Die Proteste in Kuba von Anfang Juli nähren kaum noch Nachrichten im medialen Mainstream, was nicht bedeutet, dass sie keine Folgen hatten und dass die Vordergründe der Berichterstattung den historisch gewachsenen Hintergründen gerecht wurden. Dies will der nachstehende, in zwei Teilen erscheinende Beitrag in Umrissen versuchen. Von Frederico Füllgraf.
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Die Regierung Miguel Díaz-Canel reagierte prompt. Die Beschleunigung des vor zwei Jahren vereinbarten Plans für Wirtschaftsreformen, die Öffnung neuer Verhandlungsräume für die Beteiligung gesellschaftlicher Akteure und die „friedliche Anerkennung und Bewältigung abweichender Meinungen” wollen Partei und Regierung als unmittelbare Herausforderungen ernstnehmen. Zum einen rief Díaz-Canel zur weiteren Unterstützung des sozialistischen Gesellschaftssystems auf, das die Verfassung von 2019 als „unwiderruflich“ festlegt, kündigte jedoch zum anderen ein Paket wirtschaftlicher Maßnahmen an, die im Wesentlichen darauf abzielen, die Lebensmittel-Verknappung zu mildern und den Schutz für sozial gefährdete Familien auszuweiten.
Ab Montag, den 19. Juli, trat ferner eine Ausnahmeregelung mit Wirkung bis zum 31. Dezember 2021 in Kraft, womit Kubaner oder Ausländer, die nach der Insel reisen, unbegrenzt und steuerfrei Lebensmittel, Medikamente, medizinische Versorgung und Toilettenartikel in ihrem Gepäck einführen dürfen. Eine weitere der am 16. Juli gemeldeten Maßnahmen sieht vor, mehr als 200.000 Menschen zu helfen, die aus verschiedenen Gründen keinen Zugang zu Lebensmitteln haben, diesen Zugang über Lebensmittelkarten zu sichern. Die im Jahr 1962 von der Revolutions-Regierung als Verteilungshebel geschaffenen Lebensmittel- oder Rationierungskarten sicherten den Bürgern einen monatlichen Lebensmittel-Grundkorb an Reis, Zucker, Getreide, Kaffee, Öl und tierischem Eiweiß, der zwar den gesamten Nahrungsbedarf nicht deckte, zumindest aber eine Entlastung für einkommensschwache Haushalte und sozial gefährdete Gruppen darstellte. Somit werden die im Verlauf der Wirtschaftsreformen unter Präsident Rául Castro abgeschafften Rationierungskarten teilweise oder vorübergehend neu eingeführt.
Auch die Auszahlung von Gehältern in Staatsbetrieben soll flexibilisiert werden, um Effizienz und Produktivität zu steigern. Nach offiziellen Angaben sollen ebenso im Verlauf der kommenden Wochen die seit langem angekündigten gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz kleiner und mittelständischer, sowohl staatlicher wie privater Unternehmen in Kraft treten. „Die Maßnahmen sind positiv, wir sollten aber keine Wunder von ihnen erwarten, weil sie den angesammelten Bedarf nicht decken“, warnte der auch auf Regierungsseite angesehene kubanische Ökonom Omar Everleny Pérez Villanueva gegenüber der Nachrichtenagentur Inter Press Service/IPS.
Die anderen, indes heikleren Folgen der Proteste, sind genuin politischer Natur.
Selbstkritik und Dialog-Angebot: die unmittelbaren politischen Folgen der Proteste
Während der Demonstrationen vom vergangenen 11. und 12. Juli in – je nach Quelle – 19 bis 40 kubanischen Städten gingen bekanntlich Tausende, nicht nur Jugendliche, sondern erzürnte Bürger mit Forderungen nach politischen und wirtschaftlichen Veränderungen auf die Straße. Allerdings nicht hundertprozentig friedlich, wie es in der Mehrheit der westlichen Medien hieß, sondern mit Gewalt gegen Polizei und regierungstreuen Zivilisten und mit Vandalismus gegen Geschäfte und Fahrzeuge. Justiz- und Innenministerium sicherten zu, „das Gesetz mit angemessenen Verfahrensgarantien“ gegen die Festgenommenen anzuwenden, deren Zahl je nach Quelle bis um das Zehnfache variiert.
Laut CNN waren es am 13. Juli „über 100“, nach aktualisierten Angaben der spanischen Zeitung La Razón vom 20. Juli 500 Verhaftete, der aktuellste Bericht von Amnesty International vom 22. Juli nennt überhaupt keine Zahl, doch das kubanische Portal 14YMedio machte bombastische Angaben: „mehr als 5.000 Festgenommene, darunter Aktivisten und Journalisten“. Fußnote: 14YMedio leidet unter mangelnder Glaubwürdigkeit. Das Medium wird von der oppositionellen kubanischen Aktivistin, Star-Bloggerin und langjährigen Moderatorin der Deutschen Welle TV, Yoani Sánchez, und ihrem mehrfach verhafteten Ehemann Reinaldo Escobar herausgegeben.
