Peru – Wahlanfechtung mit Aufmärschen der extremen Rechten nach Castillos Sieg
Pedro Castillo Terrones, der linke Grundschullehrer und Präsidentschaftskandidat der Wahlliste Peru Libre („Freies Peru“), könnte zum nächsten Präsidenten von Peru geweiht werden und seine rechtsextreme Herausforderin Keiko Fujimori von der Wahlliste Fuerza Popular zum dritten Mal eine Präsidentschaftswahl verlieren. Von unserem Südamerika-Korrespondenten Frederico Füllgraf.
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Die Nationale Wahlbehörde Perus (ONPE) aktualisierte über eine Woche lang die immer seltener – man darf sagen, stotternd – eingehenden, offiziell anerkannten Stimmen für die Stichwahl vom vergangenen 6. Juni. Mit ihrer letzten Aktualisierung von Montag, dem 14. Juni, gab ONPE bekannt, bei 100 Prozent der erfassten und zu 99,985 Prozent überprüften Stimmen nehme der ehemalige Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Perus (Sutep), Pedro Castillo, mit 50,127 Prozent der abgegebenen Stimmen nach wie vor den ersten Platz ein, während Opponentin Keiko Fujimori mit 49,873 Prozent der Stimmen die Präsidentschaftswahl verloren habe.
Den äußerst knappen Vorsprung von 44.816 Stimmen, beziehungsweise 0,254 Prozentpunkten, nahm während der langsamen Stimmenerfassung aus dem peruanischen Hinterland die Kandidatin Fujimori zum Anlass, die Wahl anzufechten. Dutzende Anwälte reichten in ihrem Auftrag seit dem 10. Juni eine Schwemme von über 800 Wahlanfechtungs-Klagen ein. Die rechtsextreme Fujimori-Szene verstärkte die Offensive mit Psychoterror, Belagerung von Privatadressen, Bedrohung von Staatsanwälten, bekannten Persönlichkeiten aus Kultur und demokratischen Medien sowie mit der Androhung eines Staatsstreichs, der die offizielle Anerkennung des Wahlsieges und die Amtsübertragung an den linken Grundschullehrer Pedro Castillo Terrones verhindern soll. Die peruanische Staatsanwaltschaft nahm daraufhin zum Wochenbeginn Untersuchungen der Übergriffe auf.
Castillo-Wahlliste stellt Mehrheit im neuen Parlament
Die Nationale Wahljury (JNE), eine Art Wahlaufsichts-Gremium, steht unter starkem Doppelbeschuss. Fujimori nötigte ihm eine Fristenverlängerung zur offiziellen Bekanntgabe des Wahlergebnisses auf, was auf Seiten der Castillo-Anhänger im In- und Ausland den Verdacht erweckte, der Unparteilichkeit des JNE sei nicht zu trauen. Indes, während der Sonntagspause im Konflikt um das Wahlergebnis gab das JNE die Verteilung der 130 Sitze im peruanischen Kongress (Parlament) bekannt, deren parlamentarische Vertreter ebenfalls am vergangenen 6. Juni gewählt wurden. Demnach stellt Castillos Wahlliste Peru Libre mit 37 Sitzen die zahlenmäßig stärkste Fraktion, gefolgt von Fujimoris Fuerza Popular mit 24 Sitzen. Was bedeutet, dass, egal welcher Wahlsieger, selbst Castillo keine Mehrheit im Parlament besitzen wird und für seine Politik Bündnisse suchen muss, um mit mindestens 66 Stimmen Gesetze zu verabschieden. Oder sich gar „vor einer Amtsenthebung retten muss“, wie peruanische Journalisten warnen; ein sehr schnelles Verfahren in Peru, wofür gerade mal 87 Stimmen benötigt werden.
Der neue Präsident und der neue Kongress sollen ihr Amt planmäßig am kommenden 28. Juli antreten; dem Tag, an dem Peru den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiert.
