Die Lehranstalten im Lande schalten langsam auf Normalbetrieb um und Jens Spahn gibt einmal mehr den Bremser. Im neuen Schuljahr stünden weiter Wechselunterricht, Masken und Corona-Tests auf dem Programm, ließ er verlauten, aber beschlossen sei noch nichts. Wie im Vorjahr soll der Notstand offenbar bis in den Herbst überbrückt werden, wobei die Delta-Variante der Hebel dafür sein könnte. Dazu verspricht die Mutante aus Indien neuen Argumentationsstoff für eine Massenimpfung von Kindern und Jugendlichen. Für Bildungsforscher wäre ein neuerlicher Lockdown ein Graus. Nach einer Studie der Goethe-Universität ist Homeschooling so effektiv wie Sommerferien. Von Ralf Wurzbacher.
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Danke schön, Herr Spahn! Kaum, dass sich Deutschlands Schulen nach monatelanger Abnormität aufmachen, zu einem halbwegs normalen Unterrichtsbetrieb mit Präsenzlehre in voller Klassenstärke zurückzukehren und Kinder mancherorts sogar, wie seit Wochenbeginn in Rheinland-Pfalz, frei und barrierefrei durchatmen können, trampelt der Bundesgesundheitsminister das zarte Pflänzchen neuen Mutes prompt wieder platt. Mit Blick auf die Zeit nach den Sommerferien gab er am vergangenen Wochenende bei einer Online-Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing zu Protokoll: „Wir werden nicht völlig ohne Schutzmaßnahmen – sei es Maske, Abstand, Wechselunterricht, Tests vor allem auch – wieder in den Schulbetrieb gehen können.“
Das war eine Wortmeldung zur Unzeit. Natürlich lässt sich jetzt noch nicht sicher absehen, wie die Corona-Lage in zwei oder drei Monaten aussehen wird. Aber muss man Kindern und Eltern, die Schule und Bildung seit über einem halben Jahr bloß noch in der Magerstufe kennen und heftigste Verrenkungen unternommen haben, um irgendwie ihren Alltag zwischen Beruf, Haushalt und Homeschooling zu managen, beim ersten Lichtblick der Besserung gleich wieder mit der Angstkeule kommen? Nein, muss man nicht. Zumal die Angstkeule in eineinhalb Jahren schon viel zu oft geschwungen wurde, ohne dass es dafür, wie sich spätestens nachträglich herausstellte, stichhaltige Gründe gegeben hätte.
Kein Durchatmen
Waren die deutschen Lehranstalten jemals die „Virenhotspots“, zu denen sie immer auch wieder Jens Spahn (CDU) erklärt hat? Eben nicht: Selbst in der sogenannten dritten Welle im Frühjahr, dominiert von der angeblich hochansteckenden britischen Mutante, für die gerade jüngere Menschen besonders empfänglich sein sollen, waren die Schulklassen und Pausenhöfe weit weg davon, „Infektionsherde“ zu sein. In Hamburg zum Beispiel hatten bei über einer Million Schnelltests innerhalb von fünf Wochen 1.128 Schüler und Pädagogen einen Positivbefund. Das entspricht einer Quote von 0,1128 Prozent, wobei sich davon statistisch mithin die Hälfte als falscher Alarm erwiesen haben müsste. Laut Robert Koch-Institut (RKI) bewegt sich die Fehleranfälligkeit bei Schnelltests mit Positivbefund zwischen 40 bis 50 Prozent.
Nach Zahlen der Kultusministerkonferenz (KMK) waren in der 23. Kalenderwoche (7. bis 13. Juni) deutschlandweit 4.221 Schülerinnen und Schüler „aktuell mit Covid-19 infiziert“, was bezogen auf die Gesamtschülerzahl eine Quote von 0,04 Prozent bedeutet. Bei Lehrkräften lag der Anteil bei 0,03 Prozent. Trotzdem werden Heranwachsende, selbst die Kleinsten in den Grundschulen, bis heute überall in Deutschland zwei- bis dreimal wöchentlich zum Nasepopeln zwecks Selbsttest genötigt. Mit welcher Rechtfertigung? Nicht nur geht dabei wertvolle Unterrichtszeit verschütt. Auch signalisiert man den mental ohnedies gebeutelten Kindern und Jugendlichen damit jeden Tag aufs Neue, dass es eine Abkehr vom Ausnahmezustand alsbald nicht geben wird. Angesichts seit Wochen sinkender Inzidenzwerte, die selbst jeder wissenschaftlichen Evidenz entbehren, könnte man ihnen wenigstens eine Pause von der ganzen Corona-Aufregung gönnen und sie mit dem guten Gefühl in die Ferien schicken, dass Schule danach wieder die alte sein wird.
