Die ärmsten Schweine in der Corona-Krise sind die Studierenden. Eineinhalb Jahre im Homeoffice verschanzt – ohne Kontakte, ohne Party, ohne Geld, dafür mit Depressionen – ist ihr Schicksal in der Öffentlichkeit bis heute ein großer blinder Fleck. Aber bald wird alles „besser“: Im Wintersemester wollen die Hochschulen großflächig zum Präsenzbetrieb zurückkehren. Allerdings ist des Geimpften Freud des „Impfmuffels“ Leid. Wer den Pieks mit experimentellen Vakzinen verweigert und Tausende Euro extra für Schnelltests scheut, muss leider draußen bleiben. Und auf digitale Distanzlehre darf er auch nicht mehr hoffen. Das ist ganz offizielle Linie und fast alle zeigen sich linientreu – sogar Studentenvertreter. Wo das alles noch hinführen soll, fragt sich Ralf Wurzbacher.
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Nach welcher Gruppe kräht in der Pandemie kein Hahn? Antwort: die Studierenden. In nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen ist inzwischen wenigstens ein Stück weit Normalität zurückgekehrt. Die Menschen gehen zur Arbeit. Kneipen, Cafés und Restaurants bewirten Gäste, Theater und Kinos haben wieder geöffnet, im Sommer konnte man sich sogar im Freibad vergnügen. Aber eben nicht überall hat sich ein halbwegs freies Leben Bahn gebrochen. Ein kleines, von Unbeugsamen bevölkertes Dorf im Herzen der Republik widerstand bisher wacker allen Reizen, den rigiden Krisenmodus zu verlassen. Die Frage muss gestellt werden: Warum eigentlich stecken die Hochschulen praktisch noch immer im Lockdown fest, wo sich alle und alles drumherum locker gemacht haben?
Seit eineinhalb Jahren läuft hierzulande an Universitäten, Fach-, Musik- und Kunsthochschulen praktisch nichts, was wie ein reguläres Studium anmuten würde. Statt dessen haben knapp 2,9 Millionen Studierende drei volle Semester aus der Distanz in den Knochen, übers Internet von zu Hause aus, ohne physischen Kontakt zu Dozenten und Kommilitonen. Mithin Zehntausende haben ihre Alma Mater noch nie von innen gesehen. Man muss sich das vorstellen: Da versauern junge Menschen 18 Monate lang in ihren vier Wänden, wo sie sich doch eigentlich aufmachen wollten, die große, weite Welt zu erobern. Stand die Studentenzeit nicht einmal für Aufbruch, für eine Lebensphase voller Spannung, neuer Eindrücke, Erfahrungen und Abenteuer? Man lässt das Elternhaus hinter sich, steht auf eigenen Beinen, findet Freunde, feiert Partys, geht jobben und regelt nebenbei auch noch sein Studium. Und was erleben die Studis heute: Angst, Ungewissheit, Stress, Tristesse!
Studenten ohne Lobby
Aber warum quält man sie so? Warum sperrt man sie aus? Was ist so anders an einer Uni, verglichen mit einer Schule? Auch dort sitzen Menschen in Sälen zusammen und interagieren mit einer Lehrkraft. Und anders als ABC-Schützen tollen Volljährige nicht dicht an dicht auf dem Pausenhof herum. Auch die Schulen hat man viel zu lange wider jede wissenschaftliche Evidenz, gegen jede Vernunft und zum Preis noch nicht absehbarer psychologischer, sozialer und ökonomischer Folgeschäden dichtgemacht. Aber immerhin ist die Politik irgendwann von dem ganz irren Irrweg abgekommen und hat wieder Präsenzunterricht ermöglicht – wenngleich weiterhin mit Zumutungen wie Maskenpflicht und Testeritis. Studenten zwingt man dagegen bis heute das volle Programm an Zumutungen auf und dies, ohne auch nur eine schlüssige Begründung dafür zu liefern.
Keine Frage: Studierende haben keine Lobby. Sie erwirtschaften erst einmal nichts, (außer vielleicht als Kellner in der Kneipe, aber die war ja auch Ewigkeiten zu). Sie liegen dem Staat auf der Tasche und manchmal (das jedoch ist lange her) machen sie auch Rabatz – wegen Studiengebühren, Bildungsdiebstahl oder verkorksten Studienreformen. Während in Sachen Schulschließungen zumindest von der organisierten Elternschaft (nicht von den Lehrern) Widerspruch kam, haben Studenten praktisch keine Fürsprecher, die sich öffentlich Gehör verschaffen könnten. Und weil sie als Leidtragende durchökonomisierter Studienbedingungen im Zeichen von Bachelor und Master mit Credit-Point-System, ständigen Prüfungen und strikten Zeitvorgaben in ihrer Lernen-und-Leisten-Tretmühle gefangen sind, geht den meisten das Politische auch ziemlich ab. Und so sitzen sie seit Monaten vereinsamt und gelähmt durch die penetrante Angstpropaganda in ihrer Bude und beten, dass die Zeiten wieder besser werden mögen.
