Mit der Corona-Pandemie wurden die schwersten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik vorgenommen. Freiheitsrechte gerieten nicht nur durch politische Entscheidungen, sondern auch durch eine große gesellschaftliche Verunsicherung unter Druck. Wolfgang Kubicki widmet sich in seinem neuen Buch Die erdrückte Freiheit der Frage, wieso die Idee der Freiheit so schnell in Verruf geraten konnte und welche Rolle die Politik, Medien und Gesellschaft in diesem Prozess gespielt haben. Er ruft dazu auf, die Grundlagen unseres Gemeinwesens nicht leichtfertig über Bord zu werfen, sondern gerade in der Krise auf die Stärke unserer verfassungsmäßigen Ordnung zu setzen. Er wehrt sich gegen Moralismus, Angstmache und Ausgrenzung und plädiert für eine mutige und offene Auseinandersetzung über den besseren Weg. Ein Auszug.
Sicher, derjenige muss viel aushalten, der sich mit einer profilierten Ansicht in den Wind stellt. Das ist weder gut noch schlecht, sondern die notwendige Begleiterscheinung des Meinungsstreits. Die Hysterie, die das politische Berlin schon immer etwas unangenehm gemacht hatte, erreichte jedoch seit März 2020 neue Höhen. Nun warf man selbst aus den Herzen der Redaktionsstuben mit Dreck auf missliebige Meinungsträger. Zur Zielscheibe wurden auch Menschen, die sich mit ihrer Expertise redlich eingebracht hatten und daran mitarbeiten wollten, die Pandemie besser zu überstehen.
Im Interview mit dem Virologen Christian Drosten holten die Spiegel-Redakteurinnen im Januar 2021 das große Besteck heraus. Die weltweit geachteten Wissenschaftler Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit würden einen »größeren Schaden als Corona-Leugner« anrichten, so die Journalistinnen, da sie »immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert« hätten. Abgesehen von dem unerträglichen Vergleich erstaunt die Haltung, man könne sich als Journalist zum Letztentscheider über »die« Wissenschaft aufspielen. Die akademische Freiheit und die Meinungsfreiheit spielen dann keine Rolle mehr, weil man ja weiß, was abschließend richtig ist. Der Cicero sprach in diesem Zusammenhang von einer »Demagogie des Corona-Mainstreams«.
Vielleicht könnte man meinen, bei Wissenschaftsjournalisten stehe eher die Vermittlung im Vordergrund, weshalb das mangelnde Verständnis für die notwendige Auseinandersetzung entschuldbar sei. Doch selbst Vertreterinnen dieser Zunft, die ständig betonen, bei ihnen habe die Wissenschaft Vorrang vor der Kommunikation, denken so. Die preisgekrönte Mai Thi Nguyen-Kim erklärte im Oktober 2020 auf Twitter: »Corona hat meine Meinung geändert. Mehr Wissenschaftler*innen in den Medien sorgen nicht für mehr Aufklärung, sondern für mehr Verwirrung. Wir brauchen Qualitätskontrollen in der #Wisskomm, sonst steht Autorität/Popularität vor Expertise/Wahrhaftigheit [sic].«
Der Vorwurf, es gehe den angesprochenen Wissenschaftlern einzig um die eigene Popularität, ist schon ziemlich bemerkenswert. Jedoch drängen sich gleich die nächsten Fragen auf: Wenn wir in der Wissenskommunikation nur noch die »richtigen« Wissenschaftler – denen es wirklich nur um die Wahrhaftigkeit geht – einsetzen sollten, wer wählt diese aus? Und vor allem: Wer ist »wir«?
Es wird ein Lagerdenken erkennbar, das ernsthafte Debatten, die eine echte Lösung anstreben, unmöglich macht. Wenn es am Ende nur noch um Selbstbehauptung geht, rutscht unsere Debattenkultur ins Mittelalter ab – oder ins Infantile. Mit ähnlichem Verhalten bin ich aus dem Kindergarten vertraut: Dort versammelten sich immer die kleinen Jungs in einer Bande, um sich gegenüber anderen stärker zu fühlen. Was genau ist hier anders?
Das »Wir« in Corona ist irgendwann zu einem Selbstläufer geworden. Ich kann mich gut an eine Sendung von Hart aber fair Mitte Juni 2020 erinnern, an der ich teilnehmen durfte. Christina Berndt, eine Wissenschaftsjournalistin der Süddeutschen Zeitung, war von dem »Wir«-Gedanken geradezu überwältigt. Vor dem Hintergrund deutlich sinkender Infektionszahlen und dem Wunsch einiger, wieder in den Urlaub zu fliegen, sagte sie hier: »Wir brauchen auch die Freiheitsrechte und natürlich sollen sich Menschen jetzt wieder entwickeln und ihren Bedürfnissen nachgehen, das ist gar keine Frage. Und das können wir ja auch alles. Gerade weil wir so vernünftig waren, gerade weil wir diese Regeln haben. Jetzt kommt die App. Wir haben die Masken, wir haben ein Verhalten uns angewöhnt, indem wir schon sehr vernünftig sind. Wir können das jetzt alles tun. Meine Ansicht ist nur, wir sollten nicht an manchen Punkten so furchtbar übertreiben. Und auch noch an Punkten, wo der gesellschaftliche Rückhalt noch nicht da ist.«
An jenem Tag, als Christina Berndt vor Freiheitsübertreibungen warnte, lag die Sieben-Tage-Inzidenz deutschlandweit bei 2,5. In den sieben Tagen zuvor hatten 158 Landkreise keinen einzigen Corona-Fall an das Robert Koch-Institut gemeldet.
Der »Wir«-Gedanke in der Corona-Bekämpfung ist deshalb gefährlich, weil er desintegrativ wirkt. Er führt nämlich dazu, diejenigen, die sich nicht unter diesem Begriff versammeln wollen und andere Vorstellungen als die »Wir«-Fraktion vertreten, moralisch zu entwerten und als Spalter darzustellen. Dabei wirkt der kollektive Gedanke im »Wir« viel spalterischer. Es ist die Vorstellung einer Mehrheitsgesellschaft, die meint, weil sie sich als Mehrheit versteht, automatisch das Richtige zu tun. Ob deren Promotoren wirklich die Mehrheit vertreten, spielt dabei übrigens keine Rolle – das subjektive Gefühl, dass sie es tun, reicht vollkommen aus. Dass dabei aber in jedem Falle Minderheitenrechte unter die Räder kommen, wird im Sinne der »guten Sache« geflissentlich ignoriert.
Wolfgang Kubicki: Die erdrückte Freiheit. Wie ein Virus unseren Rechtsstaat aushebelt, 128 Seiten, Westend Verlag, 2.8.2021