Zu den renommierten Festgenommenen gehören unter anderen der Fotograf Anyelo Troya González und der Künstler und Führungsfigur der San-Isidro-Bewegung, Luis Manuel Otero Alcántara. Andere, wie der Dramaturg Yunior Garcia Aguilera, waren Ziel von Überwachung, Internet-Sperrung und Warnungen. 14YMedio hatte die Öffentlichkeit mit dem Manipulationsversuch schockiert, bei den Festgenommenen handele es sich um „von der Polizei Verschleppte“, also um „Verschwundene“; ein in gesamt Südamerika nach wie vor mit Schrecken besetzter Begriff, weil er an die schlimmsten, zig tausendfachen Menschenrechtsverbrechen der rechtsradikalen Militärdiktaturen erinnert und für die Beschreibung der Ereignisse in Kuba vollkommen fehl am Platz ist. In Wahrheit wurden jedoch namhafte Verhaftete mehrheitlich in das Polizeirevier Cuarta Estación und von dort in die Einheit 100 y Aldabó abgeführt.
Die Regierung Díaz-Canel hatte den Tätern die Anwendung des Gesetzes mit ordentlichen rechtlichen Verfahren zugesichert. Doch das Portal El Toque – das im Jahr 2014 als Projekt der Lateinamerika-Abteilung der ehemaligen Radio Nederland Wereldomroep gefördert wurde – meldete, dass Troya González und 10 weitere Häftlinge am 21. Juli von einem Gericht im Eilverfahren verurteilt wurden; ein Vorgang, bei dem Personen, deren Strafrahmen ein Jahr Freiheitsentzug nicht überschreitet, in weniger als 20 Tagen vor Gericht gestellt werden können. Der Fotograf wurde wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt, während von den übrigen elf Angeklagten angeblich nur zwei einen Anwalt bestellen durften, kommentierte El Toque.
„Die Leute fordern kurzfristig konkrete Ergebnisse. Wir müssen das Wichtigste, das (Anm. FF: Gesellschafts-) Projekt, retten und dafür müssen wir bestimmte, bestehende Vorstellungen im kubanischen Wirtschaftsmodell überwinden“, warnte noch einmal der Ökonom Omar Everleny Díaz Villanueva.
Präsident Miguel Díaz-Canel entging die Stimmung nicht. Bereits am Samstag, den 17. Juli, forderte er in einer Rede während eines regierungstreuen Aufmarsches auf Havannas Küstenpromenade Malecón eine „notwendige Selbstkritik“ und eine „tiefe Überprüfung unserer Methoden und Arbeitsstile, die mit dem Willen zum Dienst am Volk kollidieren, denn die Bürokratie, die Hindernisse und die Unsensibilität einiger richten so viel Schaden an“. Zwei Tage später, während eines Treffens mit Mitgliedern des Ministerrates und Behörden der 15 Provinzen Kubas, forderte der Staatschef und Parteivorsitzende „Räume für Debatten über die am meisten komplexen Themen“. „Unterschiedliche Teilnehmer sollen Vorschläge unterbreiten und die Möglichkeit ihrer Umsetzung bewerten.“
Kommt es in Kuba tatsächlich zum ernsthaften innenpolitischen Dialog?
Kubas prominentester Schriftsteller Leonardo Padura und Liedermacher Sílvio Rodríguez eröffnen die Debatte
Der weltweit renommierte kubanische Komponist und Sänger Sílvio Rodríguez, ein engagierter, jedoch kritischer Anhänger der Castro-Revolution, plädierte nach einem Treffen mit mehreren Angeklagten für eine Amnestie für die gewaltlosen Demonstranten. Der sich nach wie vor als Marxist bezeichnende Künstler berichtete von einem von Yunior García Aguilera angeregten Treffen, an dem auch dessen Ehefrau und die Filmproduzentin Dayana Prieto beteiligt waren, und schrieb: „Das Treffen mit Yunior und Dayana war gut, ich übertreibe nicht, wenn ich brüderlich sage, es gab Dialog, Austausch, wir hörten einander aufmerksam und respektvoll zu“. Das Schmerzlichste in diesem Gespräch sei gewesen, so der Autor mehrfacher Klassiker des kubanischen Trova-Genres, „zu hören, dass sie (García Aguilera und Begleitung) sich als Generation nicht mehr als Teil des kubanischen Prozesses, sondern als etwas anderes fühlten… Sie haben mir ihre Argumente erklärt, ihre Frustration“, beklagte Rodríguez und forderte: „Es muss mehr Brücken geben, es muss mehr Dialog geben, es muss weniger Vorurteile geben, weniger Lust auf Schläge und mehr Lust, den Berg der anhängigen wirtschaftlichen und politischen Fragen zu überwinden“.
