Es ist der größte Wirtschaftsskandal der Nachkriegszeit: Zusammenbruch eines Dax-Konzerns in nur sieben Tagen, der Vorstandsvorsitzende im Gefängnis, ein Vorstand auf der Flucht, in der Bilanz ein Loch von rund 1,9 Milliarden Euro, über 3,2 Milliarden Euro Schaden bei den Gläubigern, der Börsenwert von rund 24 Milliarden Euro verdampft, Anleger getäuscht, Prüfer und Aufseher blamiert, das Vertrauen in den deutschen Finanzplatz erschüttert. Die Rede ist von der Pleite des Zahlungsabwicklers Wirecard, der vor gut einem Jahr Insolvenz anmeldete. Der „Handelsblatt“-Journalist Felix Holtermann hat nun in dem Buch „Geniale Betrüger – Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt“ den Skandal rund um den Zahlungsdienstleister aufgearbeitet. Holtermann beschäftigt sich bereits seit 2019 intensiv mit Wirecard und ist einer der wenigen Journalisten, die den flüchtigen Asienvorstand Jan Marsalek persönlich getroffen haben. Auf die Frage, wie der Fall Wirecard überhaupt erst möglich werden konnte, hat er eine klare Antwort: „Betrogen wurde ein System, das betrogen werden wollte.“ Von Thomas Trares.
Denn alle machten mit: Anleger, Aufseher, Banker, Börsen, Journalisten und Politiker. Alle wollten sich im Glanz des Unternehmens sonnen. Wirecard war der neue Hoffnungsträger, die deutsche Antwort auf das Silicon Valley, eine neue SAP. „Die Old Economy Deutschland, das Land der Autobauer und Schraubenhändler, gierte nach einem globalen, digitalen Finanzwunder – und schien es mit Wirecard gefunden zu haben“, schreibt Holtermann. (S.16)
Anfänge in der Porno- und Gamblingbranche
Wirecard war ein internationaler Player im Geschäft mit elektronischen Geldtransfers. In den Anfangsjahren stammten die Kunden vor allem aus der Porno- und der Gambling-Industrie, später kamen „seriösere“ Adressen wie der Discounter Aldi oder die Österreichische Bundesbahn hinzu. Wirecard wies offiziell phantastische Wachstumsraten aus. Doch spätestens 2015, wahrscheinlich aber schon viel früher, wurden die Bilanzen frisiert, am Ende fehlten 1,9 Milliarden Euro. Parallel dazu hatte Wirecard auch noch ein massives Geldwäscheproblem. „Wie groß genau es war, ist noch längst nicht aufgearbeitet“, betont Holtermann. (S.119)
Dabei ist es keineswegs so, dass die illegalen Machenschaften nicht bemerkt worden wären. Dem Shortseller Tobias Bosler fiel bereits 2008 auf, dass bei Wirecard trotz der damals härter werdenden Gangart der US-Behörden gegen das dortige Online-Poker- und -Glücksspielgeschäft die Gewinne einfach weiter stiegen. Bosler witterte Betrug. Ein paar Jahre später nahmen dann der Finanzjournalist Heinz-Roger Dohms und Analyst Thomas Borgwerth in einem Beitrag für das „Manager-Magazin“ die Wirecard-Bilanz des Jahres 2015 auseinander. Die beiden sprachen damals schon von einem „250-Millionen-Euro-Rätsel des Zahlungsdienstleisters“. (S. 47)
Kritiker werden bedroht
Doch Kritiker wie Bosler und Dohms drangen nie wirklich durch. Ein Grund dafür war Wirecards aggressive Abwehrstrategie. „Wie interne E-Mails und Honoraraufstellungen nach dem Untergang belegten, arbeitete eine ganze Armada an Beratern und Kanzleien im Auftrag des Konzerns daran, Kritiker anzuschwärzen und Wirecard in ein besseres Licht zu stellen“, schreibt Holtermann. (S. 93) Der Brite Fraser Perring etwa, den Holtermann als den „effektivsten Kritiker“ des Konzerns bezeichnet, hat eigenen Angaben zufolge 393 Todesdrohungen wegen Wirecard erhalten. Und der bereits erwähnte Bosler wurde in seinem Büro sogar von einem Schlägertrupp aufgesucht. „Die waren schwarz angezogen, hatten das Hemd aufgeknöpft und die Ärmel hochgekrempelt, Brusthaare raus, Goldkette.“ (S. 84)
Doch wer sind die handelnden Charaktere, die all dies in Gang gesetzt haben? Was beschäftigt sie? Was treibt sie an? Wirecard-Chef Braun gab sich gerne als Visionär und konnte vor allem Anleger begeistern, auf Mitarbeiter wirkte er aber auch unnahbar, bisweilen gar autistisch. Marsalek indes hinterließ bei Holtermann bei ihrem Treffen in München im Februar 2020 einen rätselhaften Eindruck. Der Asienvorstand unterhielt zudem enge Kontakte ins Geheimdienstmilieu und gab sich gerne als Lebemann. „Der junge Vorstand gibt das Geld aus, als könne er es selbst drucken.“ (S. 44) Die übrigen Wirecard-Manager beschreibt Holtermann als „langgedient, unkritisch und dem übermächtigen Chef treu ergeben“. (S. 76)
Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander
Offenbar klafften auf der Führungsebene des Konzerns Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Während sich Wirecard nach außen stets als hochinnovatives Unternehmen feierte, basierte das zentrale IT-System der Wirecard Bank bis zum Schluss auf einer jahrzehntealten Lösung des früheren Volksbankendienstleisters GAD. Zudem legte Braun in seiner Art, das Unternehmen zu führen, eine „seltsame Unwucht“ an den Tag, wie Holtermann bemerkt. „Operatives Geschäft, Technologie und Produktentwicklung interessieren ihn kaum. Geradezu obsessiv kümmert er sich stattdessen ums Finanzielle und um die Außendarstellung.“ (S.37). Unter dem Strich wurde Wirecard selbst nach dem Aufstieg in den Dax im Jahr 2018 noch geführt „wie ein kleiner Mittelständler“.
