Sich vertragen oder sich bedrohen?

Sich vertragen oder sich bedrohen?

Sich vertragen oder sich bedrohen?

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Wenn man die Nachrichten zum gerade abgelaufenen G-7-Gipfel hört oder wenn man den unten wiedergegebenen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung liest, dann muss man den Eindruck gewinnen, dass das Zusammenleben der Völker nur mit militärischer Konfrontation funktioniert. Die G-7 Staaten meinen und verlautbaren, sie müssten sich gegen China und Russland wappnen. Der von der NZZ zitierte US-amerikanische ehemalige sicherheitspolitische Berater von Trump, Wess Michell, kennt auch nur die Methode der Konfrontation, der Abschreckung, der Drohung. (Siehe die gefetteten Stellen im unten wiedergegebenen Artikel.) Dahinter steckt ein lebensgefährlicher Niedergang des sicherheitspolitischen Denkens. Das wird dann am deutlichsten, wenn wir uns die Ablösung des Kalten Krieges der Fünfziger und Anfang Sechzigerjahre durch die Entspannungspolitik vergegenwärtigen. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Damals gingen verantwortliche Politiker auf den bis dahin als Gegner betrachteten Partner im Osten zu. Schon die Wortwahl zeugt von anderen Konzepten: Vertragspolitik, Versöhnung, Annäherung, Vertrauensbildung, Friedenspolitik, wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein – das waren einige der Formeln, die das Denken und Handeln damals bestimmten. Es gibt überhaupt keine Notwendigkeit, vom Konzept dieser auf Zusammenarbeit statt auf Konfrontation setzenden Politik abzuweichen. Auch heute nicht.

In den letzten Wochen habe ich schon mehrmals auf die Alternative von Konfrontation, Abschreckung, Politik der Stärke, Aufrüstung einerseits und sich vertragen, Vertrauen bilden und Abrüstung andererseits hingewiesen. Ich komme noch einmal und sicher noch des Öfteren auf diese beiden verschiedenen Konzepte zurück – weil das lebensnotwendig ist und weil ich den Eindruck habe, dass die Alternative des Sichvertragens heute aus der Mode gekommen ist.

Das ist harmlos ausgedrückt. Richtiger formuliert wäre: Die Politik ist heute in den Händen von Scharfmachern und einfältigen Politikern und Wissenschaftlern, die zudem oft noch unter dem Einfluss der Rüstungswirtschaft und/oder von Geheimdiensten stehen. Der Text des genannten führenden und für Europa zuständigen Wess Mitchell aus der Ära Trump wie auch die dumpfen Einlassungen der G-7-Teilnehmer sprechen für diesen Eindruck. Es fehlen heute Persönlichkeiten wie Willy Brandt, Olof Palme, Bruno Kreisky, Egon Bahr, Herbert Wehner, Helmut Schmidt und der späte Helmut Kohl.

Auch die Wissenschaft, oder was sich dafür hält, ist in den Händen von einfältigen Scharfmachern. Ein aktuelles Beispiel ist ein gerade im Publikationsorgan IPG der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienener Artikel:

AUSSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK 10.06.2021 | Hanns W. Maull

Öl im Feuer
Die Verwahrlosung der liberalen Demokratien beflügelt autoritäre Kräfte wie China und Russland. Die G7 muss sich entschiedener zur Wehr setzen.

ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/der-g7-gipfel-und-die-internationale-ordnung-5229/

Hier sind Angaben über den Autor:

Typisch für solche Wissenschaftler ist die Verankerung in gleich mehreren NGOs. Man kann davon ausgehen, dass viele dieser Einrichtungen von Geheimdiensten, meist vom CIA, gefördert oder sogar gegründet worden sind.

Um auszuloten, ob es überhaupt noch ein öffentliches Bewusstsein davon gibt, dass es außer dem Konzept der Abschreckung und der Politik der Stärke auch noch die Möglichkeit gibt, mit angeblichen Gegnern zu verhandeln und sich zu vertragen, habe ich in den letzten Tagen mit Menschen verschiedener Altersgruppen gesprochen. Das Ergebnis: Unter dem Eindruck der unentwegt vermittelten Botschaften, Russland und China seien Gegner und gefährlich, unter dem Eindruck von Aufrüstungsforderungen der USA und der NATO, unter dem Eindruck von Erzählungen über Cyberattacken Russlands und zum Beispiel der Afrika-Politik Chinas ist das andere Konzept, nämlich den Ausgleich zu suchen und sich zu vertragen, mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Nur noch wenige erinnern sich daran, dass G-7 bis 2014 G-8 hieß. Russland war mit dabei. Heute gibt es keine große Basis mehr für Friedenspolitik. Das ist eine gefährliche Entwicklung.

Vielleicht haben Sie Lust und Gelegenheit, in Ihrem Umfeld in Gesprächen zu testen, ob dort noch die Alternative zum Kalten Krieg präsent ist, ob sich Ihre Bekannten und Freunde überhaupt noch daran erinnern, dass die Idee einer anderen als auf Abschreckung und militärische Stärke setzenden Sicherheitspolitik wesentlich von deutschen Politikern und einigen anderen europäischen progressiven Politikern wie Palme und Kreisky entwickelt und angewandt worden ist.

