Als mir ein Freund erzählte, dass er nach 22 Uhr auf einer Parkbank saß und dort sitzen blieb, als sich mehrere Polizeibeamte vor ihm aufbauten, und für den Verstoß von Corona-Verordnungen ein Bußgeld von 200 Euro als Quittung bekam, packte mich erst große Wut und dann auch ganz viel Ohnmacht. Was soll der Wahnsinn? Hat das irgendeinen Sinn? Oder liegt zum Teil gerade in der Sinnlosigkeit die Macht der ständig wechselnden Verordnungen und Maßregelungen? Auf der Suche nach Erklärungen habe ich den Philosophen, Historiker, Soziologen und Psychologen Michel Foucault ausgegraben, der in den 1970er Jahren zu Disziplinarmächten und Disziplinargesellschaften geforscht und geschrieben hatte … und war erstaunt und erschrocken zugleich, wie aktuell sein „Werk“ ist. Für einen Freund, der auch für mich auf der Bank sitzen blieb. Von Wolf Wetzel.
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Manchmal muss man es vorsichtshalber dazusagen. Der Bußgeldbescheid über 200 Euro ist echt. Nur die Zwei auf der Bank passen sich dem Irrsinn an.
Vielen fällt der Irrsinn dieser Maßnahme gar nicht mehr auf. Viele fahren auch mit Maske im Auto, in dem sie ganz alleine sitzen oder zucken zusammen, wenn ich Menschen auf der Bank ganz ernst ermahne, dass sie dort zu lange sitzen und ich dieses eine Mal ein Auge zudrücke.
Dieser Irrsinn fällt einem dann nur noch auf, wenn man beharrlich und unbelehrbar im Kontext denkt, also es sich nicht nehmen lässt, Maßnahmen zu hinterfragen.
Halten wir fest:
Mein Freund sitzt also mit einem Mann zusammen auf einer Bank im Freien – kurz nach 22 Uhr. Sie haben damit gegen die Corona-Maßnahmen verstoßen, weil sie damit sich und andere gefährdet haben.
Wenn die beiden acht Stunden später in die volle U-Bahn steigen, zur Arbeit, wo sie dort mit ganz vielen Menschen im geschlossenen Räumen mehr als acht Stunden verbringen, dann … ist die Welt in Ordnung!
Denn gerade dort, wo die Infektionsgefahr tatsächlich am größten ist, existieren keine Corona-Maßnahmen. Dort ist alles freiwillig, für die Unternehmer. Das nennt man dann Eigenverantwortung, die man bei Unternehmern in den Himmel lobt und die meinen Freund 200 Euro kosten.
Ein weiterer Freund war mit seiner Familie ein paar Tage in Prag unterwegs. Er brachte mir folgende Begegnung der dritten Art mit:
Der Fahrkartenkontrolleur kommt. Wir ziehen uns schnell die OP-Maske auf.
Der Kontrolleur:
„Wissen Sie nicht, dass in Bayern FFP2-Maskenpflicht herrscht? Sie können mir nicht erzählen, dass Sie davon noch nichts gehört haben.“
Ich wies den Kontrolleur schüchtern darauf hin, dass er ebenfalls eine OP-Maske trägt.
Der Kontrolleur:
„Wir dürfen keine FFP2-Masken tragen, aus Arbeitsschutzgründen. Die Fahrgäste sind jedoch verpflichtet, eine solche zu tragen.“
Ich wieder schüchtern: „Muss ich das jetzt verstehen?“
Der Kontrolleur (gnädig):
„Nein, das müssen Sie nicht (danach ungnädig): Ich kann auch die Polizei einschalten. Das kostet sie 200 € pro Person.“
Das ereignete sich im Schnellzug von Prag nach Regensburg, kurz nach der bayerischen Grenze, anno August 2021.
Wenn das Recht nicht mehr ausreicht
Michel Foucault, ein interdisziplinäres Genie, fiel für uns in den 1970er Jahren wie ein Stern vom Himmel. Er hatte sehr intensiv über Machtverhältnisse geforscht, insbesondere über das Gefängnissystem, über die Disziplinarmächte, die dort wirken. Eines seiner wichtigsten und eindrucksvollsten Bücher trägt den Titel: Überwachen und Strafen. Für uns, die im „Deutschen Herbst“ (1976/77) die ersten politischen Schritte machten, war seine Arbeit, seine Denkweise eine ungeheure Bereicherung.
In seinen Arbeiten findet man unter anderem die Erkenntnis, dass nicht die Anordnungen, die irgendwie Sinn machen, einen Menschen brechen, sondern die völlig sinnlosen, die man befolgen muss, wenn man nochmal im Leben „rauskommen“ will.
Zu einem gelungenen und erfolgreichen Gefängnissystem gehört auch, dass nicht die Wärter und Aufseher für die Befolgung von Anordnungen sorgen, sondern die Mithäftlinge, die auf den Abweichler gewaltig Druck ausüben, weil sie ansonsten mitbestraft werden.
