Der Schwerpunkt der diesjährigen Bürgersprechstunde des russischen Präsidenten Wladimir Putin lag auf sozialen Fragen, der Gefahr eines neuen Lockdowns, niedrigen Löhne und steigenden Preisen im Zuge der Pandemie, Luftverschmutzung, Müllproblemen, baulichen Mängeln bei Schulen, Kindergärten und Straßen. Putin versprach, dass er sich persönlich bei Gouverneuren für die Lösung konkreter Probleme einsetzen werde. Der Präsident stellte sich demonstrativ vor die Regierungspartei Einiges Russland, deren Ansehen gesunken ist, die aber im September bei den Duma-Wahlen ihre Mehrheit in der Duma wohl verteidigen kann. Der Präsident ging auch auf die Fahrt des britischen Kriegsschiffes in russischen Territorialgewässern vor der Krim am 23. Juni ein. Dies sei eine britisch-amerikanische Provokation gewesen. Die faktische Beherrschung der Ukraine durch die Nato sei eine Gefahr für die „Lebensinteressen Russlands“. Von Ulrich Heyden.
In einem Moskauer Call-Center liefen am Mittwoch die Drähte heiß. Über zwei Millionen Fragen an den russischen Präsidenten gingen anlässlich der alljährlichen Bürgersprechstunde des Kreml-Chefs ein. Innerhalb von drei Stunden und 42 Minuten beantwortete Wladimir Putin 68 Fragen, vor allem Fragen zu sozialen Problemen. Die Sprechstunde wurde von großen Fernseh- und Radiostationen übertragen. Die von zwei Moderatorinnen geleitete Veranstaltung startete mit Fragen zur Corona-Krise. Die dritte Corona-Welle mit der indischen Variante hat in Russland – besonders in Moskau – zu den höchsten Infektions- und Todeszahlen seit Beginn der Pandemie geführt.
Der Präsident wirkte zunächst angespannt. Die Situation für den Kreml in der Corona-Krise ist nicht einfach. Eigentlich wollte die Regierung erreichen, dass sich bis Herbst 60 Prozent der Bürger impfen lassen. Doch nun hat der Gesundheitsminister Michail Muraschko erklärt, man strebe bis zum Herbst an, dass sich 30 Prozent der Bürger impfen lassen. 60 Prozent seien nicht zu erreichen.
„Kein Impfzwang“, aber „Sondermaßnahmen“
Ob es in Russland einen Impfzwang gäbe, wollte ein Bürger wissen. Putin antwortete, in Russland laufe „alles nach dem Gesetz“. Impfen sei freiwillig. Aber in einigen Regionen mit hohem Infektionsrisiko hätten die Gouverneure das Recht, besondere Regeln „für Risikogruppen“ einzuführen. Ziel der Sondermaßnahmen sei es, einen Lockdown zu verhindern. Einen Schutz vor Covid 19 gäbe es „nur durch Impfungen“, erklärte der Präsident.
Dass man die Fußballspiele im Rahmen der Fußball-Europameisterschaft in Russland trotz erhöhter Infektionsgefahr durchführe, hänge zusammen „mit den Verpflichtungen, die der Staat bei der Organisierung dieser großen Sportveranstaltungen eingegangen ist.“
Über zwei Millionen Fragen
2,2 Millionen Fragen an den Präsidenten gingen in dem Moskauer Call-Center ein. Hauptthemen waren soziale Probleme. Einige Bürger traten live per Handy und Video-Schaltung auf. Die Moderatorinnen koordinierten die Themenkomplexe. Die Fragen der Bürger kamen schriftlich oder per Video. Jefgeni wurde aus Moskau zugeschaltet. Er beschwerte sich, man wolle seine Frau, eine Lehrerin, die das Impfen nicht verträgt, kündigen. Putin erklärte, Bürger, die nachweisen können, dass sie Impfungen nicht vertragen, könnten nicht dazu verpflichtet werden. Doch ob diese Worte des Präsidenten in der Praxis Gewicht haben, muss sich erst noch zeigen.
Erst 14 Prozent Geimpfte
Dass es zu Beginn der Veranstaltung um das Corona-Thema ging, war kein Zufall. In mehreren Regionen Russlands, unter anderem in Moskau, gelten verschärfte Hygiene-Regeln. In Moskau können Restaurants nur noch von Personen mit einem QR-Code oder einem negativen PCR-Test-Ergebnis betreten werden. 60 Prozent der Mitarbeiter im Dienstleistungssektor müssen sich impfen lassen. Wer sich nicht impfen lässt, muss mit Kündigung rechnen.
