Es wird wieder gewarnt. Dieses Mal ist es die Delta-Variante des Corona-Virus, vor der die professionell mahnenden Stimmen warnen, und Delta-Plus wurde heute schon mal vorsorglich in den Nachrichten erwähnt. Gewarnt wird vor der vierten Welle, die uns schon in wenigen Monaten erreichen könnte. Gewarnt wird außerdem davor, dass alle, ausnahmslos alle, die sich nicht impfen lassen, sich früher oder später infizieren werden, mit der Delta-Version, oder vielleicht gar mit Delta-Plus. Und damit niemand diese Möglichkeit auf die leichte Schulter nimmt, wird auch gleich noch davor gewarnt, dass so eine Infektion sehr gefährlich sein kann, viel unangenehmer als die Impfreaktion, die ja durchaus sehr unangenehm sein kann, wenn man den eigenen Erfahrungen und den Informationen aus dem Small-Talk-Thema Nummer 1 glauben darf. Aber eine Infektion, so warnen die Experten, kann weitaus schlimmer sein, sogar für Kinder, so wird geraunt. Von Jörg Phil Friedrich.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Selbstverständlich wird es weitere Infektionswellen geben, es wird die Delta-Version des Corona-Virus sein, oder vielleicht die Theta-Version. Vielleicht werden wir in den nächsten Jahren das ganze griechische Alphabet auswendig lernen, und als Eselsbrücke nutzen wir die Jahreszeiten und Monate, in denen die jeweilige Variante zuerst aufgetreten ist. Man wird Gedichte schreiben, mit lustigen Reimen, da reimt sich „Beta“ auf „Später“ und erst „Psi“ reimt sich auf „Nie“.
Die Gedichte können die Schüler dann wieder im nächsten Lockdown auswendig lernen oder die Schauspieler, die wieder nicht auf Theaterbühnen spielen werden, können sie bei YouTube deklamieren.
Denn es wird zwar gewarnt, aber es geschieht nichts, um den nächsten Lockdown zu verhindern. Es werden keine Schulen mit Lüftungsanlagen ausgestattet. Es werden keine Altenheime umgebaut, sodass auch in einer Pandemie Besuche und Gemeinschaft sicher möglich sind. Und es wird viel zu wenig darüber gesprochen, welche Maßnahmen wirklich sinnvoll sind, um ein Ansteckungsrisko auf ein akzeptables Maß zu begrenzen.
Es wird auch nicht darüber gesprochen, was man aus den vergangenen Monaten lernen will, um bei künftigen Pandemien schneller zu einer möglichst umfassenden Beurteilung der Lage und zu möglichst abgewogenen Maßnahmen mit Augenmaß zu kommen. Wie müssten die Abstimmungen zwischen Virologinnen, Epidemiologen, Soziologinnen, Bildungswissenschaftlerinnen, Ökonomen und Forschern weiterer Disziplinen erfolgen, damit von Beginn an alle relevanten Aspekte der Krise begriffen und berücksichtigt werden können? Wie ist die Diskussion über verschiedene Ansichten innerhalb einer Fachdisziplin zu moderieren, sodass die Politik zugleich ein Verständnis für Handlungsoptionen und für die Schwierigkeiten der Beurteilung erhält? Wie können neben wissenschaftlicher Expertise auch die Interessen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen berücksichtigt werden, sodass es nicht weiter zu immer tieferen Spaltungen der Gesellschaft kommt? Das muss jetzt politisch diskutiert werden, dafür müssen Vorschläge auf den Tisch. Wie lassen sich vernünftige Maßnahmen gegen eine Pandemie bestimmen, ohne dass mit der Selbstverständlichkeit der Arroganz der Macht das Grundgesetz und die Grundrechte ignoriert werden?
Aber daran hat die politische Klasse kein Interesse, weder die Regierungschefs auf Bundes- und Länderebene, noch die Abgeordneten der Parlamente, noch die Richter, die deren Handeln kontrollieren sollen, und auch nicht die Politikberater aus der Wissenschaft, die in der letzten Krise gehört und im Monatstakt mit Preisen bedacht wurden und die sich sicher sein können, auch in der nächsten Krise wieder ganz oben auf der Liste der einflussreichen Experten zu stehen.
Man muss es klar sehen: Nie regiert es sich so einfach wie in einer Krise, auf die man nicht vorbereitet ist. Die letzten anderthalb Jahre haben gezeigt: Die Leute sind zum großen Teil bereit, alles mitzumachen und zu akzeptieren, was ihnen unter dem Vorwand der Alternativlosigkeit zugemutet wird. Sie lechzen nach Vorschriften, für die das Wort „Maßnahme“ eigentlich ein Euphemismus ist, denn Maßnahmen wäre zu nennen, wenn jetzt die richtigen Wege beschritten würden, um Vorschriften in Zukunft unnötig zu machen. Sie hängen den Experten an den Lippen und glauben am liebsten denen, die die härtesten Vorschriften fordern. Zudem, auch das zeigten die letzten Monate, ist die Mehrheit der Menschen offenbar der Meinung, dass alle, die Zweifel an der Notwendigkeit drakonischer Maßnahmen zum Gesundheitsschutz haben und diesen auch noch öffentlich äußern, als Störenfriede an die Ränder der Gesellschaft gedrängt werden müssen.
Das ist eine Stimmung, in der es sich leicht regieren lässt, zumal mit Vorschriften zum Gesundheitsschutz auch gleich die Möglichkeiten beschnitten werden können, öffentlich sichtbar Opposition zu demonstrieren. Wann war die letzte Kundgebung in Deutschland möglich, auf der Zehntausende dicht gedrängt und lautstark ihren Unwillen zur aktuellen Politik kundtun konnten?
So haben, wie die Dinge stehen, die Politik, ihre etablierten Berater und die anerkannten Experten in den Medien am wenigsten von einer vierten Welle und von weiteren Pandemien zu befürchten. Die Warnungen, die sie verkünden, richten sich nicht an sie selbst, sondern an das Volk, sich diszipliniert zu verhalten, weil es sonst selbst schuld ist, wenn bald schon der nächste Lockdown nötig wird. Es sei denn, die Schüler und Eltern, die Musikerinnen und Künstler, die Gastronomen und vor allem die, die ihre politische Meinung auf Straßen und Plätzen sichtbar und gemeinsam kundtun wollen, wenn es nötig ist, nutzen den Sommer, um der Politik klarzumachen, dass sie einen weiteren Lockdown nicht akzeptieren werden.
Titelbild: New Africa/shutterstock.com