KMK will vollen Präsenzbetrieb
Denn genau das wollen ja auch die Kultusminister. „Am wichtigsten ist, dass die Schulen in vollständigem Präsenzunterricht starten“, hatte die amtierende KMK-Präsidentin Britta Ernst (SPD) vor zwei Wochen im Anschluss an eine Tagung zum Stand der Pandemieentwicklung bekräftigt. Noch weiter ging Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU): „Das Entscheidende für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler ist, dass der Schulbetrieb im neuen Schuljahr mit all seinen Aspekten – dazu gehören neben dem Unterricht natürlich auch Klassenfahrten, Exkursionen, AGs, Förder- und Ganztagsangebote – in vollem Umfang stattfindet. Denn effektives Lernen ist immer auch soziales Lernen.“
Wusste Jens Spahn von den KMK-Beschlüssen nichts, als er seine Zweifel an einem Zurück zum normalen Schulbetrieb streute? Oder ließ er einfach seinem Bauchgefühl freien Lauf? So wie er es schon wiederholt in der Krise tat, um bald darauf eine 180-Grad-Wendung vorzunehmen. Zum Beispiel war er anfangs gegen eine allgemeine Maskenpflicht, die er dann später eisenhart verteidigte. Auch hatte er einmal Mitte Juni 2020 davor gewarnt, dass „wir nicht nachher durch zu umfangreiches Testen (…) zu viel falsch Positive haben“. Gleichwohl trieb er danach die PCR-Testeritis auf ein Niveau von bisweilen 1,5 Millionen pro Woche hoch, was Deutschland ein sommerliches „Infektionsgeschehen“ bescherte.
Irrtümer und Verfehlungen
Oder hatte Spahn nicht Tausende neuer Intensivbetten versprochen und dafür eine halbe Milliarde Euro lockergemacht, die dann nie und nirgendwo aufgetaucht sind? Was ist mit den zig Milliarden Euro, die sein im Frühjahr 2020 angezettelter Maskenkaufrausch die Steuerzahler kostet? Was mit den Ausschussexemplaren, die er an Obdachlose und Menschen mit Behinderung verteilen wollte? Und wie lange will er noch Abermillionen Euro für eine Testinfrastruktur in Monsterformat verschleudern?
Man könnte die Liste an Irrtümern und Verfehlungen noch fortsetzen und sich wundern, warum dieser Minister nicht längst sein Hut nehmen musste. Und man könnte sich fragen, was das Dementi eines Politikers wert ist, der einmal Gesagtes mit großer Regelmäßigkeit selbst ad absurdum führt. Passend dazu heißt es auch jetzt wieder, Spahn habe das alles gar nicht so gemeint, wie es – vorneweg durch einen bösen Kommentator der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) – kolportiert und „aus dem Zusammenhang gerissen“ dargestellt worden sei. Der hatte die Worte des CDU-Politikers als Ankündigung ausgelegt, der Schulbetrieb werde „im Herbst wieder im Wechselmodell stattfinden“, über einen „Albtraum für Kinder und Eltern“ und eine „völlig verschobene Prioritätensetzung“ geklagt.
Zweifel an Massenimpfung?
Tatsächlich hat Spahn wohl nur von „Beispielen“ gesprochen und nicht etwa von „Beschlüssen“, wie sogleich die „Faktenfinder“ der ARD die Dinge geraderückten. Ausdrücklich habe er betont, dass „noch keine Entscheidung“ gefallen sei, welche Maßnahmen angedacht sind. Im Wortlaut: „Ich will die jetzt noch nicht en detail definieren.“ Das wäre wohl auch reichlich verfrüht und erschiene vor dem Hintergrund der an Fahrt gewonnenen Impfkampagne ziemlich befremdlich. Denn hätten, wonach es aussieht, bis Ende des Sommers 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung den vollen Impfschutz, müsste das Virus wegen des so erreichten Herdenschutzes schlechte Karten haben. Zumindest ging so bisher immer die Erzählung der Bundesregierung und ihrer Berater.
Weshalb sollten die Schulen dann wieder in den Hybrid- oder Distanzbetrieb übergehen? Zumal man ja inzwischen selbst beim RKI festgestellt hat, dass das Klassenzimmer keine Virenfabrik ist und die Gefahr, in jungen Jahren an Covid-19 schwer zu erkranken oder gar daran zu sterben, gegen Null geht. Warum gilt es dann aber laut Spahn, auch künftig zu verhindern, dass die Schulen zur „Drehscheibe in die Haushalte hinein“ werden? Wenn Eltern und Großeltern durch die Impfung geschützt sind und Kinder kaum oder gar nicht gefährdet, müsste doch kein Grund mehr zur Besorgnis bestehen, so wenig wie die Notwendigkeit, auch Heranwachsende zu impfen. Oder zweifelt Spahn selbst an der großen Erfolgsstory der Massenimpfung?
