Haben Sie schon mal vom „psychologischen Schatten“ gehört? Das ist ein Begriff, den der Psychoanalytiker C. G. Jung geprägt hat. Darunter sind all die Eigenschaften zu verstehen, die ein Mensch an sich selbst nicht wahrhaben will und verdrängt und verleugnet. Das klassische Musterbeispiel: Der Moralapostel, der überall sexuelle Verkommenheit wittert und bekämpft – bei anderen wohlgemerkt. Auf diese Weise kann er sich unentwegt mit Sex beschäftigen, ohne Schuldgefühle zu bekommen. Unser Autor Udo Brandes hat sich Gedanken über den psychologischen Schatten in der Politik gemacht und warnt vor allzu guten Menschen.
In der Politik konnten wir in den letzten Wochen Zeuge sein, wie die Schattenseiten der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sichtbar wurden: Sie hatte Nebeneinnahmen nicht der Bundestagsverwaltung gemeldet, den Lebenslauf aufgehübscht, fürs eigene Buch abgeschrieben, ohne Quellen zu nennen, und möglicherweise auch noch zu Unrecht ein Promotions-Stipendium in Höhe von 41.000 Euro kassiert. Für die höchste Repräsentantin einer Partei, die allerhöchsten Wert auf politische Korrektheit legt und höchste moralische Ansprüche hat, ist dies doch ein bisschen viel Unkorrektheit. Aber dies allein hätte mich nicht sonderlich aufgeregt. Annalena Baerbock beweist nur einmal mehr, dass auch im so gerne moralisierenden linksliberalen Milieu der Satz von Bertolt Brecht gilt: Erst das Fressen, dann die Moral.
Wieso passiert einer Profipolitikerin so ein Lapsus?
Aufhorchen lassen hat mich etwas anderes: Nämlich als Annalena Baerbock in einem Interview, das sie gemeinsam mit Robert Habeck dem NDR gab, es nicht lassen konnte, ihren Partei- und Vorstandskollegen herabzusetzen. Dem Sinn nach sagte sie, „Ich komme aus dem Völkerrecht und Robert von Hühnern, Schweinen und Kühen.“ Mit anderen Worten: Ich komme aus der großen, weiten Welt, Robert aus der Provinz. Das war eine ganz bewusste Herabsetzung von Robert Habeck, und man konnte ihm deutlich ansehen, wie sehr er sich zusammenreißen musste, um die Contenance zu wahren. Wieso erlaubt sich eine Politikerin wie Annalena Baerbock so etwas? Wieso passiert ihr so ein unprofessioneller Lapsus, der ihr nur schaden kann? Meine Antwort: In diesem Moment wurde sie von ihrem psychologischen Schatten beherrscht. Einer Annalena Baerbock, die eitel und geltungssüchtig ist und die höhere Qualifikation ihres Konkurrenten nicht ertragen kann.
Denn egal, wie man zu den politischen Inhalten steht, für die Robert Habeck steht: Objektiv betrachtet ist er der wesentlich besser qualifizierte Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers als Annalena Baerbock. Er hat Philosophie studiert und sein Studium mit einem Doktortitel abgeschlossen. Er kann als professioneller Schriftsteller, der er vor seiner politischen Laufbahn war, Bücher schreiben, ohne zu plagiieren. Er ist der bessere Redner und Kommunikator. Er hat für die Grünen in Schleswig-Holstein erfolgreich Wahlkämpfe geführt. Und vor allem: Er war sieben Jahre lang Minister in seinem Bundesland – hat also Regierungserfahrung. Etwas, das Annalena Baerbock nicht vorweisen kann. Offensichtlich fühlte sich Annalena Baerbock ihrem Kollegen Habeck deshalb deutlich unterlegen und konnte ihren psychologischen Schatten nicht mehr unter Kontrolle halten.
Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und absoluten Wahrheiten
Warum ist das Thema „psychologischer Schatten“ von Bedeutung? Weil wir in einer Zeit leben, in der die Sehnsucht nach Eindeutigkeit überhand nimmt. Und parallel dazu die Unfähigkeit, Ambivalenzen und Spannungen auszuhalten. Also die Tatsache, dass nahezu nichts und niemand zu einhundert Prozent gut oder schlecht ist. Und dass es deshalb in Bezug auf einzelne Menschen oder gesellschaftliche und politische Fragen keine eindeutigen, absoluten Wahrheiten gibt. Immer mehr Menschen aber denken in absoluten Kategorien und wollen nur noch absolute Wahrheiten akzeptieren – und halten differenzierte Positionen und Meinungen nicht mehr aus.
Das drückt sich besonders in der Bewegung der Politisch Korrekten aus. Die Politisch Korrekten sind unter anderem glühende Anhänger von „Diversity“ (= Verschiedenheit). Mit dieser Begeisterung für „Diversity“ ist es aber schlagartig vorbei, sobald jemand sich als politisch andersdenkend outet. Wenn jemand zum Beispiel meint, dass Einwanderung nicht nur gut sei und begrenzt werden müsse, dann schlägt ihm aus politisch korrekten Kreisen mitunter sehr schnell eine extrem feindselige Aggression entgegen, die ganz und gar nicht zu der liberalen Fassade dieses Milieus passt. In solchen Fällen werden Andersdenkende dann ganz schnell als „rechtsoffen“ oder „Rassisten“ diffamiert und ausgegrenzt. Und je nach Thema kann man heute auch ganz schnell zum „Verschwörungstheoretiker“, „Querdenker“ oder – die höchste Form der moralischen Verurteilung – „Antisemiten“ abqualifiziert werden. Um solche Reaktionen zu ernten, muss man keineswegs ein Radikaler sein. Die Spitzenkandidatin der Berliner Grünen für die kommende Senatswahl, Bettina Jarasch, kann davon ein Lied singen. Sie musste sich auf einem Parteitag der Grünen umgehend einem Entschuldigungsritual unterziehen, weil sie auf eine Frage zu ihrer Biografie spontan geantwortet hatte, dass sie als Kind schon gerne Indianerhäuptling sein wollte. In grünen Kreisen darf man nämlich das Wort „Indianer“ nicht mehr benutzen. Das gilt dort als ganz böses Wort, das nur von ganz bösen Menschen benutzt wird.