Klar ist heute auch, dass der Wirecard-Skandal erst durch das kollektive Versagen vieler Akteure möglich wurde. Die größten Fehlleistungen verortet Holtermann jedoch bei der Finanzaufsicht Bafin. „Statt das zu beaufsichtigende Unternehmen kritisch unter die Lupe zu nehmen, gebärden sich die Finanzaufseher zunehmend als Hilfstruppen Wirecards.“ (S. 212) Das Leerverkaufsverbot für die Wirecard-Aktie, die Anzeige gegen „Financial Times“-Reporter Dan McCrum, dessen Recherchen das „Lügengebäude“ rund um Wirecard erst zum Einsturz brachten, wie auch die Einstufung von Wirecard als Technologieunternehmen – all diese Entscheidungen der Bafin erwiesen sich als fatal.
Fehlleistungen der Bafin
Und als wäre dies nicht schon genug, delegierte die Bafin die Prüfung der Wirecard-Bilanz auch noch an die privatrechtlich organisierte Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), in der Finanzbranche auch Bilanzpolizei genannt. Die DPR war ursprünglich von der Wirtschaft gegründet worden, um einer strengeren staatlichen Regulierung zuvorzukommen. Die „Bilanzpolizisten“ waren jedoch mit dem Fall Wirecard komplett überfordert. Die Prüfung dauerte gut 15 Monate, selbst bei der Insolvenz von Wirecard lag immer noch kein Abschlussbericht vor. „Die Selbstregulierung der Wirtschaft hat komplett versagt“, konstatiert Holtermann. (S.224)
Versagt haben auch die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY), die zehn Jahre lang ihre Unterschrift unter erfundene Zahlen setzten, wie auch die Banken samt ihrer Aktienanalysten. Ein besonders schlagendes Beispiel ist hier die frühere Commerzbank-Analystin Heike Pauls, laut Holtermann ein „beinharter Groupie von Wirecard-Chef Markus Braun“. Pauls brandmarkte in ihren Reports negative Presseartikel über Wirecard gerne als „Fake News“, und „Financial Times“-Journalist McCrum, der entscheidende Mann bei der Aufdeckung des Wirecard-Skandals, wurde von ihr sogar als „Serientäter“ bezeichnet. (S. 204)
Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) bekommen ihr Fett weg. Schließlich sind ihre Ministerien für die Wirtschaftsprüferaufsicht Apas und die Finanzaufsicht Bafin zuständig und damit auch für deren Versagen in der Wirecard-Affäre. Neben Altmaier und Scholz waren aber auch noch andere Politiker und Ex-Politiker in den Fall verwickelt, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel, Ex-Minister Karl-Theodor zu Guttenberg, der frühere Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Harry Carstensen, der ehemalige Erste Bürgermeister Hamburgs, Ole von Beust, und nicht zuletzt CDU-Politiker Friedrich Merz.
Fazit:
Die Liste all der Pleiten, Pech und Pannen rund um den Wirecard-Skandal kann im Rahmen einer Rezension bei weitem nicht erschöpfend dargestellt, ja bestenfalls nur angerissen werden. Wer also mehr erfahren möchte, dem sei unbedingt die Lektüre dieses Buchs empfohlen. Denn Holtermann ist es gelungen, all die Bruchstücke und Einzelteile des Skandals zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen. Insofern dürfte das Buch vor allem denjenigen, die den Skandal bislang nur scheibchenweise über den ein oder anderen Medienbericht verfolgt haben, noch einmal ganz neue Einblicke bieten.
Darüber hinaus drängt sich die Frage auf, ob in dem Wirecard-Skandal nicht auch ein allgemeines Muster sichtbar wird, anhand dessen man Betrug, Täuschung und Manipulation erkennen kann. So war der Fall Wirecard geprägt von Unstimmigkeiten und Widersprüchen (Zahlen in der Bilanz passten nicht zusammen), von Intransparenzen (die meisten der mit Wirecard befassten Personen dürften das Geschäftsmodell erst gar nicht verstanden haben), von einem aggressiven und rüden Umgang mit Kritikern sowie von einem Management, das seine Energie vor allem in den Aufbau einer schönen Fassade gesteckt hat. Wenn also mehrere dieser Faktoren zusammenkommen, dann sollte man genauer hinschauen. Denn „geniale Betrüger“ sind sicher nicht nur bei Wirecard zu finden.