Dafür legt sich Jens Spahn sehr für die Corona-Impfung von Minderjährigen ins Zeug. Das wirkt verstörend. Nach einer Auswertung der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie (DGPI) erlagen bis April vier Kinder und Jugendliche nachweislich einer Infektion mit SARS-Cov-2. Bezogen auf ihre Gesamtzahl liege die Gefahr, an Covid-19 zu versterben, bei unter „0,00002 Prozent“. Daraus schloss die DGPI: „Die weiterhin bestehende extreme Seltenheit eines schweren oder gar tödlichen Verlaufes von SARS-CoV-2 bei Kindern und Jugendlichen ist nicht geeignet, als Argument für Schul- und Kita-Schließungen benutzt zu werden.“
„Praktisch nichts wirklich evidenzbasiert“
Für Leute vom Fach gilt dasselbe bei der Frage, ob man Heranwachsende impfen sollte. Sowohl die Ständige Impfkommission (STIKO) als auch ganz aktuell die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sehen hierfür keine hinreichende Notwendigkeit. In einer WHO-Stellungnahme vom Dienstag heißt es: „Kinder und Jugendliche neigen im Vergleich zu Erwachsenen zu milderen Krankheitsverläufen. Sofern sie also nicht zu einer Gruppe mit höherem Risiko für schweres Covid-19 gehören, ist es weniger dringlich, sie zu impfen als ältere Menschen, Personen mit chronischen Gesundheitszuständen und medizinisches Personal.“
Das deckt sich mit der Position der STIKO, die eine Impfung nur für junge Menschen mit besonderen Vorerkrankungen empfohlen hat. Ihr Vorsitzender Thomas Mertens hatte am Wochenende erneut zur politischen Debatte um eine Massenimpfung von Kindern und Jugendlichen Stellung bezogen: „Von diesen ganzen Aussagen war ja praktisch nichts wirklich evidenzbasiert“. Vieles von dem, was schon vor der Zulassung eines Impfstoffs diskutiert worden sei, „hält eigentlich einer kritischen Betrachtung nicht stand“.
Kids an die Nadel
Das war auch an Spahns Adresse gerichtet. Der hatte schon im Vorfeld der STIKO-Empfehlung ausposaunt, sich bei einem negativen Votum einfach darüber hinwegzusetzen und, sobald verfügbar, eine flächendeckende Vakzinierung von Minderjährigen voranzutreiben. Das ist einmal mehr ein ungeheuerlicher Vorgang und ein Zeugnis höchster Unverantwortlichkeit. Losgehen wird es mit den ab Zwölfjährigen. Für sie soll es nach dem Beschluss des jüngsten Impfgipfels von Bund und Ländern als erstes ein Impfangebot geben. Das könnte nur der Anfang sein. Wegen der möglichen Ausbreitung der sogenannten Delta-Variante stimmt das Corona-Panikorchester schon wieder schrillste Untergangsklänge an. Wobei der BMG-Chef wie immer bei den ersten Geigern mitfiedelt. Es sei zwar eines der Hauptziele, das normale Schulleben so lange wie möglich zu bewahren. Doch: „Wir müssen auf alles vorbereitet sein.“
Das ist die Politik nach Meinung des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB) gerade nicht. Auch in dieser Phase der Pandemie werde zur Vorbeugung einer womöglich vierten Welle und zum Schutz der Schulen politisch wieder nicht genug unternommen – etwa durch bessere Digitalausstattung oder den rechtzeitigen Einbau von Lüftungen, monierte am Dienstag Verbandspräsident Heinz Hilgers. „Das ist ein einziges Trauerspiel“, beschied er. „Ich fürchte, die Kinder werden erneut die Verlierer der Pandemie sein.“
Schule wie Urlaub
Einen ähnlichen Appell setzte am Montag die Wissenschaftsakademie Leopoldina ab. Demnach sei der „Präsenzbetrieb in Bildungseinrichtungen unter Einhaltung geeigneter Schutzmaßnahmen (…) wieder durchgängig zu ermöglichen, weil dieser für nahezu alle Kita- und Schulkinder die effektivste Art des Lernens ist“. Immerhin beweist die Leopoldina damit selbst ein Stück weit Lernfähigkeit. Die Organisation war die Hauptantreiberin für den harten Lockdown im Dezember 2020. Ihren Rat, formuliert in einer dürren Ad-Hoc-Stellungnahme bar jeder wissenschaftlichen Validität, machte sich damals die Bundesregierung zu eigen, was Millionen Schülerinnen und Schüler mit monatelangem Distanz- oder Wechselunterricht ausbaden mussten. Beide Begriffe finden sich in neuesten Einlassung nicht mehr und man kann mutmaßen, ob dies der wahre Grund für Spahns halben Rückzieher ist. Der Minister wirkt in seinem Wankelmut nicht zum ersten Mal wie fremdgesteuert.
Ebenfalls am Montag legte die Goethe-Universität Frankfurt (Main) eine Metastudie vor, um damit den Ertrag von Homeschooling-Maßnahmen während der wochenlangen Schulschließungen im ersten Lockdown vom Frühjahr 2020 zu ermitteln. Nach den Befunden haben die Schülerinnen und Schüler erhebliche Lern- und Leistungsdefizite aufgetürmt. Insbesondere habe sich „die Schere zwischen Arm und Reich (…) weiter geöffnet“, konstatierte Mitautor Andreas Frey. Sein Fazit: „Die durchschnittliche Kompetenzentwicklung“ sei „als Stagnation mit Tendenz zu Kompetenzeinbußen zu bezeichnen und liegt damit im Bereich der Effekte von Sommerferien“.
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