Eine persönliche Sicht auf das deutsch-russische Verhältnis, anlässlich des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion – inspiriert von einem Besuch in Sankt Petersburg. In Anbetracht der aktuellen antirussischen Kriegstreiberei von Medien und Politik sind es vor allem die zahlreichen Friedensinitiativen von Bürgern, die eine Verständigung zwischen den Völkern retten können. Von Michael Felten.
In einer Freundesgruppe waren wir für 10 Tage nach Sankt Petersburg aufgebrochen, der zweitgrößten Stadt Russlands. Ihrer vielen Wasserläufe wegen heißt die Stadt auch “Venedig des Nordens”, bei Touristen ist sie beliebt wegen der Kunstschätze, der prachtvollen U-Bahn, ihrer Stadtatmosphäre. Das haben wir alles gesehen, aber jetzt, in einem Außenbezirk, stehe ich in einer weiten Parkanlage, vor einer riesigen weiblichen Statue, die die Arme ausbreitet, “Mutter Heimat” – und kämpfe tatsächlich mit den Tränen.
Ich bin historisch nicht gänzlich unbeleckt, aber mir war bisher einfach nicht klar, welch furchtbares Unheil die deutsche Wehrmacht in dieser Gegend im Zweiten Weltkrieg angerichtet hat. Eine von Hitlers Wahnideen war gewesen, den europäischen Teil Russlands als Versorgungsraum für die arische Rasse zu kolonisieren. Russen sah er dabei als “Untermenschen” an, die er nicht einfach besiegen, sondern lieber gleich ausrotten wollte. Daher der Plan, Leningrad (und eigentlich auch Moskau) gar nicht erst zu erobern, sondern die Menschen durch Totalblockade einfach verhungern zu lassen. So mussten allein hier – während 900 Tagen, darunter 3 bitterkalten Wintern – über eine Million Zivilisten elend ihr Leben lassen. Würde man an jeden Einzelnen nur eine einzige Minute denken, wäre man zwei Jahre beschäftigt. Als Besucher aus Köln kann ich es eigentlich kaum fassen, wie freundlich man hier heute zu uns ist.
Mittlerweile sagen auch westliche Historiker: Die Blockade Leningrads war eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht. Aber sie war nur ein Teil des Horrors, der von Deutschland vor 80 Jahren gen Osten vorstieß. Der gesamte Angriffskrieg Hitlers gegen die Sowjetunion kostete mindestens 24 Millionen Sowjetbürgern das Leben, diese Menschen haben am meisten für unsere Befreiung von der NS-Zeit geblutet. Es müsste also für uns Deutsche eigentlich nicht nur heißen: Nie wieder Auschwitz!, sondern auch: Nie wieder gegen Russland!
Seit einem guten Jahrzehnt aber wird eine neue russische Gefahr heraufbeschworen – weil der russische Bär sich nicht westlichem Führungsanspruch beugen wollte? Staatschef Putin habe bereits die Krim annektiert, nun müssten wohl die baltischen Staaten um ihre Existenz bangen. Dabei war es die Nato, die sich absprachewidrig weit gen Osten ausgedehnt und vor Moskaus Haustüre Waffensysteme installiert hat, die die russische Raketenabwehr außer Kraft setzen könnten. Aber abwägende Stimmen dringen im neoaggressiven Unisono der Leitmedien nicht recht durch. Dem Quasidiktator müsse man frühzeitig die rote Karte zeigen – und auch zu militärischem Handeln bereit sein. Eine Art Vormobilmachung, bei der einem angst und bange werden sollte.
Unterhalb dieser riskanten hohen Politik gibt es indes Regungen und Kräfte, die hoffnungsvoll stimmen könnten. So existieren zahlreiche deutsch-russische Freundschaftsgesellschaften – Zusammenschlüsse von jüngeren wie älteren Bürgerinnen und Bürgern, die von russischer Kultur angetan sind, die die Herzlichkeit der russischen Bevölkerung schätzen, die das riesige Reich im Osten immer wieder besuchen. Russland ist offenbar nicht nur “von oben” attraktiv (so kürzlich eine ZDF-Doku), man erlebt dort bei Menschen aller Schichten große Herzlichkeit, wird gerne beschenkt.
Nicht zuletzt waltet hier wohl auch die Überzeugung, dass grenzübergreifende Kontakte vielleicht das Einzige sind, was einfache Menschen dem riskanten Zündeln des militärisch-industriellen Komplexes entgegenzusetzen vermögen. Besonders häufig stößt man auf solche Vereinigungen übrigens in Ostdeutschland – zu DDR-Zeiten verordnet, jetzt aber in Freiheit weitergeführt. Zwar traten die Russen in Sachsen oder Brandenburg zunächst als rigorose Besatzungsmacht auf, mit der Zeit aber ergaben sich Freundschaften, wurden Familien gegründet, fuhr man in die Sowjetunion zum Studium oder in Urlaub. Heute findet man bundesweit eine große Vielfalt an Städtepartnerschaften (z.B. Köln – Wolgograd oder Düsseldorf – Moskau), es gibt die “Freunde der Völker Russlands” (in Berlin), ein “Jugendparlament Bonn – Kaliningrad” tagt in Bonn. Der Volksbund Kriegsgräberfürsorge ist in Russland aktiv, ein Freundeskreis druschba-global unternimmt jährliche Friedensfahrten, der Schriftsteller Wolfgang Büscher ging alleine zu Fuß von Berlin bis Moskau.
Schon aus Eigennutz müssten wir Deutsche alles Erdenkliche dafür tun, dass sich keine neuen Ost-West-Feindbilder verfestigen. Sollten die USA und ihre Verbündeten nämlich Russland über das Äußerste hinaus reizen, wäre es Deutschland, das zum atomaren Gefechtsfeld würde. Die Völkerverständigung könnte allerdings noch frisches Blut gebrauchen. Junge Menschen, die nicht in Identitätsfragen steckenbleiben, sondern ihre Zeit handfesten Problemen widmen möchten. Der humane Blick gen Osten, das meint nicht primär Gedenkstättenbesuche, da winkt vielmehr das Suchen und Finden von Interessantem, Spannendem und Reizvollem.
Der Schriftsteller Bert Brecht war ja der Meinung, 100 entschiedene Menschen könnten eine Revolution auslösen. Ob vielleicht auch 1000 Engagierte einen nächsten Krieg gegen Russland verhindern können – oder zumindest erschweren? Man könnte immerhin im Herbst keine Partei wählen, die “die Ukraine bewaffnen” und den “Druck auf Moskau erhöhen” will.
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