Zum heutigen 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion hat Ulrich Heyden den Bericht einer Zeitzeugin aufgeschrieben: die Erinnerungen einer 88-jährigen Russin an ihre Flucht vor der deutschen Wehrmacht im Juni 1941.
„Nie zuvor hatten wir einen solchen Menschenstrom gesehen“, schreibt Walentin Gagarin, der Bruder des ersten Kosmonauten, Juri Gagarin, in seinen Erinnerungen. Er erinnert an die Menschen, die im Juni 1941 vor den deutschen Luftangriffen aus Minsk, aus Litauen und Dörfern im Westen der Sowjetunion unorganisiert Richtung Moskau flüchteten. Es waren vor allem alte Menschen, Frauen, Kinder und Jugendliche.
„Ihre müden Gesichter waren schwarz vor Staub.»
Einige Flüchtlinge machten eine kurze Pause im Schatten von Apfelbäumen. Bauern brachten Brot und Eier und wollten dafür nichts nehmen. Die Flüchtlinge tranken das Wasser des Dorfbrunnens an einem Tag leer – schreibt Gagarin. Das untrügliche Zeichen: „Wenn der Eimer vom Boden des Brunnens hochgezogen wurde, hatte man eine dicke Schmutzschicht am Finger.“
Unter den Flüchtlingen war auch die damals acht Jahre alte Nadjeschda Dmitrijewa. Ich traf sie vor einigen Tagen in ihrer Wohnung im westlich des Moskauer Stadtzentrums gelegenen Bezirk Kunzewo.
Nadjeschda Dmitrijewa in ihrer Moskauer Wohnung / Foto: Ulrich Heyden
Von der alten Dame wollte ich wissen, wie sie den Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 erlebt hat. Obwohl ich ein Deutscher bin, beantwortete Nadjeschda gerne meine Fragen.
„Am 22. Juni 1941 war ich auf der Datscha mit meiner Großmutter“, erzählt Nadjescha Dmitrijewa. Die Datscha der Familie Dmitrijewa lag nicht weit von Minsk im Dorf Wolkowitsch. „Nina, meine Mutter, lag auf einer Liege im Garten. Sie las in einem Lehrbuch. Sie war Primaballerina am Opern- und Ballett-Theater in Minsk. Sie hatte aber die Schule nur bis zur achten Klasse besucht, weshalb sie noch Kurse an der Abendschule belegt hatte. Ich spielte im Gras. Meine Großmutter bereitete das Essen vor. Plötzlich rief meine Mutter zu meiner Großmutter: Guck mal, ein Luftkampf von Flugzeugen.“
Abends kam dann ein Nachbar und sagte, der Krieg habe angefangen. Nina entschied sich, mit dem Vorortzug nach Minsk zu fahren, um sich zu erkundigen, was jetzt zu tun sei.
NKWD-Leute führten gefangene Deutsche durchs Dorf
Nadjeschda erinnert sich: „Wir hatten in unserem Dorf schon die ersten Deutschen gesehen. Sie waren mit dem Fallschirm abgesprungen und wurden von unseren NKWD-Leuten abgeführt. Wir Kinder riefen, Deutsche, Deutsche! Es gab Panik. Man erzählte, die Deutschen hätten die Brunnen vergiftet. Meine Großmutter packte unsere Sachen, Bettzeug und anderes.
Ich habe die ganze Nach nicht geschlafen. Ich habe aus dem Fenster geguckt und überlegt, wohin ich fliehe. Großmutter sagte, wenn etwas passiert, geh zu der Eiche und warte auf mich. Ich bin nachts immer wieder aufgewacht und habe überlegt, wohin ich fliehen kann.“
Nadjeschda erinnert sich an Doppeldecker-Flugzeuge mit roten Sternen auf den Tragflächen. Sie flogen nach Minsk und warfen dort Bomben ab. Die Explosionen waren zu hören. Die alte Dame ist sich sicher, dass es deutsche Flugzeuge mit gefälschten Kennzeichen waren. „Oder die Deutschen haben unsere Flugzeuge erbeutet. Ich weiß es nicht.“
Sie erinnert sich an einen Doppeldecker-Piloten, der ganz niedrig flog und mit einer Brille, die ihr riesig erschien, auf ihr Dorf blickte.
