Ein Toter, je nach Quelle zwischen 130 und 180 Festgenommene, abgeschnittenes Mobilfunk-Internet zur Vermeidung von oppositioneller Kommunikation und vielerlei Anklagen westlicher Regierungen, konservativer Medien sowie sozialer Netzwerke gegen „brutale Menschenrechtsverletzungen“ prägen die internationale Stimmung nach den öffentlichen Protestkundgebungen vom 11. und 12. Juli in rund 20 kubanischen Städten – die angeblich massivsten Proteste seit dem Sieg der Revolution im Jahr 1959. Von Frederico Füllgraf.
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Das Geräusch tönt wie ein Gemisch von scheinbar gerechtfertigter Empörung und Demagogie, wie die des chilenischen Staatschefs Sebastián Piñera, der Kuba die „Verletzung von Menschenrechten wie der Meinungsfreiheit und des friedlichen Demonstrationsrechts, die immer respektiert und geschützt werden müssen“, vorwarf, selbst jedoch die brutalsten Polizeieinsätze in Lateinamerika Ende 2019 befahl, die hunderten von ChilenInnen schwerste Augenverletzungen, Erblindungen, Folter und Vergewaltigungen durch die Carabinero-Polizei zufügte, wofür der Präsident im April 2021 vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt wurde. Die raumfüllende Berichterstattung kontrastiert auch ungemein mit dem kläglichen Angebot an Hintergrundinformationen über zwei parallele Handlungsorte, die allerdings von einem grausamen Blutvergießen geprägt sind: über die Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im benachbarten Haiti und die Erschießungen von mindestens 70 Menschen während der Unruhen in Südafrika. Man könnte sinnieren, das sind ja aber „nur Farbige“, die nur selten Anrecht haben, auf weißem Zeitungspapier zu erscheinen.
Eingeständnis berechtigter Unzufriedenheit, doch mit digital gesteuerten Protesten
Oppositionsgruppen wie die „Bewegung San Isidro“ beschuldigen die Regierung, Dissidenten verhaftet und „verschwinden lassen“ zu haben, darunter verschiedene renommierte Künstler – wie José Daniel Ferrer, Manuel Cuesta Morúa und den „rebellischen“ Luis Manuel Otero Alcántara, die Anführerin der Ladies-in-White- MenschenrechtsaktivistInnen Berta Soler sowie die Kuba-Korrespondentin der spanischen Tageszeitung ABC, Camila Acosta. Ihr wird „Verachtung und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung“ vorgeworfen; Straftaten, die mit drei bis sechs Jahren Gefängnis geahndet werden können. Offizielle Zahlen beziehungsweise eine Bestätigung der Zahl der Festnahmen gibt es nicht. Zu den sparsamen Stellungnahmen des kubanischen Innenministeriums gehörte indes zwei Tage nach den Zusammenstößen die Mitteilung und das Bedauern, dass im Stadtteil Güinera am Stadtrand von Havanna der 36-jährige Demonstrant Diubis Laurencio während der Teilnahme an den „Unruhen“ gestorben sei.
Angesichts des Ernstes der Lage berief noch am gleichen Protest-Sonntag die Kommunistische Partei Kubas (PCC) eine Sondersitzung des Politbüros ein, an der sich auch Präsident Miguel Díaz-Canels 90-jähriger Vorgänger und Fidel-Castro-Bruder Raúl Castro zur Teilnahme genötigt sah und eilends seinen Urlaubsaufenthalt verließ. Das Politbüro bezeichnete die Proteste als „Provokationen, die von konterrevolutionären Elementen inszeniert und von den USA zu destabilisierenden Zwecken organisiert und finanziert wurden“. Sodann rief Díaz-Canel via Staatsfernsehen seine Landsleute dazu auf, selbst die Straßen einzunehmen, die den „Revolutionären gehören“. Am darauffolgenden Montag twitterte der Präsident „Die #kubanische Revolution wird denen nicht die andere Wange hinhalten, die sie in virtuellen und realen Räumen angreifen … Wir werden revolutionäre Gewalt vermeiden, aber wir werden konterrevolutionäre Gewalt unterdrücken“, warnte er.
