Die in Berlin Regierenden sind überrascht vom schnellen Vorstoß der Taliban. Dort lebende Deutsche und die für die Bundeswehr, für die deutsche Botschaft und für deutsche Unternehmen tätigen Ortskräfte sind in Gefahr. Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, Außenminister Maas, Innenminister Seehofer, Bundeskanzlerin Merkel und der Chef des Bundeskanzleramts sind ihrer Verantwortung auch nicht annähernd gerecht geworden. Das Versagen von Merkel und von Kanzleramtschef Helge Braun ist nicht ausreichend im Blick der Öffentlichkeit. Aber dort gehört es hin. Albrecht Müller.
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Zum Versagen im Einzelnen:
- Die deutsche Regierung hat wie auch die NATO und die USA auf die falschen Pferde gesetzt. Sie haben einen afghanischen Präsidenten gestützt, der die Flucht ins benachbarte Ausland ergriff, als die Taliban seine Hauptstadt erreichten. Und die Bundesregierung und die NATO haben sich auf die Ausbildung einer Armee konzentriert und die Ausbildung dieser Armee immer wieder als ihre besondere Aufgabe herausgestrichen, einer Armee, die sich unter dem Eindruck des Vormarschs der Taliban in Luft aufgelöst hat. Dass dies so geschehen wird, musste die Bundesregierung und auf jeden Fall das Auswärtige Amt und das Bundesverteidigungsministerium wissen bzw. erahnen. Sie mussten wissen, dass die afghanische Armee ohne Unterstützung der USA, der NATO, des Westens insgesamt zusammenbricht.
- Die Bundesverteidigungsministerin hat noch am vergangenen Donnerstag in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die Versäumnisse bei der Sorge um die Ortskräfte auf die afghanische Regierung geschoben. Siehe unseren Beitrag: Afghanistan. 20 Jahre Krieg. „Für die Katz“ und weit über 100.000 Opfer und das Interview mit dem Deutschlandfunk. Hierzu der passende Text des Deutschlandfunks:
Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte im Deutschlandfunk, für die Ortskräfte, die seit 2013 bei der Bundeswehr beschäftigt waren, gebe es das „ganz klare Commitment, dass die rauskommen“. Ein Engpass sei aber, dass die afghanische Seite die Menschen nur aus dem Land lasse, wenn sie einen afghanischen Reisepass hätten. Das Auswärtige Amt versuche die afghanische Regierung von dieser Praxis abzubringen.
Als die Ministerin am 12. August, also vor 4 Tagen, die Verantwortung auf die afghanische Regierung schob, waren die Taliban schon ganz nah an Kabul und sie hatten andere Teile des Landes, wo es auch Ortskräfte gibt, lange zuvor schon übernommen. Für sie jedenfalls spielten die Vorbehalte der afghanischen Regierung gar keine Rolle mehr.
- Am 10. August, also am letzten Dienstag, titelte die Süddeutsche Zeitung:
„Trotz des Vormarschs der Taliban: Seehofer fordert Abschiebungen nach Afghanistan“.
Der Bundesinnenminister revidierte seine Haltung erst am 12. August. Auch dieser Vorgang zeigt, wie falsch Minister der in Berlin amtierenden Bundesregierung die Lage in Afghanistan eingeschätzt haben.
- Die Bundeswehr war 20 Jahre in Afghanistan und damit war auch die deutsche Bundesregierung jahrelang mit der dortigen Politik befasst. Sie hat sogar an vorderer Front bei der Förderung von einzelnen Politikern, die 2001 auf die Herrschaft der Taliban folgten, mitgeholfen. 2001 wurde auch zu diesem Zweck eine Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn abgehalten. Dort wurde Hamid Karzei zum Präsidenten einer Interimsverwaltung ernannt. Das Auswärtige Amt schwärmte in einer Broschüre von der Entwicklung in Afghanistan. Am Konflikt oder historisch interessierte Leserinnen und Leser sollten sich einmal diese Broschüre anschauen. Offensichtlich hat die deutsche Bundesregierung wie auch die USA und die NATO auf problematische politische Strömungen und auf falsche Personen gesetzt. Und man hat offensichtlich den Kontakt mit den nach wie vor existierenden und sich erneuernden Taliban nicht gehabt und jedenfalls nicht gepflegt.