„Antikommunistischer Psychoterror“: Kolumnist der New York Times geht auch mit Medien ins Gericht
Nachdem er beide Kandidaturen als „mittelmäßig und gefährlich“ bezeichnete, stellte Alberto Vergara – peruanischer Politologe und Gastkommentator der New York Times – allerdings Fujimoris extreme Rechte an den Pranger. „Im Handumdrehen wurde der Gesellschaft die Politik des Terrors oktroyiert. Der Fujimorismus entfesselte eine Kampagne der Angst vor Kommunismus und Terrorismus, die angeblich durch Castillo verkörpert würden. Ein Großteil der Gesellschaft geriet in Panik. Wenn ich Mitte April Politiker, Geschäftsleute und Bürger sagen hörte, nur mit Abscheu für Fujimori zu stimmen, so war sie Mitte Mai bereits zur Verkörperung der Freiheit umgedeutet worden. Die Folge davon war, dass diejenige, die erst das „geringere Übel“ darstellte, zu einer von der Vorsehung entsandten Retterin wurde. Diese Transformation ist kein Unsinn. Wenn Sie Angst haben, ist derjenige, der Sie vor dem Tod rettet, ein ehrenwerter Charakter. Diejenigen, die die Politik der Angst am verräterischsten nutzten, waren das Lager Fujimoris, die Oberschicht und die Massenmedien. Geschäftsleute drohten, ihre Arbeiter zu entlassen, falls Castillo gewinnen sollte. Sogenannte ´normale Bürger´ drohten, ihre Hausangestellten zu feuern, wenn sie sich für (Anm. FF: Castillos Wahlliste) Peru Libre entscheiden würden. Die Straßen waren voller bedrohlicher Plakate, die von der Geschäftswelt bezahlt wurden und vor einer bevorstehenden kommunistischen Invasion warnten … Diesem undemokratischen Verhalten schlossen sich die Medien an. Vor allem das Fernsehen zeigte eine für autoritäre Regime typische Parteilichkeit. Mit der regelrechten Zerschlagung von Wahlverhaltensnormen verwandelten sich die TV-Programme zu Räumen für simulierte oder offene Fujimori-Propaganda. Selbst die einflussreichste politische Journalistin des Landes interviewte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Prominente, die auf vernichtende Weise apokalyptische Botschaften wiederkäuten. Mit anderen Worten, um ´die Demokratie zu retten´, wurde sie ins Koma versetzt. Und Keiko Fujimori sah begeistert zu…“, warnte Vergara.
Das „Betrugs“-Manöver à la Trump: die Wahlanfechtung und die weltweiten Reaktionen
Angesichts ihrer offensichtlichen Wahlniederlage bei den Präsidentschaftswahlen in Peru setzte Keiko Fujimori auf einen ähnlichen Weg wie der frühere US-Präsident Donald Trump: Betrug geltend machen, Zweifel am System säen und Berufungen ohne Rechtsgrundlage einlegen, um das legitime Ergebnis nicht anzuerkennen.
So kategorisch beurteilen Politologen und Journalisten in Peru das Vorgehen der Tochter und „politischen Erbin“ des ehemaligen Diktators Alberto Fujimori (1990-2000) gegen ihren Rivalen Pedro Castillo. In der Ausgabe vom 8. Juni 2021 berichteten die NachDenkSeiten sowohl über die Verbrechen des Diktators als auch über die Korruption seiner Tochter und der dreimaligen Präsidentschafts-Kandidatin, gegen die die peruanische Staatsanwaltschaft eine 30-jährige Haftstrafe und ihre sofortige Festnahme noch während der Stimmauszählung beantragt hat.
„Dies ist eine Nachahmung der Trump‘schen Strategie. Wenn die Regeln oder das Ergebnis mich nicht begünstigen, werde ich so weit wie möglich gehen, sogar darüber hinaus. Und wenn nicht, gehe ich dazu über, den Gewinner nicht anzuerkennen“, deutete der Politologe und ehemalige Leiter der Wahlbehörde (ONPE), Fernando Tuesta, der spanischen Nachrichtenagentur Efe gegenüber die Taktik Fujimoris mithilfe der Unterstützung von Medien und der einheimischen Oligarchie.
Selbst die Beobachtermission der konservativen, nicht selten putschfreundlichen Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) bescheinigte der Präsidentschaftswahl Korrektheit und bemängelte keinerlei Unregelmäßigkeiten. Isaac Risco, Gastkommentator der liberal-konservativen Deutschen Welle, bezeichnete Fujimoris Vorgehen als einen „Schaden für die Demokratie“. „Mit ihrem jetzigen Auftreten scheint Keiko Fujimori nun die schlimmsten Befürchtungen ihrer Kritiker zu bestätigen. Dass sie nämlich – auch wegen ihrer ungleich größeren finanziellen Kraft und ihrem starken Rückhalt beim Großteil der Eliten des Landes – die größere Gefahr für die fragile peruanische Demokratie ist“.