Digitalisierung im Schweinsgalopp
Den Regierenden tun sie damit einen Riesengefallen. Für sie bedeuten verrammelte Unis eine Baustelle weniger bei ihrer vorgeblichen Corona-Bekämpfungsmission. Fast drei Millionen Hochschüler sitzen brav zu Hause und bieten dem Virus keine Angriffsfläche. Danke, sagt Jens Spahn (CDU): Und wenn es euch eure Zukunft kostet, habt ihr der Welt doch einen Dienst erwiesen. Aber es kommt noch „besser“: Die forcierte Digitalisierung noch jeder Nische des privaten, beruflichen und öffentlichen Lebens fand in den (geschlossenen) Hochschulen ein gewaltiges Einfallstor. Das, was in puncto E-Learning und Home-Studying in den zurückliegenden eineinhalb Jahren an (und außerhalb) Deutschlands höchsten Bildungsanstalten vorangebracht wurde, hätte ohne Corona noch etliche Jahre gedauert.
Und das Ganze ist für den Staat auch noch billig zu haben: Ein Student nutzt den eigenen Laptop, klinkt sich auf eigene Kosten in die Zoom-Konferenz ein, druckt den Lernstoff mit dem eigenen Drucker aus, selbst für die Klausuren bleibt er auf Distanz. Wozu braucht es da noch Hörsäle, Mensen, Studentenwerke? Pläne, die Präsenzuni mittel- oder langfristig zugunsten einer Fernuni eher als Auslaufmodell zu behandeln, gibt es etwa von neoliberalen Bildungsplanern wie der Bertelsmann Stiftung. Der Bertelsmann-Konzern ist schon jetzt einer der weltweit führenden Anbieter von E-Learning-Lösungen. Das Virus kam da nicht ganz ungelegen.
Neue Formen der Auslese
Und die Betroffenen? Die müssen irgendwie klarkommen, sind ja schließlich erwachsen. Diversen Studien zufolge ist der Anteil psychisch geschädigter Studierender seit Beginn der Pandemie massiv in die Höhe geschnellt. Viele leiden unter der Quasigefangenschaft im Homeoffice, sie vermissen den direkten Austausch mit Kommilitonen und Lehrenden, fühlen sich überfordert von den Zumutungen des digitalen Lehrbetriebs, sorgen sich, ihr Studium nicht gemäß Vorgaben abzuschließen, oder leiden allgemein unter Zukunftsängsten. Die Psychotherapeutin und Traumaexpertin Alina Wilms äußerte zuletzt im „Focus“-Interview:
„Die Dunkelziffer depressiver Studierender ist wohl viel höher als gedacht. Wer nicht die Kraft hat, sich proaktiv um einen Therapietermin zu bemühen oder sozial gut eingebettet ist, endet nicht selten in einer dunklen Studentenbude mit dunklen Gedanken, die um eine düstere Zukunft und teufelskreisartige Hoffnungslosigkeit zirkulieren.“
Wie in der Gesamtgesellschaft fürchtet Wilms auch innerhalb der Studierendenschaft eine weiter verschärfte soziale Spaltung „im Darwinistischen Sinne (…) einer natürlichen Selektion beziehungsweise Auslese derer mit der resilientesten, also widerstandsfähigsten Persönlichkeit“. Diesen „akademischen Gewinnern der Krise“ stünden die gegenüber, die die psychischen Belastungen mit ihren Ressourcen oft nicht mehr kompensieren könnten, sie „brechen ihr Studium ab oder schließen irgendwann mit biographischen Zickzackverläufen ab“.