Dass die Disziplinarmacht vor allem dann ihre Wirkung entfaltet, wenn sie nicht als Repression erscheint bzw. wahrgenommen wird, hat Michel Foucault in seinem Buch „Analytik der Macht“ 2005 festgehalten:
„Ein Staat, der Sicherheit schlechthin garantiert, muss immer dann eingreifen, wenn der normale Gang des alltäglichen Lebens durch ein außergewöhnliches, einzigartiges Ereignis unterbrochen wird. Dann reicht das Recht nicht mehr aus. Dann sind Eingriffe erforderlich, die trotz ihres außerordentlichen, außergesetzlichen Charakters dennoch nicht als Willkür oder Machtmissbrauch erscheinen dürfen, sondern als Ausdruck von Fürsorge.“ (Foucault 2005, 139f.)
Michel Foucault kam auch zu der Schlussfolgerung, dass das Disziplinarsystem nicht auf das Gefängnis oder die Psychiatrie beschränkt ist. Wir „draußen“ dürfen uns also durchaus angesprochen fühlen. Um die „Fürsorge“ zu begreifen, die uns heute zuteil wird, braucht es also keinen neuen Erkenntnisschub.
Es ist allerhöchste Zeit zur Demaskierung (auch ohne Maske)
Dauerhafte Angst, ständig geänderte Erklärungen und Maßnahmen greifen nicht nur die psychische Gesundheit an, sie machen auch schwindelig, orientierungslos und apathisch.
Mittlerweile sind fast alle durch.
Man kann das Wort Corona nicht mehr hören, man kann und will nicht mehr darüber reden. Entweder hat man sich schon zerstritten oder will es vermeiden und schweigt das Thema aus. Auch das hat epidemische Auswirkungen, wie bei einer Phobie. Man vermeidet bereits alles, was dort hinführen, dort enden könnte. Das innere Gefängnis wird immer größer – um sich selbst zu schützen.
Zu dem Aushalten gehört ganz zentral das Aufhören, in Zusammenhängen zu denken, auf Widersprüche zu achten. Man stumpft ab, man nimmt es hin, meistens mit einer Erklärung, die nur noch das eigene Mittun rechtfertigt.
Der gut dosierte Einsatz von „Furchtappellen“ und „Verlust-Frames“
Zuerst dachte ich an eine gut gemachte Satire, als ich von diesen Wortschöpfungen gelesen hatte. Dann sackte ich innerlich zusammen. Fast alles, was offiziell geleugnet und denunziert wird, findet sich wissenschaftlich aufgearbeitet und neu geframed … bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA):
“Die Bedeutung der Risikowahrnehmung für das Schutzverhalten (siehe Kapitel 3.3) und die generellen Befunde zur Wirkung von Furchtappellen und Verlust-Frames bei jungen Zielgruppen (siehe Kapitel 4.2) legen es nahe, dass dies geeignete Appellformen sind, um die Zielgruppe im Kontext der Corona-Pandemie effektiv anzusprechen.
Allerdings bringen Furchtappelle die Gefahr mit sich, Boomerang-Effekte (z. B. Reaktanz) auszulösen, wenn die Bedrohung als hoch wahrgenommen wird, jedoch das eigene Selbstwirksamkeitsempfinden, dagegen etwas tun zu können, gering ausfällt.
Deshalb gilt es, Risikobotschaften (Furchtappelle, Verlust-Frames) mit sachlichen Informationen (Wissenssteigerung), positiven Botschaften und klaren Handlungsempfehlungen zu kombinieren, um so die wahrgenommene Bedrohung zu erhöhen und gleichzeitig die Selbstwirksamkeit zu steigern.”
Wenn man sich das auf der Zunge zergehen lässt, dann müsste doch eine Riesenwut hochkommen, auf welche Weise mit Furcht und Verlust gespielt wird, wie gezielt man sie einsetzt und wie bewusst man sich dabei ist, die Dosen nicht zu hoch zu verabreichen, damit es zu keinen „Boomerang-Effekten“ kommt.
Ein Teil der Linken ein Long-Covid-Fall?
Für eine Linke ist zentral, Zusammenhänge herzustellen, Behauptungen zu überprüfen und die allergrößten Zweifel anzumelden, wenn eine Regierung verkündet, dass es jetzt (plötzlich) darum gehe, dass wir alle zusammenstehen, um ganz gemeinsam die Krise zu bewältigen. Man muss wissen, man sollte wissen, dass diese Regierungen bisher alles getan haben, damit die ökonomischen und politischen Unterschiede und Gegensätze immer größer werden, die ganz plötzlich nicht mehr zählen.
Vielleicht fühlen sich (manche) Linke auch geschmeichelt, wenn sie das Gefühl haben, mit in einem Boot zu sitzen, und gar gelobt werden, wenn sie ihren Beitrag dazu leisten, die „QuerdenkerInnen“ zu denunzieren. Dass macht sie nicht unentbehrlich, sondern sehr bald überflüssig.
