Am 8. Oktober wurde dem Chefredakteur der oppositionellen russischen Novaja Gaseta, Dmitri Muratow, und der philippinischen Journalistin Maria Ressa der Friedensnobelpreis verliehen. Muratow hat angekündigt, dass man einen Teil des Preisgeldes an schwerkranke Kinder, ein Moskauer Altenheim und an unabhängige Medien geben werde. Der Kreml reagierte auf die jüngste Preisverleihung höflich-diplomatisch. Aber von bekannten russischen Journalisten gab es auch Spott und Kritik. In der Sowjetunion und in Russland zeichnete das Nobel-Komitee bis heute nur Hoffnungsträger des Westens aus, Andrej Sacharow, Michail Gorbatschow und jetzt Dmitri Muratow. Von Ulrich Heyden, Moskau.
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Wie eine Sprecherin des norwegischen Nobel-Komitees erklärte, bekamen Dmitri Muratow und die philippinische Journalistin Maria Ressa den mit 987.000 Euro dotierten Friedensnobelpreis in diesem Jahr „für ihre Erfolge bei der Sicherung der Meinungsfreiheit, welche eine Vorbedingung für die Demokratie und dauerhaften Frieden ist“.
Wie kann man diese Äußerung interpretieren? Dass von einem Russland in seinem jetzigen Zustand eine Kriegsgefahr ausgeht, die durch Journalisten wie Muratow verringert werden kann? Dass Staaten, die sich nicht an dem westlichen Demokratie-Modell orientieren, Nachhilfe brauchen, indem Oppositionelle als Vorbilder aufs Schild gehoben werden?
Dass ausgerechnet der Chefredakteur der russischen Zeitung Novaja Gaseta als erstem Bürger des nachsowjetischen Russland der Nobelpreis verliehen wurde, löst bei mir widersprüchliche Gefühle aus. Warum wird ausgerechnet dem 59 Jahre alten Muratow diese Ehre zuteil? Weil seine Zeitung, die sich auf Korruption in den höheren Machtetagen, Machtmissbrauch in den Sicherheitsorganen und Faschisten-Umtriebe spezialisiert hat, acht ermordete Mitarbeiter zu beklagen hat? Was ist mit den Tausenden anderen Oppositionellen und engagierten Bürgern und Bürgerinnen, die vielleicht nicht alle erklärte Putin-Gegner sind, aber auf ihre Weise für die Demokratisierung der russischen Gesellschaft kämpfen?
Warum wählt das norwegische Nobel-Komitee in Russland als Preisträger nur Dissidenten, Oppositionelle und Hoffnungsträger des Westens aus wie den Physiker Andrej Sacharow 1975, Michail Gorbatschow 1990 und jetzt Muratow? Soll eine Preisverleihung in einem Staat, der von westlichen Medien als „unfrei“ und „undemokratisch“ bezeichnet wird, etwas im Sinne des Westens bewegen? Ist diese Hoffnung im heutigen Russland, das sich in einem Kalten Krieg mit dem Westen befindet, realistisch?
Reaktionen in Russland
Die Reaktionen in Russland auf die Preisverleihung schwankten zwischen freundlich-diplomatisch bis spöttisch und schroffem Widerspruch.
Der russische Fernsehkanal Pervi berichtete fast neutral über die Preisverleihung. Muratow sei „der dritte Preisträger des Friedensnobelpreises unseres Landes“, hieß es in einer verlesenen Meldung. Die Pervi-Nachrichtensprecherin erwähnte dann aber, dass die in diesem Jahr ebenfalls ausgezeichnete philippinische Journalistin Maria Ressa eine Zeit lang „das Korrespondentenbüro von CNN in Manila leitete“, womit auch die Person Muratow in ein ungünstiges Licht fiel.
Der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, äußerte sich wohlwollend zu der Preisverleihung an den russischen Journalisten. „Wir können Dmitri Muratow gratulieren. Er arbeitet folgerichtig gemäß seinen Idealen, er ist seinen Idealen treu. Er ist talentiert, er ist mutig. Das ist natürlich eine hohe Bewertung. Wir gratulieren ihm.“
Einen sarkastischen Unterton schlug die Chefredakteurin von RT, Margarita Simonjan, an. Sie twitterte, „ich weiß genau, dass Muratow persönlich aktiv und leidenschaftlich kranken Kindern hilft, und es wäre mir angenehm, zu denken, dass man ihm den Preis dafür gegeben hat und nicht wie üblich. Glückwunsch!“ Mit „wie üblich“ ist wohl gemeint, dass der Westen versucht, ihm nicht genehme Systeme durch Nobelpreisnominierungen von Oppositionellen unter Druck zu setzen.