Einen Tag später erklärte Außenminister Bruno Rodríguez auf einer Pressekonferenz: „Am 11. Juli gab es in Kuba keinen sozialen Aufstand. Manchmal verschleiert und oft unverschämt öffentlich hat die US-Regierung zum sozialen Aufstand aufgerufen, ihn beschworen, angezettelt und auf unbeschwerte und verdeckte Weise daran gearbeitet, ihn zu provozieren“. Während das mobile Internet, der Antrieb der Demonstrationen in Havanna, noch gesperrt war, herrschte an diesem Dienstag scheinbare Ruhe auf der Insel, allerdings abgesichert durch starke Militärpräsenz und Polizei in Zivil.
Die offizielle Version versucht, die sozialen Unruhen herunterzuspielen, aber mit gewissem Unbehagen. Zum einen, weil sie sie hätte ahnen müssen. Zum anderen erkennt die Regierung, dass sich unter den Aufständischen Gruppen von „rechtmäßig Unzufriedenen“ befanden, wie Díaz-Canel in einer Fernsehsendung zugab. Mit dieser Einsicht kehrte Raúl Castros Nachfolger am Wochenende der Proteste von San Antonio de los Baños, unweit von Havanna, zurück, wo er mit Demonstranten ins Gespräch kam, die allerdings wegen der US-Blockade verwirrt waren, so der Staatschef. Der ist jedoch kein Zyniker. Zweifellos waren die Demonstrationen durch soziale Medien angeheizt worden, die sich als Schneeballeffekt landesweit ausbreiteten.
Indes lauerte die Anfeuerung geradezu auf den geeigneten Zeitpunkt, wissend, dass sich ebenfalls landesweit eine Welle tiefer Verbitterung über die vorherrschende Versorgungskrise zusammenbraute, die vom Lebensmittelmangel, Stromausfällen und des wegen der Covid-19-Pandemie kollabierenden Gesundheitssystems geprägt ist. Am gleichen Wochenende der Proteste meldete das Ministerium für Öffentliche Gesundheit (Minsap), dass die bei ihrem Ausbruch vor 16 Monaten zwar die Insel plagende, doch längst im Griff geglaubte Pandemie, in der Woche zuvor mit 6.923 neuen positiven Virus-Fällen und 47 Verstorbenen, außer Kontrolle geraten zu sein schien. Und dies nicht nur zum Unmut der Bevölkerung, sondern zum Verdruss der Regierung, die als einzige auf dem gesamten lateinamerikanischen Kontinent unter den Bedingungen einer drakonischen Blockade mit nahezu heldenhafter wissenschaftlicher Beharrlichkeit gleich zwei Covid-19-Impfstoffe – Abdala und Soberana 02 – aus der Taufe hob, die im demokratisch regierten Teil des Kontinents sehr wohl als Signal gesundheitspolitischer Hoffnung gewertet werden.
Vom „ZunZuneo“/Falschen Twitter zum ferngesteuerten Manöver für den „Regime Change“
Dass die kubanische Regierung die Proteste hätte ahnen müssen, ist keine frivole Belehrung. Wahrscheinlicher ist, sie ahnte es seit langem, nämlich seit der Einführung des Internets in Kuba und der Zulassung des Internets für Mobiltelefone, beides zwischen den Jahren 2008 und 2018 von der inzwischen staatseigenen Telefongesellschaft Empresa de Telecomunicaciones de Cuba S.A. nahezu landesweit eingerichtet.
Die digitalisierte Vernetzung Kubas wurde selbstverständlich mit Argusaugen von Washington DC aus beobachtet. Und dann platzte im Jahr 2014 der erste Internet-Skandal auf Kuba. Die Hintergründe lesen sich so:
Im Juli 2010 flog der US-Regierungsbeamte Joe McSpedon nach Barcelona, um einem geheimen Plan zum Aufbau eines Social-Media-Projekts den letzten Schliff zu geben, das darauf abzielte, Kubas kommunistische Regierung zu unterwandern. Die Mission McSpedons und seines Hightech-Teams: ein Messaging-Netzwerk aufzubauen, das hunderttausende Kubaner erreichen könnte. Um das Netzwerk vor der kubanischen Regierung zu schützen, sollte über ein Bankkonto auf den Kaimaninseln ein byzantinisches System von Scheinfirmen aufgebaut und ahnungslose Führungskräfte rekrutiert werden, die nicht über die Verbindungen des Unternehmens zur US-Regierung informiert waren.
