Im Folgenden dokumentieren wir eine Rede, die Chris Hedges am 10. Juni in New York City auf einer Demonstration zur Unterstützung von Julian Assange hielt. Auch John und Gabriel Shipton, Julians Vater und Bruder, sprachen dort. Sie sind derzeit auf Amerika-Tour, auf der sie um Unterstützung für ihr Anliegen werben: #Homerun4Julian#. Julian Assange wartet derweil immer noch im Londoner Hochsicherheitsgefängnis auf seine Freilassung, in Isolation. Jüngst durfte er das erste Mal seit acht Monaten Besuch von seiner Freundin und seinen kleinen Kindern bekommen. Aus dem US-Amerikanischen von Susanne Hofmann.
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Julian Assange und der Zusammenbruch der Herrschaft des Rechts
von Chris Hedges
Eine Gesellschaft, die verhindert, dass die Wahrheit ausgesprochen werden darf, schafft die Möglichkeit ab, in Gerechtigkeit zu leben.
Deshalb sind wir heute Abend hier. Ja, alle von uns, die Julian kennen und bewundern, beklagen sein langes Leiden und das Leiden seiner Familie. Ja, wir verlangen, dass es ein Ende hat mit den vielen Ungerechtigkeiten, mit denen man ihn überzogen hat. Ja, wir ehren ihn für seinen Mut und seine Redlichkeit. Aber beim Kampf um Julians Freiheit ging es schon immer um weit mehr als um die Verfolgung eines Herausgebers. Es ist der wichtigste Kampf um Pressefreiheit unserer Zeit. Und wenn wir diesen Kampf verlieren, wäre das verheerend, nicht nur für Julian und seine Familie, sondern auch für uns.
Tyranneien kehren die Herrschaft des Rechts um. Sie verwandeln das Recht in ein Instrument der Ungerechtigkeit. Sie bemänteln ihre Verbrechen mit falscher Rechtmäßigkeit. Sie benutzen den äußeren Anstand von Gerichten und Prozessen, um ihre Kriminalität zu verschleiern. Menschen wie Julian, die diese Kriminalität enthüllen und der Öffentlichkeit zeigen, sind gefährlich. Denn ohne den Vorwand der Rechtmäßigkeit verliert die Tyrannei an Glaubwürdigkeit. Dann bleibt in ihrem Arsenal nur noch Angst, Zwang und Gewalt.
Die lange Kampagne gegen Julian und WikiLeaks lässt wie durch ein Fenster den Zusammenbruch der Herrschaft des Rechts erkennen, den Aufstieg dessen, was der politische Philosoph Sheldon Wolin unser System des „umgekehrten Totalitarismus“ nennt, eine Form von Totalitarismus, die an den Fiktionen der alten kapitalistischen Demokratie festhält, inklusive ihrer Institutionen, ihrer Ikonographie, patriotischer Symbole und Rhetorik, die in ihrem Inneren aber dem Diktat globaler Unternehmen die totale Kontrolle überlassen hat.
Ich war im Londoner Gerichtssaal dabei, als Julian von der Richterin Vanessa Baraitser, einer Inkarnation der Königin der Herzen aus „Alice im Wunderland“, der Prozess gemacht wurde. Er war eine juristische Farce. Julian zu inhaftieren, entbehrte jeder rechtlichen Grundlage. Ihn, einen australischen Bürger, nach dem US-Spionage-Gesetz anzuklagen, entbehrte jeder rechtlichen Grundlage. Die CIA spähte Julian in der Botschaft aus (dazu läuft gerade ein Prozess in Madrid; Anmerkung der Übersetzerin) und bediente sich dazu der spanischen Firma UC Global, die den Auftrag hatte, die Botschaft abzusichern. Die Ausspähung ging so weit, dass man die vertraulichen Gespräche zwischen Julian und seinen Anwälten aufzeichnete, als sie seine Verteidigung besprachen. Alleine diese Tatsache hat den Prozess ungültig gemacht. Julian wird in einem Hochsicherheitsgefängnis gefangen gehalten, damit der Staat, so die Zeugenaussage von Nils Melzer, dem UN-Sonderberichterstatter über Folter, die erniedrigende Misshandlung und Folter fortsetzen kann, von denen der Staat hofft, dass sie zu seinem psychischen, wenn nicht gar physischen Zerfall führen.
Wie Craig Murray so eloquent dokumentiert hat, dirigierte die US-Regierung den Ankläger James Lewis in London. Lewis gab diese Anweisungen sodann an Baraitser weiter. Baraitser übernahm sie als ihre rechtliche Entscheidung. Es war eine gerichtliche Pantomime. Lewis und die Richterin pochten darauf, dass sie nicht versuchten, Journalisten zu kriminalisieren und die Presse zum Schweigen zu bringen, während sie eifrig den rechtlichen Rahmen schufen, genau das zu tun – Journalisten zu kriminalisieren und die Presse zum Schweigen zu bringen. Das ist der Grund, weshalb das Gericht alle Hebel dafür in Bewegung setzte, den Zugang zum Gerichtssaal auf eine Handvoll Beobachter zu begrenzen, und es so schwer und bisweilen unmöglich machte, den Prozess online zu verfolgen. Es war ein schäbiger Schauprozess, kein Beispiel bester englischer Rechtsprechung, sondern der Lubyanka (Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes in Moskau, in dem politische Gefangene gefoltert und oftmals zum Tode verurteilt wurden; Anmerkung der Übersetzerin).