Die Politisch Korrekten sind blind für ihre totalitären Verhaltensweisen
Was hat dies mit dem Thema „psychologischer Schatten“ zu tun? Die Anhänger der Politischen Korrektheit merken nicht, dass ihre Ideologie und ihre Verhaltensweisen totalitäre und antidemokratische Züge aufweisen. Psychologisch ausgedrückt: Ihr Verhalten zeugt von einem totalitären und antidemokratischen Schatten. Und genau wie der eingangs beschriebene, auf Sex fixierte Moralapostel seine eigenen sexuellen Phantasien nicht wahrhaben will, genauso verdrängen die Anhänger dieser Bewegung ihre autoritären, antidemokratischen und feindseligen Anteile – und projizieren sie umso vehementer auf andere Menschen. Im Denken der Politisch Korrekten gibt es keine anderen Meinungen und Standpunkte, die ihnen nicht gefallen und die sie mit guten Argumenten bekämpfen wollen. Sondern es gibt nur „gut“ und „böse“. Und wer anders denkt als sie, der ist böse. Die Synonyme dafür sind „rechtsoffen“, „rassistisch“, „rechts“ oder auch „Verschwörungstheoretiker“, „Querdenker“ usw.
Das ist eine große Gefahr für die Demokratie. Denn diese Ideologie und die damit zusammenhängende „Denunziationskultur“ breiten sich rasant in der Gesellschaft aus. Mit viel Pech kann ein falsches Wort heute schon den Job kosten. Mitunter wird auch ganz bewusst eine falsche Beschuldigung als politisches Instrument eingesetzt, um unliebsame politische Gegner aus dem Weg zu räumen. Dies ist gegenwärtig in Berlin bei der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ zu beobachten. Diese wurde von der Interventionistischen Linken gekapert. Der ursprüngliche Gründer der Initiative wurde von einer Frau beschuldigt, sie sexuell belästigt zu haben, was nach den derzeit bekannten Fakten vollkommen haltlos ist und eine bewusste Denunziation, um ihn aus dem Weg zu räumen (siehe dazu die Analyse von Rainer Balcerowiak auf den NachDenkSeiten und den Bericht des Tagesspiegels).
Das Definitionsmachtkonzept – mehr als ein exklusiver Spleen linker Sekten
Dahinter steckt, so Rainer Balcerowiak auf den NachDenkSeiten, das besonders von der Interventionistischen Linken vertretene Definitionsmachtkonzept (DefMa),
„das in Teilen der autonomen und radikalfeministischen Linken schon länger zum konstitutiven Selbstverständnis gehört. Demnach müssen behauptete sexuelle Übergriffe auch ohne jegliche Verifizierung als unhinterfragbare Tatsache eingestuft werden. Der vermeintliche Täter wird umgehend – also ohne Anhörung und Untersuchung des behaupteten Vorfalls – aus den jeweiligen Zusammenhängen entfernt. (…) Das Problem: Das ist längst kein Spleen mehr, den durchgeknallte linke Sekten exklusiv haben: DefMa und verwandte Konstrukte sind in jüngeren, akademischen Milieus inzwischen teilweise hegemonial, sie fressen sich von den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten durch die Jugendorganisationen der „linken“ Parteien, durch NGOs, Stiftungen, Gewerkschaften, Verbände und Initiativen.“
Wenn sich dieser Trend in der Gesellschaft fortsetzt, und dem nicht bewusst entgegengewirkt wird, dann landen wir bald in einer Art smarten Faschismus, in dem politische Gegner zwar nicht gleich umgebracht, aber sozial vernichtet werden. Und das wäre das Ende der Demokratie. Denn Demokratie kann nur funktionieren, wenn auch wirklich offen diskutiert werden kann und man nicht Angst davor haben muss, seine Meinung zu äußern.
Der Rat des Psychologen Alfred Adler
Was für Schlussfolgerungen sollte man daraus ziehen? Ich persönlich bin inzwischen allergisch in Bezug auf Moralapostel und Gutmenschen, die angeblich nur im Interesse der hehresten moralischen Werte handeln. Die betont guten Menschen und Moralapostel sind nach meiner Erfahrung nämlich gar nicht so selten ausgesprochene Machtmenschen mit gar nicht so schönen Charaktereigenschaften.
Das ist übrigens auch wichtig in der ganz großen Politik, wo gerne – wie beim Krieg in Afghanistan – massive Aggression mit hehren Werten wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechten begründet wird. Auch hier haben wir es mit einem verdrängten Schatten zu tun: Die anderen sind die Bösen, und wir, in diesem Fall der Westen, sind die Guten. Fakt aber ist: In der Politik geht es immer, wirklich immer, nur um handfeste Interessen. Kein Staat in der Welt führt Krieg für Menschenrechte und Demokratie.
Was also tun? Sich an einen Rat des Psychologen Alfred Adler halten. Er schrieb in seinem Buch „Menschenkenntnis“:
„Wenn die ideale Haltung eines Menschen ein gewisses Maß überschreitet, wenn seine Güte und Menschlichkeit Formen annimmt, die schon auffällig sind, dann ist Misstrauen vollständig am Platz.“
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