Halten jene Linke auch den Weltwirtschaftsforum-Boss Klaus Schwab für einen lausigen Querdenker?
Die Teile der Linken, die nur noch ihre Ruhe haben wollen und den Kapitalismus verteidigen, weil es noch schlimmere Kapitalismen gibt, wollen davon nichts (mehr) wissen. Aber vielleicht ist doch genau das, was Klaus Schwab ausspricht, genau das, wofür sich diese Linke de facto entschieden hat und was sie sich nicht vorhalten lassen will:
„Es ist unsere Aufgabe, den Stier bei den Hörnern zu packen. Die Pandemie gibt uns die Chance: Sie stellt eine seltene und eng befristete Gelegenheit dar, über unsere Welt nachzudenken, sie uns neu vorzustellen, und einen Neustart zu wagen.“
Was er damit meint, was ganz und gar nicht verhandelbar ist, hat er klar und unmissverständlich gesagt:
„Nein, der Kapitalismus ist nicht das Problem. Ich bin davon überzeugt, dass die unternehmerische Kraft jedes Einzelnen die Triebfeder für echten Fortschritt ist – und nicht der Staat. Aber diese individuelle Kraft muss in ein System von Regeln eingebettet werden, das ein Überborden in die eine oder andere Richtung verhindert. Diese Funktion muss ein starker Staat erfüllen. Der Markt löst allein keine Probleme. Ich plädiere nicht für eine Systemänderung. Ich plädiere für eine Systemverbesserung.“ (Der Neoliberalismus hat ausgedient, zeit.de vom 21. September 2020)
Ist es nicht diese stille Übereinstimmung, das sich Abfinden, mit dem was ist, weil es woanders noch schlimmer ist, was diesen Teil der Linken zu einem Long-Covid-Fall macht?
Was tun (mit und ohne Maske)?
Erstens:
„Es hat im Laufe der Geschichte immer wieder Perioden des Überwinterns gegeben. Man denke nur an die Ära Adenauer, und eben so eine Zeit scheint bevorzustehen. (…) Was ins Haus steht, ist eine harte, mühselige Maulwurfsarbeit (…) Es ist eine Arbeit, die man auf sich nimmt, ohne zu wissen, ob sie jemals zu einem guten Ende führt, eine Arbeit, deren Wert für die geschichtliche Perspektive im Ungewissen bleibt. (…) Die Illusionen sind zerstört, die Weltlage widersprüchlich, und da ist es gut, eine gewisse Vorsicht walten zu lassen.“ (Johannes Agnoli, Professor für Politologie an der Freien Universität Berlin, Vorlesung an der FU Berlin, Subversive Theorie 1989/90)
Zweitens: In Erinnerung an Max Horkheimer: Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch zu Corona schweigen.
Drittens: Wenn man den (Corona-)Ausnahmezustand als Verschwörungstheorie behandelt, hat man nicht scharf analysiert, sondern als Linke aufgegeben.
Viertens: Gehen wir zusammen für zwei Jahren auf Entzug und verzichten auf drei Schlagwerkzeuge: Verschwörungstheorie, Querfront, Antisemitismus.
Fünftens: Ersetzen wir diese durch eine Theorie, eine Praxis, durch eine Form der Kollektivität, die nicht separiert, sondern fasziniert.
Sechstens: Mischen wir uns ein. Lassen wir uns nicht ausspielen, lassen wir uns nicht isolieren. Kommen wir zusammen. Wir brauchen keine 2 G’s, keine 3 G’s, sondern ein W (für Widerstand). International können wir uns auch schnell auf ein R (für Resistance) einigen.
Siebtens: Wenn sogar der deutsche Ethikrat erklärt, dass es nach wie vor keine Impfpflicht in Deutschland gibt, weil man nur „Druck aufbaut, um es attraktiver zu machen, sich und andere zu schützen“ (FR vom 27. August 2021), dann dürfen wir uns auch dazu verpflichten – ohne Zwang auszuüben:
Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.
Quellen und Hinweise:
- Analytik der Macht, Michel Foucault, Frankfurt/Main 2005
- Überwachen und Strafen, Michel Foucault, Frankfurt/Main 1977
- Empfehlungen für Kommunikationsmaßnahmen gegen die Pandemiemüdigkeit bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Fachliche Expertise/ Mai 2021: bzga.de/forschung/studien/abgeschlossene-studien/studien-ab-1997/impfen-und-hygiene/empfehlungen-fuer-kommunikationsmassnahmen-gegen-die-pandemiemuedigkeit-bei-jugendlichen-und-jungen-erw/
- Subversive Theorie, Johannes Agnoli, Schmetterling Verlag 2014
- Wer den Corona-Ausnahmezustand einordnen möchte, dem sei unbedingt das Buch Transformation der Demokratie von Johannes Agnoli und Peter Brückner empfohlen. In diesem beschreiben sie bereits Ende der 1960er Jahre die schleichende Entdemokratisierung der politischen Ordnung, hin zu einem autoritären Staat.