„Gut, dass er auf uns Kinder nicht geschossen hat. Am nächsten Tag, dem 24. Juni, kam meine Mutter aus Minsk zurück, um mich und meine Großmutter abzuholen. Nina hatte ein Auto organisiert, ich glaube mit Hilfe einer Flasche Wodka. Minsk brannte schon.“
Beschuss eines Zuges mit Flüchtlingen
„Auf der Fahrt nach Minsk kamen wir an einen Bahnübergang. Wir sahen einen Zug kommen, haben den Bahnübergang aber noch schnell überquert. Das Auto wurde geschüttelt. Ein Flugzeug hatte eine Bombe auf den Zug abgeworfen. Ich wollte sehen, was passiert war. Aber meine Mutter drehte meinen Kopf um, so dass ich nichts sehen konnte. Es gab Explosionen. Die Bomben flogen mit einem Pfeifen in ihr Ziel. Das Pfeifen zerriss mir die Seele“, erzählte Nadjeschda. Diesen Ton wird sie nie vergessen.
Minsk sei damals eine alte Stadt gewesen, wie Riga, mit kleinen Gassen wie in Deutschland. „Die Häuser standen dicht an dicht. In der Stadt herrschte Panik. Meine Mutter sagte, ´sieh, die Leiterin des Bezirkskomitees der Partei.´ Sie hielt einen Feuerwehrschlauch und versuchte, den Brand in einem Haus zu löschen, anstatt etwas zu organisieren.“
In dem Haus, in dem Nadjeschda mit ihren Eltern wohnte, gab es eine Beratung mit den Anwohnern, meist Mitarbeiter des Theaters von Minsk. Die Bewohner des Hauses entschieden sich, die Stadt zu verlassen.
An einem Tag drei Angriffswellen über Minsk
Am 23. Juni 1941 fielen die ersten Bomben der deutschen Luftwaffe auf Minsk. Bomben fielen auf den Bahnhof der Stadt und den Loschizki-Flughafen. Die auf dem Flughafen stationierten sowjetischen Kampfflugzeuge konnten nicht mehr aufsteigen. Sie wurden von dem Angreifer am Boden zerstört.
Einen Tag später bombardierte die deutsche Luftwaffe in drei Wellen mit jeweils 47 Flugzeugen die Stadt. Bis zum Mittag lag das Stadtzentrum in Trümmern. Am 25. Juni verließen die sowjetischen Militäreinheiten, aber auch die Verwaltung die Stadt. Bis zum Einmarsch der deutschen Truppen am 28. Juni war die Bevölkerung ohne administrative Führung.
In der Stadt herrschte Panik. Die Bevölkerung war auf den Angriff nicht vorbereitet. Ein Teil der Stadtbewohner flüchtete spontan und unorganisiert Richtung Osten. Auf dem Weg schlossen sich Flüchtlinge aus Litauen und aus umliegenden Dörfern dem Marsch an.
Mit einer Opern-Sängerin über Stock und Stein
Die Flüchtlinge vom Theater in Minsk – unter ihnen Nadjeschda, ihre Mutter Nina, zwei Großmütter und der Hund Deska – machten sich auf einer Chaussee auf den Weg nach Moskau. Sie wurden von der Opern-Sängerin Larissa Pompejewna Alexandrowskaja geführt. Die wunderschöne Frau mit den dunklen, lockigen Haaren war Weißrussin und kannte die Wege durch den Wald.
„Meine Großmutter nahm auf den Weg einen Emaille-Eimer mit. Darin verstaute sie ein Brot, Marmelade und eine Flasche Sonnenblumenöl. Meine Mutter hatte die Aktentasche meines Vaters gepackt. Darin waren wichtige Dokumente und Anleihescheine. Die Scheine besagten, dass ein Teil des Gehalts vom Staat einbehalten und später ausgezahlt wurde.
Die Chaussee nach Moskau war voller Menschen. Einige zogen Karren, andere waren mit Schubkarren unterwegs. Am Rande der Chaussee lagen Koffer mit Wertsachen. Die Wertsachen schleppte man als Zahlungsmittel für Nahrungsmittel mit. Aber die Leute konnten die Koffer nicht mehr schleppen.“
Luftangriff auf Flüchtlings-Treck
Immer wieder wurde der Flüchtlings-Treck von deutschen Flugzeugen angegriffen. Jemand schrie „Wosduch“ (Luft). Dann warfen sich alle auf den Boden.