Noch kritischer äußerte sich der scharfzüngige russische Fernsehmoderator Jewgeni Kiseljow. „Der Friedensnobelpreis ist eine der umstrittensten Ernennungen des Nobel-Komitees. Solche Entscheidungen entwerten den Preis, man kann sich nur noch schwer an ihm orientieren.“
US-Präsident Biden war dagegen voll des Lobes über die Entscheidung des Nobel-Komitees. „Ressa, Muratov und Journalisten wie sie auf der ganzen Welt stehen an vorderster Front im globalen Kampf für die Idee der Wahrheit.“
Welche Folgen hat der Preis für Journalisten in Russland?
Die ARD-Korrespondentin Ina Ruck behauptete, der Preis für Muratow sei „ein Signal für die Journalisten in Russland“. Offenbar hofft Frau Ruck, dass die russischen Behörden jetzt gegenüber Journalisten, die Geld aus dem Ausland bekommen oder sich mit aggressiven Tönen westlicher Politiker gegenüber Russland gemein machen, von nun an besser behandelt und nicht mehr als „ausländische Agenten“ bezeichnet werden. Aber auf westliche Methoden des Drucks und der Einflussnahme hat der Kreml unter Putin noch nie reagiert. Und es gibt keine Hinweise darauf, dass es nach dieser Preisverleihung nun anders wird.
Russland ist keine Diktatur, auch gibt es zahlreiche oppositionelle Zeitungen und YouTube-Kanäle sowie einen von Gasprom finanzierten kritischen Radio-Sender „Echo Moskau“ und den oppositionellen TV-Kabelkanal „Doschd“.
Allerdings hat in den letzten Jahren der Druck auf kritische Journalisten zugenommen. Die Zerschlagung der Oppositions-Strukturen von Aleksej Navalny und die zunehmende Zahl russischer Journalisten, die von den Behörden als „ausländische Agenten“ (begründet wird das mit Geldbezug aus dem Ausland) bezeichnet wurden, rütteln am offenen Meinungsaustausch. Es ist nun eher möglich, in den Verdacht zu kommen, man sei „ausländischer Agent“. Und manch einer wird vorsichtiger bei dem, was er schreibt und sagt.
Der Westen interessiert sich nur für Hardcore-Liberale
Unter russischen Liberalen – zu denen Muratow zweifellos gehört – gibt es eine noch aus der Sowjetzeit herrührende Traditionslinie, den Kreml aller Abscheulichkeiten zu beschuldigen, über Menschenrechtsverletzungen im Westen aber zu schweigen oder diese kleinzureden. Diese Linie wird von einem großen Teil der deutschen Medien seit 2014 unterstützt.
Wer in Russland für soziale und Menschenrechte eintritt oder linke Positionen vertritt, wird von den Politikern der deutschen Regierungsparteien und den großen deutschen Medien nicht beachtet (Was die Bundesregierung zu Repressionen gegen russische Linke sagt.) Kritische Russen, die nicht ständig betonen, dass Putin ein Verbrecher und an allen Übeln im Land schuld ist, werden von den großen deutschen Medien nicht zur Kenntnis genommen oder belächelt.
Millionen Russen, die Putin wählten, weil sie einfach keine Alternative sehen, werden so zu einer unkenntlichen Masse gemacht, die angeblich „manipuliert“ und „von Putins Polizisten verängstigt sind“.
Einseitiger Blick auf Tschetschenien
Die Novaja Gaseta sieht sich als Speerspitze der Demokratie. Sie veröffentlicht zweimal wöchentlich Reportagen und Enthüllungen über korrupte Staatsbeamte und Machtüberschreitungen in russischen Gefängnissen und sonstigen staatlichen Institutionen. Das sind sicherlich wichtige Artikel. Es gibt aber auch andere Zeitungen, die solche Artikel bringen.
Die Nowaja Gaseta wurde 1993 von Journalisten gegründet, die zuvor für die regierungsnahe „Komsomolskaja Prawda“ arbeiteten. Michail Gorbatschow finanzierte von den Mitteln seines Nobelpreises die ersten acht Computer für die Nowaja Gaseta.
Ein Schwerpunkt-Thema der Nowaja Gaseta war immer Tschetschenien. Zwei Tschetschenien-Reporter der Nowaja Gaseta – Anna Politkowskaja und Natalja Estemirowa – wurden von Unbekannten ermordet. Diese Taten sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Wie sehr man sich im Westen für Tschetschenien interessierte, bekam ich persönlich zu erfahren. Anfang der 2000er Jahre sprach mich nach einer Veranstaltung in der Deutschen Botschaft der Menschenrechtsbeauftragte der CDU freundlich an und zeigte sich interessiert an meinen Kriegs-Reportagen aus Tschetschenien.
Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Von Bundestagsabgeordneten war ich bis dahin nie angesprochen worden. Warum gerade im Fall Tschetschenien? Der Menschenrechtsbeauftragte von der CDU wollte sich wieder mit mir in Verbindung setzen, aber ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.
Das stille Kalkül
Dass arabische Extremisten in den russischen Teilrepubliken Tschetschenien und Dagestan auftauchten, war für deutsche Medien kein großes Thema. Dass Russland in den 1990er Jahren ein sehr schwacher Staat war, der vom Zerfall bedroht wurde, sahen viele westliche Politiker mit heimlichem Wohlgefallen. Ein schwaches Russland lässt sich wirtschaftlich besser ausbeuten als ein starkes, so offenbar das stille Kalkül.
