Nach 18 Monaten und 50 Sitzungen ist Schluss mit dem Maut-Untersuchungsausschuss, der Abschlussbericht vom Bundestag durchgewunken und der Angeklagte halbwegs reingewaschen. Aus Sicht von Union und SPD hat der Verkehrsminister zwar manches verbockt, sich aber nichts Schlimmeres zu Schulden kommen lassen. Die Opposition beklagt dagegen Lügen, Rechtsbrüche und Versagen auf ganzer Linie. Aber auch Dilettantismus will gekonnt sein, findet Ralf Wurzbacher und würdigt einen Amtsträger unter Remote-Control-Einfluss.
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Noch ziemlich genau drei Monate, dann hat er es geschafft. Dann ist Bundestagswahl und Andreas Scheuer der Titel des größten Mauschel- und Durchwurstelministers, den Deutschland je gesehen hat, nicht mehr zu nehmen. Den Siegerkelch hat er sich wahrlich verdient. Vier lange Jahre liegen hinter dem CSU-Politiker, in denen er als Chef des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) gefühlt im Wochentakt für Affären, Verfehlungen und Vergehen sorgte und ihn doch kein Fauxpas zum Straucheln brachte. Bei mithin einer Handvoll Rücktrittsgründen klebt er so fest in seinem Sessel wie eh und je.
Die Laudatio möge demnächst die Kanzlerin halten, die ihm noch jeden Bolzen hat durchgehen lassen: Unerreicht bleibt seine Langmut, die ihn jede Anfeindung, allen Hohn und Spott erdulden ließ. Bravourös seine Schamlosigkeit, wie er Amtsverstoß um Amtsverstoß geleugnet, beschönigt oder verklärt hat. Famos seine Aufopferung, mit der er für sämtliche seiner Peinlichkeiten wacker den Kopf hingehalten und nicht – wie Menschen mit Haltung und Anstand – aus Reue und Selbstachtung das Weite gesucht hat.
Abgrund an Ignoranz
Ohne Frage hat Andi S. sein Meisterstück mit der „Ausländermaut“ hingelegt. In ihrem gemeinsamen Sondervotum zum Abschlussbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Umstände des vermasselten Projekts, adeln die Fraktionen von FDP, Grünen und Linkspartei sein Tun in den höchsten Tönen: „Nach der Vernehmung von 72 Zeugen und Sachverständigen in 24 Beweisaufnahmen bleibt man fassungslos zurück und blickt in einen politischen Abgrund von Ignoranz, Verantwortungslosigkeit, Bedenkenlosigkeit und Rechtsbruch – verbunden mit einem Erschrecken über mangelhaftes Regierungshandwerk.“
Mehr davon! Scheuer habe den „größtmöglichen Schaden für die Bundesrepublik in Kauf“ genommen und bayerische Parteiinteressen „höher gewichtet als das Gemeinwohl“. Der Prozess sei gekennzeichnet gewesen von fehlender Verantwortung und dem gezielten Umgehen rechtlicher Vorschriften und gesetzlicher Vorgaben. „Dabei war die Grenze zwischen Vorsatz und grober Fahrlässigkeit fließend.“ Klar sei schon jetzt, „die Schlussrechnung für das Scheitern (…) wird uns allen erst nach der Bundestagswahl präsentiert werden“. Schon die Zwischenbilanz hat es in sich: Allein die Kosten für Anwälte und Berater sollen bereits die Marke von 70 Millionen Euro geknackt haben.
Kritik von Union und SPD
Wurde Scheuer je treffender belobigt? Aber selbst der durch die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD am vergangenen Mittwoch im Bundestag verabschiedete Hauptreport spart nicht mit Lorbeeren. Zu lesen ist da von Fehlern, insbesondere was die Unterzeichnung der Kontrakte zu einem Zeitpunkt angeht, als noch keine abschließende Rechtssicherheit bestand. Zur Erinnerung: Der Bundesverkehrsminister hatte die Verträge mit den am Ende verhinderten Betreiberfirmen Kapsch Traffic-Com und CTS Eventim ein halbes Jahr vor dem entscheidenden Votum des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unterzeichnet. Das oberste EU-Gericht kippte im Juni 2019 den „diskriminierenden“ deutschen Sonderweg, mit dem Fahrer aus dem Ausland abkassiert und einheimische durch Senkung der Kfz-Steuer verschont werden sollten. Nur Stunden später annullierte das BMVI die Kontrakte mit der Projektgesellschaft Autoticket aus ordnungspolitischen Gründen und wegen vermeintlicher „Schlechtleistung“.
Nach Auffassung der Koalitionsfraktionen hätte der Gefahr eines vollständigen Scheiterns vor dem EuGH in der Risikoabwägung „eine größere Bedeutung zukommen müssen“. Dies betreffe „insbesondere die finanziellen Folgen einer Kündigung allein aus ordnungspolitischen Gründen, die vor Vertragsabschluss im BMVI nicht thematisiert worden sind“. Umso brennender ist das Thema Folgekosten jetzt. Derzeit streitet die Bundesregierung mit Kapsch und Eventim vor einem geheim tagenden Schiedsgericht, ob und in welcher Höhe die Unternehmen zu entschädigen sind. Diese wollen juristisch nicht weniger als den entgangenen Gewinn eintreiben, schlappe 560 Millionen Euro. Und schlechte Karten haben sie nicht. Denn natürlich ist das Argument minderer Leistungen bloß vorgeschoben. Als es die Kündigung setzte, hatten sie mit ihrer Arbeit praktisch noch gar nicht losgelegt.