„Als ich auf dem Boden lag, sah ich eine stattliche Weißrussin, die ihr Kind auf den Armen hielt. Sie rief, ‚was legt ihr Euch hin? Die Deutschen brauchen euch nicht. Steht auf!´ Die Frau war ein bewegliches Ziel und wurde von einem Flugzeug beschossen. Sie starb“, erinnert sich Nadjeschda. Ob sie geweint habe? „Nein, aber ich hatte wegen der Angst immer das Gefühl, dass ich auf die Toilette muss.“
„Einmal lag ich auf dem Boden und habe Ameisen beobachtet. Ich lag mit einigem Abstand von meiner Mutter und Deska, unser Hund, lief zwischen meiner Mutter und mir hin und her. Er wusste nicht, was er machen sollte. Ich sagte meiner Mutter, decke mir die Beine mit einem Mantel zu. Das erinnere ich.“
„Unsere Soldaten traten den Rückzug an. Ein Soldat nahm mich auf den Lastwagen“, erinnert sich Nadjeschda. „Auch meine Mutter zogen sie auf den Lastwagen. Eine Großmutter fragte, ‚Und was wird mit uns?’ Meine Mutter sagte, ‚wir treffen uns in Moskau bei meiner Schwester’. Beide Großmütter haben die Flucht nach Moskau überlebt. Manchmal wurden sie von Fahrzeugen mitgenommen, manchmal gingen sie zu Fuß.
Es gab auch lustige Momente. Eine der beiden Großmütter erzählte später, sie habe mit dem Hund Deska in einem Zug Richtung Moskau sogar Brot geschenkt bekommen, wenn der Hund „Walzer tanzte“.
Zufälliges Treffen mit dem Vater
Schließlich kamen Nadjeschda und ihre Mutter in der 330 Kilometer östlich von Minsk gelegenen Stadt Smolensk an. „Im Bahnhof von Smolensk war gerade der Zug Moskau-Minsk eingefahren. Meine Mutter sagte, ‚Vielleicht sitzt Papa ja in dem Zug‘. Und tatsächlich, mein Vater saß in dem Zug. Wir trafen ihn im Bahnhof, als er sich gerade heißes Wasser für den Tee holen wollte. Meine Mutter rief: ‚Wolodija!‘ Mein Vater fragte gleich, ‚Und wo ist meine Mutter?‘ Wir haben ihm erklärt, dass wir uns von ihr trennen mussten.“
Abenteuerlich war die allerletzte Etappe nach Moskau. In der Stadt Wjasma, 230 Kilometer vor der sowjetischen Hauptstadt, traf Mutter Nina einen Musiker, der seine Tochter suchte, diese aber nicht finden konnte. Um durch die strengen Kontrollen bis nach Moskau zu kommen, schlug Nina vor, dass sie sich als die Frau des Fahrers und Nadjeschda sich als dessen Tochter ausgibt.
In Moskau gab es in Sowjetzeiten und besonders auch während des Krieges eine strenge Zuzugs-Kontrolle. „Damit der Fahrer während der Fahrt nicht einschlief, erzählte ihm meine Mutter von Theaterstücken. Er hat uns dann bis nach Moskau zu der Schwester meiner Mutter gefahren. Sie wohnte im Stadtteil Marina Rostscha in einem Zimmer in einem Holzhaus. Das Plumpsklo war im Hof.“
Dem Todeslager und dem Ghetto von Minsk entkommen
Nadjeschda und ihre Familie waren dem Terror der Nazi-Besatzer in Minsk mit Glück entkommen. Die Bevölkerung der Stadt schuftete in den wieder in Gang gesetzten Industriebetrieben, um für die Okkupanten militärische Ausrüstung zu produzieren.
In Minsk fanden Hunderttausende den Tod. Ein Stadtbezirk wurde als Ghetto für die Juden eingezäunt. In dem Ghetto starben 100.000 Menschen.
Auf dem Gelände der Karl-Marx-Kolchose, außerhalb von Minsk, wurde im Herbst 1941 das Todeslager Malyj Trostenez eingerichtet. Es war eines der größten seiner Art in Europa. In dem Lager vegetierten unter schlimmsten Bedingungen Partisanen, Untergrundkämpfer, Kriegsgefangene und Juden aus Weißrussland, Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei.
Im August stattete Heinrich Himmler einem Lager für sowjetische Kriegsgefangene an der Schirokoi-Straße einen Besuch ab. Ein weltberühmtes Foto zeigt Himmler, wie er mit hochmütigem Blick durch einen Stacheldrahtzaun einen sowjetischen Kriegsgefangenen mit nacktem Oberkörper wie ein Stück Abfall mustert.