Halbherzige „Überbrückungshilfen“
Erschwerend hinzu kommen vielfach finanzielle Nöte, weil im Lockdown massenhaft Studentenjobs monatelang weggebrochen waren, weil Eltern, die in der Krise arbeitslos wurden oder in Kurzarbeit gehen mussten, ihre Zuwendungen gekürzt oder gestrichen haben. Die Bundesregierung hat hier bestenfalls halbherzig Beistand geleistet. Die nach einer langen Hängepartie bewilligten „Überbrückungshilfen“ erreichten nur einen kleinen Kreis an Bedürftigen und waren mit maximal 500 Euro monatlich sehr knapp bemessen. Dafür legte das Studiendarlehen der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ein fulminantes Comeback hin. Krisenbedingt gab es im Vorjahr 40.000 Neuabschlüsse mehr als 2019. Das Angebot hatte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) für ein Jahr zinsfrei gestellt, wobei die Offerte noch vor den Überbrückungshilfen griff. Absehbar werden künftig Tausende mehr junger Menschen in der Schuldenfalle landen.
Karliczek macht bei all dem gute Mine zum bösen Spiel. Dass in der Pandemie massenhaft Studierende die Flinte ins Korn werfen, stellt sie in Abrede und beruft sich auf eine nicht ganz taufrische Erhebung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). In der heißt es, „dass Studierende im Sommersemester 2020 nicht häufiger über einen Studienabbruch nachdachten als in den letzten Jahren“. Belastbare Zahlen dazu, wie viele ihr Studium aus Frust, Überforderung oder Geldnot bisher aufgegeben haben oder noch schmeißen könnten, liegen bislang nicht vor. Klarheit dürfte die Vorlage der Studierendenzahlen für das kommende Wintersemester durch das Statistische Bundesamt im Spätherbst geben. Erinnert sei daran, dass insbesondere konservativen Kreisen der Run auf die Hochschulen der vergangenen 20 Jahre arg missfällt und sie gerne die Rede vom „Akademisierungswahn“ (Julian Nida-Rümelin) schwingen. Auch ihnen wird Corona ziemlich sicher „Erleichterung“ verschaffen.
Zurück zum Präsenzbetrieb?
Vielleicht auch deshalb hielt sich Karliczeks Engagement, die Hochschulen wieder aufzumachen, bislang in engen Grenzen. Oder geriet zur Lachnummer: Ende März 2021 hatte sie sich nach langer Sendepause öffentlich vernehmbar zum Thema eingelassen – mit der Forderung nach Öffnungskonzepten. Hallo! Gehörte das nicht in ihre Zuständigkeit? Denn tatsächlich werden die Unirektorate auch gar nicht von lauter Galliern besetzt gehalten, die sich in ihrer Trutzburg gegen das Virus verschanzen würden. Bereits im Frühjahr hatten die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und der Deutsche Hochschulverband (DHV) in einer gemeinsamen Stellungnahme „koordinierte Ausstiegsszenarien“ für die Wissenschaft angemahnt. Die Hochschulen bräuchten „dringend eine Perspektive“ und Bund und Länder dürften sie bei ihren künftigen Vereinbarungen „nicht ignorieren“. Das taten sie dann auch ausnahmsweise einmal nicht, als es um die Regularien der im April beschlossenen sogenannten Bundesnotbremse ging. Die erhob eine 165er-Inzidenz zum Ausschlusskriterium für alle Formen von Präsenzlehre, wodurch die mancherorts bewahrten Rudimente an analogem Hochschulbetrieb gleich wieder mit Verbot belegt wurden.
Aber jetzt wird ja alles gut – sollte man meinen. Nachdem es noch Anfang Juli hieß, dass lediglich acht Prozent der deutschen Hochschulen im anstehenden vierten Corona-Semester eine weitgehende Rückkehr zum Normalbetrieb anpeilten, hat sich der Wind mittlerweile gedreht. Jetzt gibt es aus praktisch allen Bundesländern Signale, ab Oktober möglichst viel Präsenzlehre zu ermöglichen – zum Beispiel aus Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Und auch die Kultusministerkonferenz (KMK) findet:
„Präsenzbetrieb ist das Gebot der Stunde.“
Aber nur für Geimpfte …
Natürlich hat die Sache einen Haken: Zutritt zum Campus werden nur Geimpfte, Genesene und Getestete nach den Vorgaben der 3G-Regel erhalten. Zwar ist die Impfneigung unter Studierenden dem Vernehmen nach hoch. Die Frage ist bloß, ob und inwieweit dies einer freien Entscheidung entspringt. Tatsächlich haben davor schon etliche Hochschulen oder mithin einzelne Professoren die Teilnahme an den wenigen Präsenzveranstaltungen oder an Prüfungen an eine erfolgte Vakzinierung geknüpft. Mit welchem Recht eigentlich? Nun wird der Pieks in den Oberarm praktisch zum offiziellen und bald vielleicht einzigen Einlassticket. Denn kostenlose Schnelltests sollen, wie demnächst auch für den ungeimpften Rest der Bevölkerung, für Studierende nicht länger bereitgestellt werden, wie die HRK vor einem Monat klarstellte.