Voller Profit bei null Leistung
Ihre Position gestärkt sehen die Kläger durch die im Untersuchungsausschuss gewonnenen Erkenntnisse. Das Parlament habe klar herausgearbeitet, „dass die abrupte Kündigung der Verträge ausschließlich politisch motiviert war“, äußerte sich Autoticket-Geschäftsführer Michael Blum am Mittwoch und hört vielleicht schon die Kasse klingeln. Vertragsgemäß sind den Investoren, sofern das Geschäft wegen ordnungspolitischer Gründe platzt, kräftige Vergeltungen zugesichert – nämlich der entgangene Profit über die gesamte restliche Vertragslaufzeit bis 2032. Maximale Rendite also bei null Leistung.
Wie Blum ausführte, sei der Schritt dazu völlig unnötig gewesen, da der EuGH nicht die Pkw-Maut generell untersagt habe, sondern nur deren Ausgestaltung. „Man hätte die zeitbezogene Abgabe anpassen können, zum Beispiel indem man ihr eine noch stärkere ökologische Lenkungskomponente gibt und zulässt, dass unökologische Fahrzeuge höhere Abgaben und umweltfreundliche Pkw weniger zahlen als bisher“, erklärte er. „Eine Modifikation in diese Richtung“ soll der Minister im September 2019 sogar „selbst ins Spiel gebracht“ haben.
Das war gewiss nur eine Finte von Scheuer. Denn was gibt einer auf Ökologie, für den ein Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde und höhere Dieselsteuern „gegen jeden Menschenverstand“ verstoßen? Oder der am liebsten jeden Monat eine neue Autobahn einweihen würde, der für Stuttgart 21 noch einmal vier Tunnel mehr für 5,5 Milliarden Euro extra in den Boden rammen möchte und ein Irrwitzvorhaben wie die Fehmarnbeltquerung durch den Ostseegrund vorantreibt.
Banker vorm Bierzelt
Ohnehin kennt sich der Andi aus Bayern mit Finten bestens aus. Zum Beispiel kam es bei der Vergabeentscheidung zugunsten eines privaten Pkw-Mautbetriebs zu merkwürdigen „Kostenexplosionen“ bei der Veranschlagung öffentlicher Ausgabenposten, weshalb das Staatsmodell den Kürzeren zog. Dazu fielen in den Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen mögliche Synergien durch Einbeziehung der im Bundesbesitz befindlichen Toll Collect GmbH, die die Lkw-Maut eintreibt, unter den Tisch. Um im vom Bundestag bewilligten Kostenrahmen zu bleiben, wurde außerdem das erste Gebot des Konsortiums über Nacht und hinter dem Rücken des Parlaments von über drei auf knapp über zwei Milliarden Euro eingedampft. Wobei die – bei der Vergabe noch unterschlagenen – Synergien durch Toll Collect plötzlich wieder ins Spiel kamen, diesmal jedoch zugunsten der Privatisierungsvariante.
Das alles und noch viel mehr hat der gute Scheuer auf die Beine gestellt, um das Prestigeprojekt, das nur für die Galerie eines für die CSU-Bierzeltseele war, durchzudrücken. Eigentlich kam der Auftrag dazu von mächtigen Kapitalfunktionären, die vom Totalausverkauf der öffentlichen Infrastruktur träumen, eine allgemeine Maut begehren und für all das die Autobahn-GmbH des Bundes entworfen haben, die – was auch sonst – seit 1. Januar als neue und alleinige Herrin über das Autobahnnetz so ziemlich alles verstümpert, was geht, und dabei massenhaft Steuergeld verpulvert. Aber später wird alles besser, wenn erst Planung, Bau und Betrieb der Betonpisten im großen Stil in öffentlich-privater Partnerschaft gewuppt werden und sich Banken, Versicherungen und Hedgefonds eine goldene Nase auf Staatskosten verdienen.
Anschlussbeschäftigung sicher
Das alles wird der Andi aus Passau absehbar nicht mehr als Minister miterleben. Denn wer wollte sich so einen noch mal ins Kabinett holen. Für neun von zehn Bürgern ist der CSU-Mann in politisch leitender Position nicht mehr hinnehmbar. Weil er sich als einfacher Abgeordneter selber zu schade sein dürfte, wird er seine Erfüllung wohl anderswo suchen, dort wo er noch und wieder gebraucht wird, wie so viele vor ihm, die den Übergang vom politischen ins Wirtschaftsleben reibungslos und bei vervielfachter Vergütung gemeistert haben.