McSpedon handelte nicht im Auftrag des CIA, sondern der US-Agentur für internationale Entwicklung (USAID). Nach Angaben der Nachrichtenagentur Associated Press (AP), die Zugang zu den Geheimdokumenten des Projekts bekam und Interviews mit mehreren am Projekt Beteiligten führte, war geplant, ein bodenständiges ´kubanisches Twitter´ zu entwickeln, mit dem Handy-Textnachrichten verwendet werden, um Kubas strenge Kontrolle von Informationen und seine Würgegriffe über das Internet zu umgehen. In einer Anspielung auf Twitter wurde das Projekt ZunZuneo – der spanische Slang für das Gezwitschere eines kubanischen Kolibris – genannt.
Aus den AP zugespielten Unterlagen ging der Plan der US-Regierung hervor, zunächst „nichtumstrittene Inhalte“ auf Abonnentenbasis aufzubauen, also Sport-Nachrichten, Musik und aktuelle Unwetter-Vorhersagen. Später, wenn das Netzwerk eine „kritische Masse“ von Abonnenten, vielleicht Hunderttausende, erreicht hätte, sollten die Betreiber politische Inhalte einführen. Diese sollten die Kubaner dazu inspirieren, „smarte Mobs“ (wortwörtliche Übersetzung) zu organisieren. Anders ausgedrückt: Massenversammlungen, die kurzfristig zur Auslösung einen „kubanischen Frühlings“ aufrufen würden beziehungsweise, wie es in einer der USAID-Unterlagen heißt, um „das Kräfteverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft neu auszuhandeln“.
Mit dem technischen Aufbau des subversiven Projekts wurde die US-regierungsnahe Firma Creative Associates International beauftragt, die zig Millionen Dollar mit diesem und Vorgänger-Projekten in arabischen Ländern verdiente. Auf seinem Höhepunkt zog das Projekt mehr als 40.000 Kubaner an, um Nachrichten und Meinungen auszutauschen. Aber seine Abonnenten wussten nie, dass es von der US-Regierung gesteuert wurde oder dass US-amerikanische Auftragnehmer ihre privaten Daten in der Hoffnung sammelten, dass sie für politische Zwecke verwendet werden könnten. „Die Beteiligung der US-Regierung wird absolut nicht erwähnt“, heißt es in einem Memo von Mobile Accord, einem der Auftragnehmer des Projekts aus dem Jahr 2010. „Dies ist absolut entscheidend für den langfristigen Erfolg des Dienstes und der Mission.“ USAID-Sprecher Matt Herrick erklärte, die Agentur sei stolz auf ihre Kuba-Programme und stellte fest, dass Ermittler des Kongresses sie 2013 überprüft und festgestellt haben, dass sie mit dem US-Recht vereinbar waren.
Das State Department unter der damaligen Außenministerin Hillary Clinton hielt Social Media für ein wichtiges Instrument der Diplomatie. In einer Rede an der George Washington University im Jahr 2011 erklärte Clinton, die USA hätten Menschen in „bedrückenden Internetumgebungen dabei geholfen, Filter zu umgehen“. In Tunesien, sagte sie, nutzten die Menschen Technologie, um „Missstände zu beseitigen und zu teilen, was, wie wir wissen, dazu beigetragen hat, eine Bewegung anzuheizen, die zu revolutionären Veränderungen führte“.
Zum Jahresbeginn 2011 war jedoch der Anfang vom Ende der geheimen Text-Plattform angekündigt. Creative Associates ärgerte sich über das Versäumnis der Auftragsfirma Mobile Accord, ZunZuneo selbsttragend und unabhängig von der US-Regierung zu machen. Die Operation war auf ein unlösbares Problem gestoßen: USAID zahlte zehntausende Dollar an SMS-Gebühren an Kubas kommunistisches Telekommunikationsmonopol über ein geheimes Bankkonto und Scheinfirmen. Es war keine Situation, die es sich leisten oder rechtfertigen konnte – und wenn es aufgedeckt würde, wäre es peinlich oder schlimmer.