Auch in den derzeit verschickten Informationsschreiben der Hochschulen an ihre Studenten schreit der Impfzwang förmlich zwischen den Zeilen heraus. Das Onlineportal Multipolar zitierte die Hochschule Darmstadt:
„Sie haben es in der Hand! Lassen Sie sich impfen, dann sind Sie weitestgehend vor Covid-19 geschützt, müssen sich nicht mehr testen lassen, haben ungehinderten Zutritt zur Hochschule und sparen am Ende Geld (…).“
Wer kann und will sich dem widersetzen, wenn bei Nichtbefolgung Trauma-Semester Nr. 4 blüht und die Distanzlehre nur mehr zur Resterampe für „Impfmuffel“ gerät oder mithin ganz wegfällt. Und wer hat das Geld, sich alle 24 Stunden auf „Uni-Tauglichkeit“ zu testen? Medienberichten zufolge könnte ein Antigentest bald zwischen 18 und 40 Euro kosten.
Schweigen im Walde
Das deutsche Hochschulsystem ist ohnehin weltweit „führend“, wenn es um die soziale Selektivität, also die Besserstellung von Kindern aus begüterten und die Benachteiligung jener aus ärmeren Elternhäusern geht. Wohin soll es erst führen, wenn neuerdings als Ausschlusskriterium eine Impfung dazukommt, zumal zum „Schutz“ vor einer Krankheit, die für Menschen zwischen 20 und 30 Jahren keine ernsthafte Gefahr darstellt? Dazu mit Impfstoffen, die im Vorfeld nur unzureichend erprobt und auf Basis einer unzulänglichen Datenlage entwickelt wurden, deren Anwendung zu einer nie dagewesenen Zahl (absolut wie relativ) an Meldungen zu möglichen Impfschäden und -toten geführt hat (etwa hier oder hier oder hier) und von denen niemand weiß, welche Langzeitfolgen sie zeitigen.
Wo bleibt der Aufschrei der Bildungspolitiker, die eigentlich wissen müssten, dass Bildung ein verbrieftes elementares Menschenrecht ist? Wollen sie tatenlos mit ansehen, wie diesem mit einem Nadelstich die Luft abgelassen wird? Wo bleibt der Aufschrei von Bildungsverbänden und Gewerkschaften? Haben diese nicht schon viel zu lange alles mitgetragen, was im Namen der Corona-Bekämpfung an Normen, Werten und Freiheiten kassiert, an Grundfesten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit demontiert wurde?
3G, 2G, 1G
Aber selbst Studentenvertreter gehen diesen Kurs mit – und setzen sogar noch einen drauf. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) ließ Jonathan Dreusch, Vorstandsmitglied beim „freien zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs) zu Wort kommen: „Unsere aktuelle Position ist es, dass Präsenzveranstaltungen nur für Geimpfte, Genesene und Personen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können, angeboten werden sollten.“ Wer sich nicht impfen lassen wolle, gefährde seine Mitstudierenden. Das heißt also: 2G statt 3G.
Immerhin einen Rest an Solidarität bewahrt man sich beim bundesweiten studentischen Dachverband: Schnelltests sollten weiterhin gratis sein, auch Geimpfte regelmäßig getestet und ein „eingeschränktes Onlineangebot“ aufrechterhalten werden, so Dreusch. Das wird wohl nichts, widersprach prompt HRK-Präsident Peter-André Alt. „Für Studierende, denen es nicht möglich ist, an Präsenzveranstaltungen teilzunehmen, können die Hochschulen keine zusätzliche digitale Lehre anbieten.“ Deshalb werden es freiwillig Ungeimpfte seiner Einschätzung nach in näherer Zukunft schwer haben, in Deutschland zu studieren. Ende der Durchsage.
Die Medizinischen Universitäten in Innsbruck und Wien haben verstanden. Dort tritt schon zum Wintersemester die 1G-Regel in Kraft. Nur noch vollständig Geimpfte dürfen studieren, wobei dies fürs Erste nur für Studienanfänger gilt. Innovativ ist auch die Johannes Kepler Universität Linz. Dort bereitet das Rektorat die Einführung von „farbigen Kontrollbändern“ zur Markierung der 3G-Schützlinge vor. Dadurch könne der Check bei Lehrveranstaltungen und Prüfungen schneller erfolgen. Kommen da irgendwem düstere Erinnerungen in den Sinn? Ach was: Alles ganz normal.
Titelbild: diy13 / Shutterstock