Ich weiß, dass sich viele von uns hier selbst als gerne als Radikale sähen, vielleicht sogar als Revolutionäre. Doch, was wir hier fordern, ist im politischen Spektrum eigentlich konservativ: Es geht um die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit. Einfach und grundlegend. Das sollte in einer funktionierenden Demokratie nichts Aufrührerisches sein. Doch in einem despotischen System nach dem Prinzip der Wahrheit zu leben, ist der äußerste Akt tollkühnen Widerstandes. Diese Wahrheit versetzt die Mächtigen in Angst und Schrecken.
Die Architekten des Imperialismus, die Kriegsherren, die von Unternehmen kontrollierte Legislative, Judikative und Exekutive und ihre servilen Höflinge in den Medien, sind illegitim. Wer diese einfache Wahrheit ausspricht, wird an den Rand der Medienlandschaft verbannt. Wer diese Wahrheit beweist, wie es Julian, Chelsea Manning, Jeremy Hammond und Edward Snowden getan haben, indem sie uns einen Einblick in die verborgenen Mechanismen der Macht gewährt haben, wird gejagt und verfolgt.
Kurz nachdem WikiLeaks im Oktober 2010 das Kriegstagebuch des Irakkrieges veröffentlicht hatte, das zahlreiche US-Kriegsverbrechen dokumentiert – darunter Videoaufnahmen von der Erschießung von zwei Reuters-Journalisten und zehn weiteren unbewaffneten Zivilisten im Video „Collateral Murder“ (das wurde schon am 5. April 2010 veröffentlicht; Anmerkung der Übersetzerin), die routinemäßige Folterung irakischer Gefangener, die Vertuschung tausender Todesfälle von Zivilisten und die Ermordung von fast 700 Zivilisten, die US-Checkpoints zu nahe gekommen waren – trafen sich die überragenden Bürgerrechtsanwälte Len Weinglass und mein guter Freund Michael Ratner, den ich später begleiten würde, um Julian in der ecuadorianischen Botschaft zu treffen, mit Julian in einer Londoner Wohnung. Julians persönliche Bankkarten waren gesperrt worden. Drei verschlüsselte Laptops mit Dokumenten zu US-Kriegsverbrechen waren auf dem Weg nach London aus seinem Gepäck verschwunden. Die schwedische Polizei sei dabei, so die Warnung Ratners, eine Klage gegen Julian zu fingieren, um ihn an die Vereinigten Staaten auszuliefern.
„WikiLeaks und dir persönlich steht ein rechtlicher und politischer Kampf ins Haus“, sagte Weinglass zu Assange. „Wie wir seit dem Fall der Pentagon Papers wissen, mag es die US-Regierung nicht, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Sie mag es auch nicht, beschämt zu werden. Ganz gleich, ob es sich um Nixon oder Bush oder Obama handelt, ob Republikaner oder Demokrat im Weißen Haus. Die US-Regierung wird alles daransetzen, dich davon abzuhalten, ihre hässlichen Geheimnisse an die Öffentlichkeit zu bringen. Und wenn sie dich und den Ersten Zusatzartikel der US-Verfassung (der unter anderem die Rede- und Pressefreiheit garantiert; Anmerkung der Übersetzerin) dafür zerstören müssen, dann sind sie gewillt, das zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass sie hinter WikiLeaks und dir, Julian, als Herausgeber, her sein werden.“
„Weswegen sind sie denn hinter mir her?”, fragte Julian.
„Wegen Spionage”, fuhr Weinglass fort. „Sie werden Bradley Manning [diesen Namen trug Chelsea damals] wegen Hochverrats nach dem Espionage Act von 1917 anklagen. Wir denken nicht, dass das hier anwendbar ist, weil Manning ein Whistleblower und kein Spion ist. Und wir sind auch nicht der Ansicht, dass es auf Sie anwendbar ist, weil Sie ein Herausgeber sind. Aber sie werden versuchen, Manning dazu zu zwingen, Sie als Kollaborateur zu verwickeln.
„Weswegen sind die denn hinter mir her?”, fragte Julian.
Das ist die Frage.
Sie verfolgten Julian nicht wegen seiner Laster, sondern wegen seiner Tugenden.