Leonardo Padura, Kubas weltweit prominentester Romanautor der Gegenwart, mit Dutzenden von Übersetzungen, darunter mindestens 11 Werken in deutscher Sprache, veröffentlichte unmittelbar nach den Protesten einen Aufruf in spanischen und lateinamerikanischen Medien mit dem Titel „Ein Schrei“ und einen dramatischen Appell für umgehende sozialökonomische Lösungen und politischen Dialog, dessen wichtigsten Passagen zum konstruktiven Handeln auffordern. Er schrieb:
„Es scheint sehr gut möglich, dass alles, was in Kuba seit dem 11. Juli passiert ist, von einer größeren oder geringeren Anzahl von Menschen, die dem System widersprechen, ermutigt oder sogar bezahlt wurde, um das Land zu destabilisieren und Chaos und Unsicherheit zu erzeugen. Es stimmt auch, dass es später, wie es oft bei diesen Ereignissen geschieht, zu opportunistischen und bedauerlichen Vandalismusakten kam. Aber ich denke, dass keiner der Beweise dem Schrei, den wir gehört haben, auch nur ein Lütt der Vernunft entzieht. Ein Schrei, der auch das Ergebnis der Verzweiflung einer Gesellschaft ist, die nicht nur eine lange Wirtschaftskrise und eine punktuelle sanitäre Krise durchlebt, sondern auch eine Vertrauenskrise und einen Erwartungsverlust.“
„Auf diese verzweifelte Forderung sollten die kubanischen Behörden nicht mit den üblichen, jahrelang wiederholten Parolen und den Antworten reagieren, die sie hören wollen. Auch nicht mit Erklärungen, so überzeugend und notwendig sie auch sein mögen. Was auf der Tagesordnung steht, sind Lösungsangebote, die viele Bürger erwarten oder fordern, von denen einige auf der Straße demonstrieren, andere in sozialen Netzwerken ihre Meinung, Enttäuschung oder Ablehnung äußern. Viele sind es, die die wenigen und abgewerteten Pesos (Anm.FF.: kubanische Währung) zählen, die sie in ihren verarmten Taschen tragen. Viele, viele mehr sind es, die in resigniertem Schweigen stundenlang bei Sonne oder Regen, auch während der (Anm.FF: Covid-19-) Pandemie anstehen, die Schlangen auf Lebensmittel-Märkten und für den Kauf von Medikamenten vor Apotheken bilden. Schlangestehen für unser täglich‘ Brot und für alles Erdenkliche und Notwendige.“
„Jedoch, abgesehen von all dem Erwähnten, glaube ich, dass die Kubaner die Hoffnung wiedergewinnen und sich ein Bild von ihrer Zukunft machen müssen. Wenn die Hoffnung verlorengeht, geht die Bedeutung jedes humanistischen Sozialprojekts verloren. Und die Hoffnung wird nicht mit Gewalt zurückgewonnen. Sie kann nur mit jenen Lösungen und den Veränderungen und sozialen Dialogen wiedergewonnen werden, die, weil sie nicht umgesetzt wurden, neben vielen anderen verheerenden Auswirkungen den Auswanderungstrieb so vieler Kubaner verursacht und jetzt den Schrei der Verzweiflung der Menschen ausgelöst haben. Unter diesen Menschen wurden sicherlich einige gegen die Regierung angeheuert, es agierten auch opportunistische Kriminelle, doch kann ich nicht glauben, dass es in meinem Land derzeit so viele Menschen geben soll, so viele gebürtige und gebildete Kubaner unter uns, die sich (freiwillig) verkaufen oder Verbrechen begehen. Denn wenn es so wäre, würde es bedeuten, dass das bestehende Gesellschaftssystem diese Auswüchse gefördert hätte.“
Der spontane Entschluss – ohne an eine Führung gebunden zu sein, ohne Gegenleistung zu erhalten, auch nicht, um unterwegs etwas zu stehlen – mit dem auf der Straße und in den Netzwerken eine beachtliche Anzahl von Menschen demonstriert hat, sollte eine Warnung sein. Und ich denke, es ist auch ein alarmierendes Beispiel für die Entfremdung, die zwischen den führenden politischen Sphären und der Straße sichtbar wurde (und dies wurde sogar von kubanischen Führern erkannt). Und nur so erklärt sich, was geschehen ist, besonders in einem Land, in dem fast alles bekannt ist, wenn man – wie wir alle wissen – es wissen will. Um die Verzweifelten zu überzeugen und zu beruhigen, kann Gewalt und Verfinsterung nicht die Methode für Lösungen sein, wie zum Beispiel die Sperrung des Internets, die die Kommunikation vieler seit Tagen unterbrochen, dennoch die Verbindungen derer, die etwas dafür oder dagegen sagen wollen, nicht behindert hat. Viel weniger kann die gewaltsame Reaktion, insbesondere gegen gewaltfreie Menschen, als überzeugendes Argument verwendet werden. Und es ist ja bekannt, dass Gewalt nicht nur körperlich sein kann.“
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