Dass es zwischen der Regierung und dem Volk in der Corona-Frage eine Vertrauenskrise gibt, erwähnte Putin nicht. Mit 23 Millionen Geimpften – 15 Prozent der Bevölkerung – liegt Russland am untersten Rand der internationalen Skala. Wenn man sich umhört, warum die Leute nicht zum Impfen gehen, hört man von den Menschen verschiedene Erklärungen. Einige sagen, sie trauen dem „schnell zusammengemixten Impfstoff“ nicht. Andere haben von einer älteren Frau gehört, „die nach der Impfung starb“. Der Kreml-Chef forderte die Bevölkerung auf, nicht den „Impf-Dissidenten“ zu glauben, die von Covid 19 „nichts verstehen“ und behaupten, es gäbe „keine Infektionen“.
Warum sind die Bürger so misstrauisch?
In Russland mangelt es an vertrauenswürdigen Personen, die öffentlich für die vier in Russland zugelassenen Impfstoffe aktiv werben. Wenn die Regierung übers Fernsehen fürs Impfen wirbt, hat das nicht den gewünschten Effekt. Das liegt daran, dass die russischen Beamten nicht als besonders vertrauenswürdig gelten. Auch Anfang der 1990er Jahre hatten sie Wohlstand und soziale Marktwirtschaft versprochen. Stattdessen kamen Fabrikschließungen und der Verlust aller Sparguthaben. Heute fahren viele Beamte dicke Autos. Dazu haben sie noch ein schönes Haus. In einem Land mit vielen armen Menschen schürt das Misstrauen.
Putin gab während der Bürgersprechstunde das erste Mal öffentlich bekannt, dass er sich im Februar mit Sputnik V habe impfen lassen. Unangenehme Nachwirkungen habe es nicht gegeben. Auf ein Video vom Impf-Vorgang habe er verzichtet. Man müsse ihm halt glauben. Der Kreml-Chef erklärte, einige seiner Mitarbeiter seien trotz Impfung an Corona erkrankt. Diese Erkrankungen von Mitarbeitern seien aber „wegen der Impfung“ glimpflich verlaufen. Das war eine indirekte Bestätigung einer Aufforderung des russischen Gesundheitsministers an die Bürger Russlands, sich bei erhöhtem Infektionsrisiko jetzt alle sechs Monate impfen zu lassen.
Bananen aus Ecuador billiger als Mohrrüben aus Russland
Für die Bürger in Russland hat die Pandemie vor allem Arbeitsplatzverluste und Preissteigerungen zur Folge, nicht nur bei Lebensmitteln, auch bei Baumaterial und Grundstücken. Valentina fragte, wie es komme, dass russische Mohrrüben 1,20 Euro das Kilo und Bananen aus Ecuador nur 80 Cent das Kilo kosten. „Wer kontrolliert die Preise in Russland?“, fragte die Bürgerin. Putin erklärte, die Preise würden im internationalen Rahmen steigen, gestand aber ein, dass die Regierung mit Steuerungsmaßnahmen „nicht immer rechtzeitig reagiert“. Eine Erhöhung der Ausfuhrzölle sei nötig, um Preissteigerungen abzubremsen.
Putin gestand auch ein, dass trotz sehr guter Ergebnisse bei den Getreideernten die Produktionskapazitäten für Gemüse in Russland „nicht ausreichen“, weshalb man Kartoffeln aus Weißrussland und der Türkei einführen müsse.
Putzfrau bekommt keinen Kredit
Swetlana aus Jaroslawl fragte Putin um Rat. Die alleinerziehende Mutter, die als Putzfrau arbeitet, weiß nicht, wie sie über die Runden kommen soll. Sie habe nicht genug Geld für die Lebensmittel. Banken verweigerten ihr einen Kredit. Der Kreml-Chef erklärte, immerhin gäbe es jetzt besondere Hilfen für Familien mit Kindern und ein Gesetzesprojekt der Regierungspartei Einiges Russland, das den Banken verbietet, bei Bürgern, die unter dem Existenzminimum leben, Kreditraten einzuziehen.
Örtliche Verwaltungen unterlaufen Bürger-Eingaben
Bei der Veranstaltung am Mittwoch gab es auch aktive Versuche von örtlichen Verwaltungen, den Auftritt von Bürgern in der Live-Sprechstunde mit dem Präsidenten zu unterbinden. Jelena Wladimirowna aus dem sibirischen Nowokusnezk erzählte, dass sie eine Frage zu den Wasserschäden in einem Sonder-Kindergarten ihrer Enkelin stellen wollte. Fotos hatte sie an das Moskauer Call-Center geschickt.
Als das Call-Center die Angaben im Kindergarten per Anruf überprüfen wollte, hatte das Konsequenzen. Die örtliche Verwaltung drohte Jelena, ihr das Sorgerecht für die Enkelin zu entziehen. Putin beruhigte die Anruferin: „Das wird es nicht geben“. Er werde mit dem Gouverneur des Gebietes über den Fall sprechen und Konsequenzen fordern. Für Wladimir Putin war diese dreiste Einmischung einer örtlichen Verwaltung gegen die Aufdeckung von Missständen Anlass, Rückgrat zu zeigen. Er ließ Jelena während der Live-Sendung mehrmals anrufen, weil die Leitung aus mysteriösen Gründen immer wieder zusammenbrach.