Die Taktik der Wahlverliererin gründet nämlich auf falschen Tatsachen und fehlgeschlagenen Einsprüchen. Ziel dieser Einsprüche der rechtsextremen Kandidatin ist die Annullierung von 200.000 Stimmen für Castillo. Zum einen gingen die mehr als 800 Klagen Fujimoris vor der Wahljury – ein beispielloser Fall in der politischen Geschichte Perus – größtenteils nach der festgelegten gesetzlichen Einspruchsfrist ein. Der dramatische Fehler, beziehungsweise das Versäumnis, mache es nach verschiedenen Berechnungen unmöglich, dass Fujimori – selbst gesetzt den Fall, sie gewinne sämtliche Einsprüche – Castillo mit Stimmenmehrheit besiegen könnte. Ohne die zu annullierenden Stimmen und ohne stichhaltige rechtliche Argumente vorlegen zu können, die ihre Vorwürfe zu einem angeblichen „Betrug“ und „systematischen Unregelmäßigkeiten“ rechtfertigen, deutet das Beharren der Kandidatin allerdings auf suspekte Ziele hin. Es scheint eher um ein Narrativ und um eine Strategie zu gehen, die Wahl zu delegitimieren, erklärte die Politologin Paula Távara gegenüber Efe. Dies decke sich in der Tat mit den Aufmärschen der Fujimori-Anhänger vor der Wahljury des JNE, mit denen das Ziel verfolgt wird, dem Gremium eine weitere Fristenverlängerung für Wahlanfechtungen aufzunötigen, was nach einem Urteil des peruanischen Verfassungsgerichts verfassungswidrig ist.
Tuesta und Távara sind sich in der Einschätzung einig, Fujimoris Strategen verfolgen das Ziel, die Wahl als solche zu delegitimieren, den Sieg Castillos auszuhöhlen und seine Entlassung gleich nach seinem Amtsantritt voranzutreiben. Es gibt jedoch noch eine dramatischere „Option“, die in Fernsehauftritten rechter Exponenten zwar etwas verschleiert, aber frech angesprochen wurde: die „Amtsübernahme Castillos mit immer weiteren Einsprüchen selbst gegen die gesetzlichen Fristen hinauszuschieben, um damit den Kongress dazu zu nötigen, die Präsidentschaft zu übernehmen und Neuwahlen auszurufen“.
Der bisher siegreiche Kandidat rief seine Wähler dazu auf, zwar wachsam zu bleiben, jedoch „die Ruhe beizubehalten“.
Indes rief der Allgemeine Gewerkschaftliche Dachverband Perus (CGTP) zur Massenmobilisierung auf und erklärte: „Der CGTP richtet sich an die Arbeitnehmer und die peruanischen Bürger, um zu bekräftigen, dass wir in diesen schwierigen Zeiten für das Land nicht nur von den Auswirkungen der Pandemie – die sich sehr gravierend auf Wirtschaft, Gesundheit, Beschäftigung und Familieneinkommen auswirkt – sondern von einer politischen Krise betroffen sind, die sich im Land verschärft hat.
Die Redlichkeit des soeben durchgeführten Wahlprozesses wurde von der Mehrheit der Peruaner, den Delegationen internationaler Beobachter, vom Büro des Bürgerbeauftragten sowie von der Zivilen Transparenz-Vereinigung und verschiedenen Institutionen der Zivilgesellschaft anerkannt. Der Wahlprozess, der ein Ausweg aus der politischen Krise sein und grundlegende Veränderungen im Land ermöglichen sollte, wurde leider von der Partei Fuerza Popular und ihrer Kandidatin Keiko Fujimori torpediert, die erneut mit arroganter Haltung ein Wahlergebnis verdrehen und nicht zugeben wollen, dass sie die Wahl verloren haben und dass der neue verfassungsmäßige Präsident, der durch den Willen des Volkes gewählt wurde, Pedro Castillo Terrones von der Wahlliste Perú Libre ist. Auf diese Bedrohung müssen Arbeitnehmer und Bürger mit der Einheit der demokratischen Kräfte, der bürgerlichen Mobilisierung zum Schutz des Volkswillens, der Demokratie und Regierungsfähigkeit antworten, um das Vordringen von antidemokratischen, autoritären Strömungen und Putschisten unter der Führung von Fujimori und den Kreisen extremistischer Konservativer zu stoppen“.