Mit Störungen und Sperrungen wurde es vom kubanischen Geheimdienst schrittweise aufgedeckt und endete um das Jahr 2012 im Vakuum. Die AP-Recherche wurde vom britischen Guardian im April 2014 an ein breiteres Publikum weitergereicht, die Affäre fand auch in deutschen Medien, wie der Frankfurter Allgemeinen, mit dem Titel „Wenn der kubanische Kolibri Unruhe stiftet“ Niederschlag.
Seit 59 Jahren in Kraft, 29-mal von der UNO zur Annullierung aufgefordert: Joe Biden setzt Blockade und Destabilisierung Kubas fort
Das längst vergessene, jedoch hochbrisante digitale Geheimunternehmen von USAID gewann am Vorabend der Auseinandersetzungen in Kuba wieder an Aktualität.
Mit einer seit 1992 stattfindenden jährlichen Abstimmung, die 2020 aufgrund der Coronavirus-Pandemie ausgesetzt wurde, verurteilte die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) am vergangenen 23. Juni mit 184:2 Stimmen (der USA und Israels) zum 29. Mal das vor fast sechs Jahrzehnten von US-Präsident John F. Kennedy gegen Kuba verhängte US-amerikanische Embargo. In einer 30-minütigen offiziellen Rede verglich der kubanische Außenminister Bruno Rodríguez Parrilla das Embargo mit der Pandemie und sagte, „Wie das Virus erstickt und tötet die Blockade, und sie muss aufhören. Vaterland oder Tod! Wir werden gewinnen!“.
Nach Schätzungen der kubanischen Regierung verursachte die Blockade bisher einen Schaden von über 138 Milliarden US-Dollar. Das EU-Parlament erstellte 2020 die Studie „Extraterritorial sanctions on trade and investments and European responses“, die energisch vor den völkerrechtsverletzenden Ansätzen und Auswirkungen von US-Embargos warnt.
Allein 2020 sollen es annähernd 4 Milliarden US-Dollar gewesen sein, die Kuba nicht nur an der Bedarfsdeckung von Erdöl – und damit an der Stromversorgung der gesamten Insel – sondern u.a. an der Einfuhr simpler Impfspritzen hinderte, die für die Erprobung und Verpackung der kubanischen Impfstoffe erforderlich sind. Dramatisch wirkte sich der pandemiebedingte Einbruch des Tourismus als erste Deviseneinnahmequelle aus, der zum großen Teil wiederum den Kauf von Lebensmitteln finanziert, die Kuba seit langanhaltender Krise in der eigenen Landwirtschaft mit bis zu 70 Prozent aus dem Ausland importiert.
Der Armut erzeugende und eskalierende Boykott scheint die US-Regierungen, ob Republikaner oder Demokraten, wenig zu jucken. „Die USA sind mit allen in der Verteidigung der Freiheit Kubas einig. Kubaner verdienen wie alle Menschen das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und Kultur“, lautete die zynische Reaktion Rodney Hunters als politischer Koordinator der US-Mission bei den UN. „Biden zeigt wenig Lust, Trumps Kuba-Politik rückgängig zu machen“, betitelte die einflussreiche Plattform The Hill den Rückzieher des Demokraten, der während seiner Wahlkampagne 2020 versprochen hatte, Teile des Kuba-Embargos für null und nichtig zu erklären. Vorgänger Donald Trump hatte die Blockade mit 250 neuen Sanktionen brutal verschärft und als letzte, lächerliche Amtshandlung bei Nacht und Nebel Kuba obendrein auf die Schwarze Liste der „den Terrorismus fördernden Länder“ eintragen lassen. Die Maßnahmen provozierten eine Energie- und Treibstoffkrise, eingeschränkte Reisen amerikanischer Touristen auf die Insel sowie Überweisungen von US-Kubanern an ihre Verwandten in Kuba.
Hatte Joe Biden noch vor seinem Regierungsantritt erklärt, Trumps harte Linie gegen Kuba habe auf der Insel „nichts zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten beigetragen“, so ist der Systemwechsel – „Regime Change“ im Jargon der Geheimdienste – doch nach wie vor sein Ziel. Offenbar setzen die Demokraten zunächst auf „soft power“, nämlich die verstärkte Fortsetzung der digitalen, präsenziellen und medialen Indoktrinierung von Kubanern, wofür Biden ab sofort 20 Millionen US-Dollar bei USAID reservieren ließ, wie der investigative US-Journalist Tracey Eaton erfuhr.
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