In Ural-Millionenstadt kommt der U-Bahn-Bau nicht voran
Wie sehr das Entwicklungstempo zwischen Moskau und der Provinz auseinanderklafft, wurde deutlich, als der Präsident auf eine Frage zu dem seit Sowjetzeiten geplanten U-Bahn-Bau in Tscheljabinsk, einer Industriestadt im Ural mit 1,1 Millionen Einwohnern, zu sprechen kam. Putin erklärte, 459 Millionen Euro für den U-Bahn-Bau seien bereitgestellt worden, man müsse „nur mit dem Bau beginnen“. Woran es eigentlich hakt, wurde nicht klar. Zum Vergleich: In Moskau wurden seit 2011 sage und schreibe 179 Kilometer U-Bahn-Strecke und 59 neue U-Bahn-Stationen sowie 31 neue S-Bahn-Stationen gebaut.
Dieses Missverhältnis bei der Entwicklung von Metropole und Provinz hat auch mit den unterschiedlichen Steuereinkünften zu tun. Die meisten großen Unternehmen haben ihre Firmensitze in Moskau, wo sie auch Steuern zahlen. So blüht Moskau, blendet den Besucher mit seiner Pracht und lässt vergessen, dass es in anderen Großstädten nicht immer so blühend aussieht.
Die Duma-Wahlen nahen
In der Bürgersprechstunde wurden auch zahlreiche eingeschickte oder live übertragene Videos von Missständen in der russischen Provinz gezeigt. Offenbar hatte sich die Präsidialverwaltung entschlossen, mit dem russischen YouTube-Sektor Schritt zu halten, wo derartige Videos in großer Fülle zu sehen sind. Man sah völlig verschmutzte Wasserfilter in einem Mehrfamilienhaus in Pskow, eine neugebaute Straße, die wegen Baufehlern bei Regen komplett unter Wasser steht.
Putin stellte sich demonstrativ hinter die Regierungspartei Einiges Russland, welche die absolute Mehrheit in der Duma hat. Die Partei habe viel geleistet. Sie verteile nicht nur Geld nach rechts und links, mache keine Versprechungen, die sie nicht einhalten kann, und sei auch zu unpopulären Schritten bereit. Damit war offenbar die Erhöhung des Renteneintrittsalters gemeint, welche Putin vor 2018 noch kategorisch abgelehnt hatte. Der Präsident erklärte, Einiges Russland sei eine systemstabilisierende Partei und deshalb unverzichtbar. Der Kreml-Chef wies auch darauf hin, dass er diese Partei 1999 mit initiiert habe.
Britisch-amerikanische Provokation vor der Krim
Eine der Moderatorinnen fragte Wladimir Putin, ob die Welt an der Grenze zum Dritten Weltkrieg gestanden hat, als ein britisches Kriegsschiff am 23. Juni in die russischen Territorialgewässer vor der Krim fuhr. Der russische Präsident erklärte, „selbst wenn wir dieses Schiff versenkt hätten, ist nur schwer vorstellbar, dass die Welt an der Grenze zum Dritten Weltkrieg stand, weil die, die das machen, wissen, dass sie nicht die Sieger sein werden.“
Putin erklärte, Russland würde sich „über eine solche Entwicklung (zum Dritten Weltkrieg, UH) nicht freuen, aber wir wissen wenigstens, wofür wir kämpfen. Wir kämpfen auf unserem Territorium für uns, für unsere Zukunft. Wir kommen nicht über tausende Kilometer. Sie kommen an unsere Grenzen und verletzen unsere Territorialgewässer.“
Der russische Präsident erklärte, an der Provokation mit dem britischen Kriegsschiff seien die USA beteiligt gewesen. „Ihr Aufklärungsflugzeug habe versucht, die Reaktion der russischen Militärs zu fixieren. Aber die russischen Militärs hätten den Amerikanern ´Informationen´ gegeben, welche sie für nötig hielten. Darüber, dass die Nato ukrainisches Territorium faktisch beherrsche, sei „Russland sehr besorgt.“ Denn diese Beherrschung berühre „reale Lebensinteressen“ Russlands.
Der russische Präsident zeigte sich auch besorgt, dass die Nato nicht honoriert habe, dass Russland seine Truppen im Frühjahr nach einem Manöver von der ukrainischen Grenze zurückzog. „Stattdessen kommen sie jetzt an unsere Grenze“.
Russlands Stärken
Es war eine Bürgersprechstunde mit schwierigen Themen in einer äußerst angespannten Zeit. In seinem Schlusswort machte der Präsident den Menschen Mut. Russland sei immer noch das größte Land der Erde mit der größten Menge an Bodenschätzen und einem Volk, welches starke geistige Wurzeln habe. Viele Eltern hätten erkannt, dass Wissenschaft und Bildung Russlands Zukunft sichern, weshalb sie ihren Kindern zu einer guten Ausbildung raten.
Titelbild: © The President of Russia