Sie waren hinter Julian her, weil er mehr als 15.000 nicht erfasste Todesfälle unter irakischen Zivilisten ans Licht gebracht hat;
weil er die Folter und Misshandlung von rund 800 Männern und Jungen im Alter zwischen 14 und 89 in Guantánamo enthüllt hat;
weil er aufgedeckt hat, dass Hillary Clinton im Jahr 2009 US-Diplomanten damit beauftragt hatte, UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sowie andere UN-Vertreter aus China, Frankreich, Russland und dem Vereinigten Königreich auszuspionieren und DNA, Iris-Scans, Fingerabdrücke und persönliche Passwörter zu erlangen – dies war Teil der großangelegten illegalen Überwachung, die auch das Abhören von UN-Generalsekretär Kofi Annan in den Wochen vor dem von den USA angeführten Einmarsch in den Irak im Jahr 2003 beinhaltete;
weil er enthüllt hat, dass Barack Obama, Hillary Clinton und die CIA im Juni 2009 den Militärputsch in Honduras orchestrierten, durch den der demokratisch gewählte Präsident Manuel Zelaya gestürzt und durch ein so mörderisches wie korruptes Militärregime ersetzt wurde;
weil er ans Licht gebracht hat, dass George W. Bush, Barack Obama und General David Petraeus im Irak einen Krieg führten, der unter den post-Nürnberger Gesetzen als krimineller Angriffskrieg definiert ist, als ein Kriegsverbrechen, dass sie Hunderte von gezielten Tötungen genehmigten, darunter die von US-Bürgern im Jemen, und dass sie heimlich Raketen-, Bomben- und Drohnenangriffe auf den Jemen gestartet haben, bei denen zahlreiche Zivilisten getötet wurden;
weil er aufdeckt hat, dass Goldman Sachs 657.000 US-Dollar an Hillary Clinton für Vorträge zahlte, eine derart große Summe, dass man sie nur als Bestechung ansehen kann, und dass Clinton privat Unternehmenschefs versicherte zu tun, was diese wollten, während sie der Öffentlichkeit die Regulierung des Finanzwesens und Reformen versprach;
weil er die interne Kampagne zur Diskreditierung und Vernichtung des britischen Labour-Parteiführers Jeremy Corbyn durch Mitglieder seiner eigenen Partei aufgedeckt hat;
weil er enthüllt hat, wie die von der CIA und der NSA verwendeten Hacker-Tools die flächendeckende Überwachung unserer Fernseher, Computer, Smartphones und Antiviren-Software durch die Regierung ermöglichen und es der Regierung erlauben, unsere Gespräche, Bilder und privaten Textnachrichten sogar von verschlüsselten Apps aufzuzeichnen und zu speichern.
Julian hat die Wahrheit ans Licht gebracht. Er hat sie wieder und wieder offengelegt, bis es keinen Zweifel mehr daran gab, dass illegales Handeln, Korruption und Verlogenheit bei der globalen Herrscher-Elite weit verbreitet sind. Und weil er diese Wahrheiten enthüllt hat, waren sie hinter Julian her, so wie sie hinter allen her waren, die es gewagt hatten, den Schleier der Macht aufzureißen. „Die rote Rosa nun auch verschwand …“, schrieb Bertold Brecht, nachdem die deutsche Sozialistin Rosa Luxemburg ermordet worden war. „Weil sie den Armen die Wahrheit gesagt, haben sie die Reichen aus der Welt gejagt“.
Wir haben einen Konzernputsch erlebt, bei dem die Armen und die arbeitenden Männer und Frauen zu Arbeitslosigkeit und Hunger verurteilt sind, bei dem sich das staatliche Handeln auf Kriegsführung, Finanzspekulation und interne Überwachung beschränkt, wo selbst der Habeas-Corpus-Schutz nicht mehr existiert, wo wir als Bürger nur noch Gebrauchsgüter für Unternehmens-Machtsysteme sind, die benutzt, geschröpft und ausgemustert werden.
Sich weigern, sich zu wehren, den Schwachen, Unterdrückten und Leidenden zu helfen, den Planeten vor dem Ökozid zu retten, die nationalen und internationalen Verbrechen der herrschenden Klasse anzuprangern, Gerechtigkeit zu fordern, in der Wahrheit zu leben, heißt, das Kainsmal zu tragen. Die Machthaber müssen unseren Zorn spüren, und dies bedeutet ständige Akte zivilen Massen-Ungehorsams, es bedeutet ständige Akte sozialer und politischer Störung. Denn diese organisierte Macht von unten ist die einzige Macht, die uns retten, und die einzige Macht, die Julian befreien wird. Politik ist ein Spiel der Angst. Es ist unsere moralische und bürgerliche Pflicht, den Mächtigen große Angst einzujagen.
Die kriminelle herrschende Klasse hält uns alle in ihrem Todesgriff gefangen. Sie kann nicht reformiert werden. Sie hat die Herrschaft des Rechts abgeschafft. Sie vernebelt und verfälscht die Wahrheit. Sie bemüht sich, ihren obszönen Reichtum und ihre Macht zu festigen. Und so sage ich, um die Königin der Herzen zu zitieren, natürlich metaphorisch, sage ich: “Ab mit ihren Köpfen!“
Chris Hedges ist ehemaliger Chef des Nahost-Büros der New York Times, Pulitzer-Preisträger und Kolumnist bei der Scheerpost. Er ist der Autor mehrerer Bücher, darunter “America: The Farewell Tour“, “American Fascists: The Christian Right and the War on America” und “War Is a Force That Gives Us Meaning.“
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