Mit der Operation Enduring Freedom begann am 7. Oktober 2001 der „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan, der bis heute zum längsten Krieg der USA und ihrer Verbündeten geworden ist, mit Tausenden Toten und Verletzten, auch unter den deutschen Soldaten. Dieser neokoloniale „Kreuzzug“ hat Wunden hinterlassen, die womöglich niemals heilen werden. Emran Feroz beschreibt diesen Krieg in seinem Buch “Der längste Krieg – 20 Jahre War on Terror” nun erstmals aus afghanischer Perspektive. Er hat mit vielen Menschen vor Ort gesprochen: von Hamid Karzai über Taliban-Offizielle bis zu betroffenen Bürgern, die vor allem unter diesem Krieg leiden. Ein Auszug aus dem Buch, das gestern erschienen ist.
Bis heute werden die meisten westlichen Truppen, die in den letzten zwanzig Jahren an der afghanischen Front gekämpft haben, als »die Guten« dargestellt. Egal ob Briten, Amerikaner oder Deutsche, sie waren allesamt am Hindukusch stationiert, um Frieden, Freiheit und Demokratie zu verbreiten. Wer dieses Narrativ hinterfragte, brach ein Tabu. Weder in den Vereinigten Staaten noch in Europa oder Australien wollte man das Handeln der eigenen Soldaten hinterfragen. Die emotionale Nähe zu den Soldaten bestand von Anfang an. Man hielt sie medial und politisch aufrecht, indem Journalisten »embedded« wurden und die Truppen vor Ort während ihrer Missionen begleiteten oder westliche Politiker mitsamt kugelsicherer Westen den Militärlagern der NATO in neokolonialer Manier einen Besuch abstatteten, um abermals einige Floskeln abzulassen und die Soldaten für den Kampf gegen die »Barbaren« einzustimmen. Die Vereinigten Staaten hielten ihre Truppen bei Laune, indem man ihnen bekannte Hollywoodschauspieler oder anderweitiges prominentes Personal zur Unterhaltung schickte. Mithilfe solcher propagandistischen Mittel wurde der westlichen Welt permanent vorgegaukelt, dass in Afghanistan alles in Ordnung sei. Man befinde sich lediglich in einem legitimen Krieg gegen eine der letzten Bastionen der Barbarei.
Im Gegensatz zum Irakkrieg entwickelte sich der Konflikt in Afghanistan zum »good war«, zum »guten Krieg«. Westliche Kriegsverbrechen, die sich hier in den letzten zwei Jahrzehnten ereigneten, wurden permanent heruntergespielt, beiseitegedrängt, ignoriert oder bewusst vertuscht. Jene, die ans Licht kamen, stellte man als »unglückliche Einzelfälle« dar. Es handelte sich bei ihnen um Ausnahmen, die nichts mit dem Rest der Soldaten zu tun hatten. Doch nach zwanzig Jahren Besatzung bröckelt der schöne Schein zunehmend. Viele Afghanen hegen keine Sympathien für die Taliban oder andere militante Bewegungen, doch für ausländische Besatzer haben sie dennoch nicht viel übrig. Ihnen ist bewusst, dass es sich bei ihnen in erster Linie um Menschen handelt, die mit Gewalt in ihr Land eingedrungen sind, um zu morden und zu foltern. Zeitgleich sahen viele westliche Soldaten die Afghanen nicht als Individuen, denen man auf gleicher Augenhöhe begegnen müsse, sondern als Freiwild, das zum Abschuss freigegeben wurde. Im Irak und in Afghanistan betrachteten sich viele westliche Truppen als Kreuzzügler des 21. Jahrhunderts, deren Aufgabe es war, Rache für die Angriffe auf die »westliche Zivilisation« zu üben. Sie jagten Afghanen und Iraker bewusst, um sie zu ermorden, und sie unterschieden nicht zwischen bewaffneten Kämpfern und Zivilisten.
Straffreiheit für NATO-Kriegsverbrecher
Trotz zahlreicher aufgedeckter Kriegsverbrechen halten die meisten westlichen Politiker weiterhin an ihren Soldaten fest. Auch dies geschah oftmals, indem man sich in Kabul oder in Bagdad als Kolonialmacht aufspielte. Ein Beispiel hierfür ist etwa ein bilaterales Sicherheitsabkommen zwischen der NATO und der afghanischen Regierung, welches 2014 abgesegnet wurde. Der damals noch amtierende afghanische Präsident Hamid Karzai verweigerte sich der Unterzeichnung. Da sich Karzai in seinem letzten Amtsjahr befand, wurde klar, dass die Unterzeichnung auf seinen Nachfolger fallen würde. In Washington, London und Berlin reagierte man empört, dass sich jener Mann, den man selbst an die Macht gebracht hatte, nun gegen das Abkommen stellte. De facto handelte es sich hierbei allerdings nicht um einen Vertrag auf Augenhöhe, sondern um einen neokolonialen Pakt, der auf das Leben der Afghanen keinen Wert legte. Unter anderem garantierte das Abkommen, das von Karzais Nachfolger Ashraf Ghani umgehend nach dessen Wahl unterzeichnet wurde, eine bestehende Straffreiheit für NATO-Soldaten in Afghanistan und machte deutlich, dass nächtliche Überfälle sowie Bombardements und Drohnenoperationen den Krieg in Afghanistan weiterhin prägen würden. Konkret bedeutet dies bis heute, dass bekannte Kriegsverbrecher keinerlei Strafen zu befürchten haben, da die afghanische Justiz nicht dazu befugt ist, sie strafrechtlich zu verfolgen. Die Bestrafung ist ausschließlich den amerikanischen Besatzern selbst sowie ihren westlichen Alliierten überlassen – und findet in den meisten Fällen gar nicht statt. Das Abkommen war sogar für den damaligen deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier ein Grund, um nach Kabul zu reisen und Karzai aufzusuchen. Steinmeier versuchte praktisch, Karzai zu einer Unterzeichnung des Abkommens zu drängen, und machte damit auch deutlich, dass die Straffreiheit der NATO-Soldaten nicht nur wünschenswert, sondern auch notwendig sei. Der Spiegel berichtete damals über Steinmeiers Besuch und schrieb von Karzais »anti-amerikanischer Hetze«.