- Den Rückhalt beim afghanischen Volk hat der Westen auch durch militärische Aktionen verloren, unter denen unschuldige Menschen immer wieder zu leiden hatten. Das gilt für Drohnen-Angriffe der USA wie auch für solche Fälle, an denen die Bundeswehr beteiligt war. Der gravierendste Vorgang dieser Art: der deutsche Oberst Klein hatte die Bombardierung eines Tanklastfahrzeugs angeordnet. Dabei waren viele Menschen umgekommen, auch Zivilisten. Siehe dazu hier. Deutschland hat zwar eine 6-stellige Summe als Schadenersatz bezahlt. Aber damit war der Ansehensschaden der militärischen Helfer nicht geheilt.
Insgesamt war der Einsatz des Westen wie die meisten militärischen Interventionen eine sinnlose Operation, eine Katastrophe – wie sich das in den Augen vieler wichtiger Personen leider erst jetzt darstellt.
Bundeskanzler Schröder – von 2001 bis 2005 – und dann Bundeskanzlerin Merkel – 2005 bis heute – haben das alles mitgemacht, zunächst aus Solidarität mit den USA und dann zugleich motiviert von gut klingenden Vorstellungen über die innere Entwicklung in Afghanistan: Mehr Rechte für die Frauen, Bildung und Infrastruktur. Aber man sollte sich keine Illusionen machen. Schon lange war die Bundeswehr vor allem damit beschäftigt, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen.
Bundeskanzlerin Merkel und ihr Chef des Bundeskanzleramtes haben sich offenbar nicht um die Entwicklung in Afghanistan und die Probleme gekümmert. Sie haben ihre Kabinettskollegen werkeln und die Gefahren verschlafen lassen.
Wie das Bundeskanzleramt und die Kanzlerin hätten funktionieren müssen
Vor dem Hintergrund meiner 9-jährigen Erfahrung als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt will ich ein paar Anmerkungen darüber machen, wie das Bundeskanzleramt und die Bundeskanzlerin in einem solchen Fall agieren müssen.
Das Bundeskanzleramt und die dort tätigen Personen vom Bundeskanzler/Bundeskanzlerin über den Chef des Bundeskanzleramtes, im konkreten Fall Helge Braun, bis zu den Abteilungsleitern und Referenten haben eine Kontroll- und Steuerungsfunktion. Dazu gibt es bzw. gab es feste Einrichtungen:
Zum Beispiel eine regelmäßig tagende Staatssekretärsrunde. Unter dem Vorsitz des Chefs des Bundeskanzleramtes im Range eines Staatssekretärs oder Staatsministers trafen sich die Verantwortlichen regelmäßig zur Besprechung der Kabinettsarbeit wie auch zum Austausch über die politische Entwicklung, im konkreten Fall zum Beispiel über das Vorgehen in Afghanistan.
Dann gab es (und gibt es hoffentlich noch) jeden Tag von Montag bis Freitag morgens um 8:00 oder 8:30 Uhr eine Lagebesprechung unter dem Vorsitz des Chefs des Bundeskanzleramtes. Mit daran beteiligt war der Regierungssprecher – zu meiner Zeit als Abteilungsleiter zum Beispiel Klaus Bölling –, der Redenschreiber des Bundeskanzlers und die 6 Abteilungsleiter des Bundeskanzleramtes – also jeweils der Vertreter der 5 Fachabteilungen und der Planungsabteilung. Die Fachabteilungen spiegelten die Ministerien wieder, die Planungsabteilung war zusätzlich da tätig, wo wir es für notwendig hielten oder wo der Bundeskanzler, damals zunächst Brandt und dann Schmidt, meinten, dass es notwendig sei.
Ich will dazu ein praktisches Beispiel beschreiben. Es geht zufälligerweise auch um Afghanistan und spielt lange vor den jetzigen Ereignissen:
Im Dezember 1979 intervenierte die Sowjetunion militärisch in Afghanistan. Es gibt ja Beobachter, die behaupten, die USA hätten die Sowjetunion in diese Falle gelockt. Das ist aber jetzt nicht das Thema. In Deutschland gab es damals den Streit um die Richtigkeit der Entspannungspolitik zwischen uns und der Sowjetunion bzw. dem Warschauer Pakt. CDU und CSU hatten sich damit damals noch nicht einverstanden erklärt. Deshalb nutzte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß die Intervention der Sowjetunion in Afghanistan umgehend zu einem Vorstoß gegen die Entspannungspolitik. Er forderte ein Ende der Entspannungspolitik. Der Vizekanzler, FDP-Vorsitzende und Bundesaußenminister Genscher (heute vielfach verehrt als Entspannungspolitiker) sah die Chance, sich durch Distanzierung vom Dialog mit der Sowjetunion auch vom Koalitionspartner Helmut Schmidt und der SPD abzusetzen. Er kungelte im Frühjahr 1980 schon mit Helmut Kohl, seinem späteren Koalitionspartner.