Die deutschen Medien machten aus Anna Politkowskaja, die aus Tschetschenien über Kriegsgräuel russischer Soldaten und Folter russlandfreundlicher Tschetschenen berichtete, eine Heldin.
Auch ich berichtete als Korrespondent über Kriegsgräuel russischer Soldaten, die bei Säuberungsaktionen in tschetschenischen Dörfern Unschuldige erschossen oder mitnahmen. Ich berichtete aber auch über Kriegsgräuel von Tschetschenen, die jungen russischen Soldaten schon mal die Köpfe abschnitten.
Ich hatte die stille Hoffnung, Russland würde mit dem tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow doch noch verhandeln, so wie Boris Jelzin es 1997 getan hatte. Aber je länger der Tschetschenien-Krieg dauerte, desto unpopulärer und unrealistischer wurden solche Verhandlungen in der russischen Bevölkerung.
Nachdem Tschetschenen – aus Protest gegen die Bombardierung von tschetschenischen Dörfern – ein russisches Krankenhaus besetzt hatten, radikale Tschetschenen in Moskauer U-Bahn-Stationen Bomben zündeten und ein Musical-Theater besetzten, sank das Verständnis für die Forderungen der Tschetschenen auf fast Null.
Verhandeln mit Separatisten wäre nach Meinung von Wladimir Putin und maßgeblichen russischen Politikern und Militärs ein Einknicken vor Separatisten gewesen. Doch nicht nur das: In der damaligen chaotischen Zeit um die Jahrtausendwende hätte ein Nachgeben gegenüber tschetschenischen Separatisten und Terroristen Auflösungstendenzen in Russland gefördert, meinte man im Kreml. Da ist wohl Wahres dran.
Tschetschenien-Krieg als Ablenkungsmanöver für anti-sozialen Raubzug
Bis heute sehe ich in dem Krieg in Tschetschenien, den ich als Reporter über viele Jahre aus eigenem Erleben kenne, eine große Tragödie, die sich mit einer klugen Politik des Kremls hätte verhindern lassen. Und ich neige zu der Auffassung, dass der erste Tschetschenienkrieg 1994 von der damals westlich orientierten Kreml-Führung fahrlässig herbeigeführt wurde. Dieser Krieg, der nicht nur zehntausende Tschetschenen das Leben kostete, sondern auch das Leben tausender russischer Soldaten, war für die in den 1990er Jahren im Kreml den Ton angebenden westlich orientierten Liberalen und die russischen Oligarchen, die auf oft krummen Wegen zu Reichtum gekommen waren, ein optimales Ablenkungs-Thema von der sozialen Katastrophe in Russland.
Zu den größten Sorgen der russischen Mütter kam nach den Betriebsschließungen und ausbleibenden Lohn- und Rentenzahlungen in den 1990ern nun die Angst, dass der eigene Sohn zum Einsatz nach Tschetschenien geschickt wird. So kam es, dass in der russischen Bevölkerung in den 1990er Jahren nicht die Oligarchen als böse Buben galten, sondern die Tschetschenen, die russische Soldaten töteten.
Gespräch mit Anna Politkowskaja
Im Juli 2003 interviewte ich Anna Politkowskaja, die für die Nowaja Gaseta viele Reportagen aus Tschetschenien schrieb. Sie war radikal in ihren Ansichten. Dass sich Tschetscheninnen aus Rache an brutalen Säuberungsaktionen russischer Soldaten in U-Bahn-Stationen in die Luft sprengen, sei die Folge eines gnadenlosen Krieges des russischen Militärs, erklärte Politkowskaja. Dem Westen warf sie „doppelte Standards“ vor, weil er die Meinung, „in Tschetschenien findet ein Völkermord statt“, nicht teile. Politkowskaja sagte mir damals ins Mikrofon: „In Europa will man sich mit Putin nicht zerstreiten. Putin ist zweifellos Organisator des Genozids.“
Ich frage mich, was Politkowskaja heute sagen würde, wo der Krieg in Tschetschenien lange zu Ende ist, die zerstörte tschetschenische Hauptstadt Grosny wieder aufgebaut und Putin immer noch an der Macht ist.
War der Traum von der tschetschenischen Unabhängigkeit, der von Politkowskaja unterstützt und in den westlichen Medien in den 1990er und 2000er Jahren auf allen Kanälen bejubelt wurde, nicht völlig unrealistisch? Hätten Journalisten nicht mehr Zurückhaltung üben müssen, anstatt den Unabhängigkeitskämpf der Tschetschenen indirekt zu befeuern? Auch stellt sich die Frage, warum haben die russischen Liberalen den tschetschenischen Traum von der Unabhängigkeit propagandistisch unterstützt? Weil ihnen Russland zu mächtig war?
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