Konzerte an der Front
In dem Moskauer Stadtteil Marina Rostscha ging Nadjeschda dann zur Schule. Ihre Mutter war häufig unterwegs. Nina beteiligte sich während des Krieges an Künstler-Darstellungen vor Soldaten der Roten Armee an der Nordwest-Front und trat auf der Ladefläche von Lastwagen auf.
Wenn es ein Konzert an der Front gab, hätten die Deutschen nicht geschossen, erzählte die Mutter. Nach dem Konzert fingen die Beschießungen aber sofort wieder an. Im Gebiet Königsberg bekam Mutter Nina als Dank von sowjetischen Soldaten eine deutsche Wohnzimmer-Uhr geschenkt.
Stolz erzählt Nadjeschda, dass sowohl sie als auch ihre Mutter nach dem Krieg Stalin begegneten. Nadjeschda nahm als Gymnastik-Sportlerin an einer künstlerischen Darstellung auf dem Roten Platz teil. „Während unserer Vorstellung liefen wir mit farbigen Bändern vom Kaufhaus GUM zum Lenin-Mausoleum, auf dem Stalin stand. Alle Sportler raunten ‚Stalin, Stalin‘.“
Als die Vorstellung zu Ende war, nahmen sich die Sportler – auch Nadjeschda – als inoffizielles Andenken ein Stückchen von dem extra für die Sportler ausgelegten, zentimeterdicken Teppich mit nach Hause.
Stalin sei nicht besonders groß gewesen, erinnert sich Nadjeschda. Der Eindruck an den Oberkommandierenden aber war so stark, dass Nadjeschda die Begegnung später als Thema für einen Schulaufsatz wählte. Für ihren Text bekam sie eine Eins. Der alten Dame ist diese Anekdote absolut nicht peinlich. Stalin ließ die Herzen der Menschen damals höher schlagen. Immerhin wurden unter seiner Führung die deutschen Faschisten geschlagen.
Auch Nina war Stalin einmal ganz nah. Das war bei einem Bankett, welches der Generalsekretär der Partei im Kreml für Künstler aus Weißrussland gab. Nina war weitsichtig und als Stalin in den Kreml-Saal eintrat, kletterte sie auf einen Stuhl, um den Generalsekretär besser zu sehen. Ein Beamter raunte Nina zu, „Mütterchen steigen sie vom Stuhl“.
Nach dem Krieg in der DDR
Nadjeschda Dmitrijewa kehrte nach dem Krieg nicht mehr nach Minsk zurück, denn ihre Mutter bekam eine Arbeit in Gorki, dem heutigen Nischni-Nowgorod.
Anfang der 1960er Jahre lebte Nadjeschda mit ihrem Ehemann – einem Ingenieur – auf einem sowjetischen Luftwaffenstützpunkt in der ostdeutschen Stadt Finsterwalde. Sie erinnert sich an eine zugespitzte Situation im August 1961, nach dem „Mauerbau“. Damals hätten sich zum Schutz der Garnison vor „westdeutschen Provokationen“ DDR-Panzer um die Garnison aufgestellt, die Rohre nach außen gerichtet. Die sowjetischen Soldaten hätten damals gescherzt, man hoffe, dass die Panzer ihre Rohre nicht irgendwann Richtung Garnison drehen. Nadjeschda schmunzelte über diese Anekdote.
In der Garnison hätten Deutsche als gute Handwerker gearbeitet, erzählt die alte Dame. Auch an die Freundschaftsabende mit DDR-Bürgern erinnert sie sich gerne. Aber im Bekleidungsgeschäft am Ort „waren wir nicht gerne gesehen“, erinnert sich die alte Dame. Warum, erklärt sie nicht. Kauften die Sowjets etwa den Laden leer?
Nach dem Krieg machte sie eine Ausbildung als Geographie-Lehrerin, arbeitete später aber vor allem in wissenschaftlichen Instituten, in den letzten Berufsjahren in der Sicherheitsabteilung eines bodenkundlichen Instituts. Ihre Aufgabe war die Kontrolle von Gold- und Silberminen. Mitglied des KGB sei sie nicht gewesen, aber „wir wurden vom KGB kontrolliert“. Ihr Traum war eigentlich – wie ihre Mutter – an einem Theater zu arbeiten. Aber dieser Traum ging nicht in Erfüllung.
Der liebste Feiertag von Nadjeschda ist der 9. Mai, der Tag des Frühlings und des Sieges.
Titelbild: Plus Moe Online.RU