Die Planungsabteilung hat damals beim Bundeskanzler zugunsten der Fortsetzung des Dialogs mit dem Osten interveniert. Wir haben eine qualitative sozialwissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben und konnten auf dieser Basis Bundeskanzler Schmidt davon überzeugen, dass das deutsche Volk nach wie vor die Friedens- und Entspannungspolitik unterstützt, einschließlich des Dialogs mit der Sowjetunion. Wir haben damals – was nicht zu unseren Befugnissen, aber zur notwendigen Praxis gehörte – Ergebnisse dieser Studie bei befreundeten Journalisten „lecken“ lassen, was wiederum dazu führte, dass sich Genscher bei Schmidt über die Planungsabteilung beschwerte. Schmidt gab diese Beschwerde mit einem Augenzwinkern an mich und die Planungsabteilung weiter.
Und selbstverständlich haben wir in der morgendlichen Lagebesprechung immer wieder über dieses Thema gesprochen. Das führte intern dazu, dass zum Beispiel mein Kollege, der für die Außen- und Sicherheitspolitik zuständig war und ständig Kontakt zum Auswärtigen Amt hatte, diese Sicht der Dinge auch an das Auswärtige Amt und damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Außenministers Genscher weitergab.
Bundeskanzler Schmidt blieb auf dem eingeschlagenen Weg. Glücklicherweise gab es dann am 11. Mai 1980 eine Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. In Absprache mit uns machte die nordrhein-westfälische SPD die Friedenspolitik zum Kern des Wahlkampfes. Unter anderem erschien eine große Anzeige mit 49 Kriegerwitwen und ihrem persönlichen Bekenntnis unter der Schlagzeile „Nie wieder Krieg“. Die SPD errang in NRW die absolute Mehrheit, die FDP scheiterte mit 4,999 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Unsere qualitative Studie war damit zumindest im größten Bundesland als richtig bestätigt worden.
Für die sozialliberale Koalition hatte das zumindest für einige Zeit eine positive Wirkung. Die Zusammenarbeit funktionierte wieder.
Symbolisch für die Rückkehr der FDP zur friedenspolitischen Vernunft war dann noch der folgende Vorgang: Helmut Schmidt hatte einen Redenschreiber, der der FDP als Mitglied angehörte. Dieser Kollege Breitenstein war auch Mitglied der morgendlichen Lagebesprechung und er hatte wegen seiner Funktion beim Bundeskanzler auch das Recht, an Präsidiumssitzungen der FDP teilzunehmen. Breitenstein, der einen guten Sinn für Ironie und Witz hatte, meldete sich bei der morgendlichen Lagebesprechung am Dienstag nach der Wahl zu Wort: Gestern, also am Montag nach der Wahl, sei im FDP-Präsidium beschlossen worden, jetzt wieder für die Entspannungspolitik zu sein.
Wenn man diese Erfahrungen überträgt auf die heutige Situation und Afghanistan, dann wäre unter anderem Folgendes anzumerken:
Zum Beispiel wäre lange vor dem großen Misserfolg in Afghanistan in der Staatssekretärsrunde und/oder in der morgendlichen Lagebesprechung die Grundsatzfrage gestellt worden, was wir dort wollen und/oder ob wir mit den richtigen Kräften zusammenarbeiten.
Zum Beispiel wären vom Kanzleramt lange vor der politischen Wende des Bundesinnenministers beim Thema Abschiebung Fragen an diesen Minister gestellt worden.
Zum Beispiel hätten wir über ein Interview wie jenes der Bundesverteidigungsministerin mit dem Deutschlandfunk am 12. August sehr kritisch beraten und diese Kritik über den zuständigen Abteilungsleiter noch am gleichen Tag an das Bundesverteidigungsministerium weitergeleitet.
Der gesamte Vorgang Afghanistan zeigt die Mängel der Politik der Bundeskanzlerin Merkel. Sie hat hier genauso wie ihre zuständigen Minister versagt.