn der Arbeiter auf dem Lande sich die Tankfüllung nicht mehr leisten kann oder Familien sich ihren Heizöltank nicht mehr vollmachen lassen können, ist dies ein gesellschaftliches Problem. Doch die Politik ist taub für derlei Probleme. Die soziale Frage spielt keine Rolle mehr. Man will nur noch das Klima retten und auch über den Preis das Verbrauchsverhalten der Bürger ändern. Natürlich ist es richtig und wichtig, die Klimagasemissionen zu senken, aber das muss in einem vertretbaren sozialen Rahmen geschehen. Das war in der Vergangenheit nicht der Fall und wird es wohl auch in Zukunft nicht sein.
Wir sollten uns daher auch keine Sorgen um die „Inflation“ machen, sondern die Frage stellen, wie der Staat helfen kann, dass die vorhandenen Preissteigerungen vor allem für Energie und Lebensmittel auch von Menschen getragen werden können, die sich dies zurzeit nicht leisten können. Und wir sollten widerstehen, im allzu verständlichen Groll über diese Preissteigerungen den manipulativen Unkenrufen der „Inflation-Warner“ hinterherzurennen. Denn „weniger Geld“ war noch nie die richtige Antwort auf „höhere Preise“. Das sollten auch die Gewerkschaften beherzigen.
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