Aber Scheuer wäre nicht er selbst, ließe er nicht andere an seinem künftigen Glück teilhaben. Zum Beispiel Ex-Staatssekretär Gerhard Schulz, der einst als „Mister Maut“ den Deal mit Kapsch und Eventim maßgeblich herbeigeführt hatte. Drei Monate später, im März 2019, beurlaubte ihn sein Chef dann Richtung Toll Collect, wo er seither den Posten des Geschäftsführers innehat. Den soll er weiter behalten und zwar, so will es sein Förderer, für mindestens fünf Jahre und bei einen Salär von mehr als zwei Millionen Euro jährlich. Die Opposition hatte dagegen bis zuletzt Schulz’ Absetzung gefordert, weil dieser für das „Chaos und die Pflichtverletzungen auf Arbeitsebene“ zumindest mitverantwortlich sei.
Zum Vergessen
Davon allerdings hat Scheuer schon manches vergessen. Etwa die Sache mit der Offerte, die ihm seine Geschäftspartner gemacht haben sollen. Manager von Kapsch und Eventim beteuerten bei ihrer Vernehmung im Parlament, dem Minister vorgeschlagen zu haben, mit der Vertragsunterzeichnung bis zum entscheidenden EuGH-Urteil zu warten. Der wollte diese Version partout nicht wahrhaben und berief sich auf amnestische Ausfälle: „Ich kann mich an ein Angebot in irgendeiner Weise nicht erinnern.“ Auch habe bei der fraglichen Zusammenkunft „gar keine Veranlassung“ bestanden, über „eine solche Frage zu sprechen oder nachzudenken“. Nur gut, dass er damals sein rechte Hand Schulz an seiner Seite hatte. Vor dem Ausschuss stritt auch er das vermeintliche Angebot ab.
Im Abschlussbericht liest man dazu: Hinsichtlich der fraglichen Zusammenkünfte mit den Betreiberparteien stünden „sich teilweise konträre Aussagen gegenüber“, weshalb der Ausschuss „Verlauf und Inhalt der Gespräche bei den strittigen Punkten“ nicht habe klären können. Im Zweifel für den Angeklagten also. Ähnlich handeln die Unions- und SPD-Vertreter den großen Rest von Scheuers Sündenregister ab. Vorgeworfen werden ihm seitens der Opposition neben vielem mehr: Kalkulierter Bruch von Haushalts- und Vergaberecht, diverse Täuschungsmanöver, mangelhafte Transparenz, Unvermögen, mangelndes Regierungshandwerk, Falschaussagen zu diversen Geheimtreffen mit Autoticket-Vertretern, die Nutzung privater E-Mail-Accounts zu Dienstzwecken, das Löschen von Handydaten oder die Weigerung, mit einem Sonderermittler zu kooperieren.
Keine Ahnung ist gefragt
Bei all dem lässt der Hauptbericht Milde walten: „Als Ergebnis der Beweisaufnahme muss auch hervorgehoben werden, „dass kein Fall einer Lüge, bewusster Verheimlichung oder Manipulation seitens des BMVI oder von Herrn Bundesminister Scheuer MdB persönlich glaubhaft nachgewiesen werden konnte“. Auch zum Hauptvorwurf, dem voreiligen Vertragsabschluss ohne Rechtssicherheit, erteilen die „Ermittler“ Absolution. Das Vorgehen sei, wenn auch risikobehaftet, „vertretbar“ gewesen.
Was auch sonst, schließlich hatte sich Scheuer, der bekennende Christ, den Segen dafür von einem Stellvertreter Gottes eingeholt. Das Gutachten, das den Deal auch ohne höchstrichterliches Verdikt empfahl, lieferte der Bonner Kirchenrechtler Christian Hillgruber. Der kam wie gerufen: „Wir haben jetzt auch jemanden gefunden, der das – also, der europarechtlich noch mal die Argumentation stützt, die wir haben“, soll nach Aussagen einer befragten Zeugin einer der damals zuständigen Staatssekretäre, entweder Schulz oder Rainer Bomba, geäußert haben. Jedenfalls machte Hillgruber gleich Nägel mit Köpfen, obwohl er sich vor der Beauftragung durch das Verkehrsministerium „nicht mit europäischer Verkehrspolitik beschäftigt“ und „erst in die einschlägigen Gesetze auf europäischer Ebene“ habe einarbeiten müssen, wie er vor dem Ausschuss zu Protokoll gab. „Aber das habe ich auch als reizvoll angesehen, muss ich gestehen. Also, ich bin jemand, der nicht immer nur dieselben Felder beackert, sondern eben auch gerne die Herausforderung sucht.“
Ja, das hat er mit dem Andi gemein: Keine Ahnung, aber zu jeder Schandtat bereit. Bitte Herr Laschet, bitte Frau Baerbock: Lassen sie den Mann vier Jahre weiter wursteln. Dann klappt’s bestimmt auch mit der Maut, zur Not sogar mit Ökolabel, wie dies aktuell sogar Eventim-Chef Klaus-Peter Schulenberg als Friedensangebot im „Handelsblatt“ angeregt hat. Daran hätten bestimmt auch die Allianz, Ergo und Co. ihre Freude. Und Scheuer erst. Denn um wie viel lukrativer fiele dann erst 2025 seine Selbstprivatisierung aus?
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