Einige Jahre später meinte Karzai mir gegenüber, dass die Straffreiheit der Soldaten einer der Gründe gewesen sei, warum er die Unterzeichnung des Abkommens verweigert habe. Er war davon überzeugt, dass die meisten Afghanen ihn als einen »zweiten Shah Shuja« betrachten würden. Andere Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, dessen Aufgabe die juristische Verfolgung von Kriegsverbrechern ist, werden von den Vereinigten Staaten nicht anerkannt, sondern verhöhnt und – wie die Trump-Ära deutlich gemacht hat – sogar bedroht und sanktioniert. Bereits 2016 hieß es in einem Bericht des Gerichtshofes, dass US-Soldaten in Afghanistan »wahrscheinlich« Kriegsverbrechen begangen hätten. Laut den Strafverfolgern existierte eine »vernünftige Basis«, um zu glauben, dass im Laufe des »War on Terror« Gefangene sowohl innerhalb Afghanistans als auch in geheimen CIA-Gefängnissen in Polen, Litauen und Rumänien zwischen 2003 und 2004 gefoltert wurden. Der Bericht hob hervor, dass sowohl physische als auch psychische Folter zum Einsatz kam, unter anderem etwa das berühmt-berüchtigte Waterboarding sowie das Schlagen und Vergewaltigen von Gefangenen. Außerdem kam der Strafgerichtshof zum Schluss, dass es sich bei den beschriebenen Fällen keineswegs um »Einzelfälle« gehandelt habe. Vielmehr wurden die Folterpraktiken gezielt und systematisch angewendet. Die Befehle kamen von höchster Führungsebene.
Doch die Vereinigten Staaten verweigern nicht nur die Kooperation bei der Aufklärung, sie blockieren die Strafverfolgung sogar: Der sogenannte American Service-Members Protection Act, ein im Jahr 2002 erlassenes US-Gesetz, sorgt dafür, dass die Mitglieder der amerikanischen Regierung sowie des Militärs vor einer Strafverfolgung Den Haags geschützt werden. US-Bürger und Alliierte sollten notfalls auch mit Gewalt vor dem Zugriff des Internationalen Gerichtshofs geschützt werden. Seitens der Obama-Administration hieß es damals, dass eine Untersuchung weder angemessen noch berechtigt sei. Dennoch respektiere man selbstverständlich internationales Recht.
Der Ton wurde rauer, als Donald Trump in Washington an die Macht kam. Im September 2018 meinte Trumps damaliger Sicherheitsberater John Bolton, dass der Internationale Strafgerichtshof »bereits tot« sei. Er wetterte gegen die Mitarbeiter des Gerichts und drohte ihnen mit heftigen Sanktionen und einer Strafverfolgung in den Vereinigten Staaten. Im März 2020 genehmigten die obersten Richter in Den Haag eine Untersuchung von mutmaßlichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Afghanistan. Nach der Ankündigung griff Trumps Außenminister Mike Pompeo die Entscheidung prompt an und bezeichnete sie als »rücksichtslos«. Er kündigte an, dass seine Regierung entsprechende Schritte einleiten werde, um zu verhindern, dass amerikanische Bürger vor Gericht gestellt werden können. Im März 2020 setzte die Trump-Administration wirtschaftliche Sanktionen sowie Einreiseverbote gegen mehrere führende Vertreter des Internationalen Strafgerichtshof durch. Anfang April 2021 wurden diese Schritte von Trumps Nachfolger Joe Biden rückgängig gemacht. Allerdings machte auch die Biden-Administration deutlich, dass sich an der grundlegenden Haltung Washingtons gegenüber Den Haag nichts geändert habe. »Bezüglich der Situation in Afghanistan und Palästina stimmen wir mit dem Internationalen Gerichtshof weiterhin eindringlich nicht überein«, hieß es seitens US-Außenminister Anthony Blinken. Einige Wochen zuvor hatte der Gerichtshof angekündigt, etwaige Menschenrechtsverbrechen der israelischen Regierung gegen die palästinensische Bevölkerung zu untersuchen. Auch Israel, einer der wichtigsten Verbündeten der USA, erkennt Den Haag nicht an.
Titelbild: Ryanzo W. Perez/shutterstock.com
Buchtipp: Emran Feroz: “Der längste Krieg – 20 Jahre War on Terror“, 224 Seiten, Westend Verlag, 23.8.2021