Wenn Sie einen anderen Eindruck gewinnen als ich, dann wäre das gut für die nachwachsenden Generationen. Andernfalls schlittern sie in gefährliche Auseinandersetzungen und vergeuden im Übrigen ihre Kraft und ihre Ressourcen in Waffen und militärischen Abenteuern.

Nachtrag: Es wird in den internationalen Beziehungen auch immer Konstellationen geben, die das Sich-Vertragen schwer machen, weil man den potentiellen Partnern nicht trauen kann. Aber diese Konstellation stellt sich heutzutage auch unter jenen ein, die sich für Bündnispartner halten. Können wir den USA trauen? Können wir der jetzigen polnischen Regierung trauen? Oder der britischen? Wir wissen auch nicht, welches Personal in Russland nachwächst. Und in China. Und trotz aller dieser Vorbehalte wird Sich-Vertragen besser sein als Konfrontation.

Anlage – Artikel in der NZZ vom 9.6.2021

(Für das Thema relevante Stellen sind im Text gefettet.)

Geopolitik und Europa: «Inhaltlich lag Trump meist richtig, aber seine Kommunikationsmethode war nicht immer förderlich»

Wess Mitchell zieht in der NZZ erstmals Bilanz über seine Zeit als führender Europa-Politiker unter dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten. Von Joe Biden erwartet er ein klares Zeichen der Abschreckung gegenüber Russland.

Ivo Mijnssen, Wien

Eine Welle der Unsicherheit erfasst Europas Osten: Zehntausende von russischen Soldaten marschierten im April an der Grenze zur Ukraine auf, fast gleichzeitig begann ein heftiger diplomatischer Streit zwischen Prag und dem Kreml um Moskaus Spionage und Sabotage in Tschechien. Die erzwungene Landung eines Flugzeugs und die anschliessende Verhaftung eines oppositionellen Journalisten durch Weissrussland provozierten im Mai Sanktionen der EU und der USA, während Moskau dem Machthaber in Minsk den Rücken stärkte.

Der Zeitpunkt der Spannungen dürfte kein Zufall sein: Russland testet die Schmerzgrenze der neuen Regierung in Washington, während diese ihre genaue Linie noch sucht. Mit Biden sitzt zwar ein überzeugter Transatlantiker im Weissen Haus. Aus diplomatischen Kreisen in Europa ist dennoch zu hören, man sei überrascht, wie langsam das Aussenministerium in Gang komme.

Einflussreicher Aussenpolitiker

Wess Mitchell, einer der einflussreichsten republikanischen Aussenpolitik-Experten der jüngeren Generation, leitete unter Donald Trump eineinhalb Jahre lang im Rang eines Assistenzsekretärs die Europa-Abteilung des amerikanischen Aussenministeriums. Als Buchautor und Nachfolger von Victoria Nuland prägte der Texaner die amerikanische Politik in Zentral- und Osteuropa mit. Im Gespräch zieht der 44-Jährige nun Bilanz – es ist das erste Mal, wie er betont, dass er sich gegenüber einem Medium über seine Zeit im Staatsdienst äussert.

«Die USA haben erst spät realisiert, dass wir uns in einer neuen Ära des Wettbewerbs unter den Grossmächten befinden», sagt Mitchell. Sie müssten deshalb den Grossteil ihrer militärischen Macht weg von Europa in Richtung Asien orientieren. China werde die kombinierte Stärke der EU und der USA eher früher als später übertreffen. «Die militärische Dominanz Amerikas geht zu Ende», sagt er, «und das heisst, dass China und Russland aggressiver und effektiver Einfluss ausüben

Das Ende des «unipolaren Moments» hat für die Europäer zur Folge, dass sie sich zunehmend mit Forderungen aus Washington konfrontiert sehen, mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen. Dies bedeute für die europäischen EU- und Nato-Mitglieder, die Abschreckung gegenüber Russland zu übernehmen, findet Mitchell. «Wir brauchen eine Arbeitsteilung, damit sich die USA um Asien kümmern können, ohne Europas Stabilität zu gefährden.»

Trumps Vermächtnis

Unter Trump seien die Amerikaner diesem Ziel nähergekommen, glaubt Mitchell, der 2020 die auf Geopolitik spezialisierte Denkfabrik Marathon Initiative mitgegründet hat. Der ehemalige Präsident habe den Europäern deutlich gemacht, dass sie ihre Militärausgaben erhöhen müssten. Diese Forderung, ähnlich wie das Drängen auf tiefere Zölle und ein Ende der Nord-Stream-2-Pipeline, liege im strategischen Interesse der USA.

Schon Barack Obama habe höhere europäische Militärausgaben gefordert, dabei aber auf Charme gesetzt, während sein Nachfolger Druck ausgeübt habe. «Inhaltlich lag Trump meist richtig, aber seine Kommunikationsmethode war nicht immer förderlich für die von ihm gewünschten diplomatischen Ergebnisse», meint Mitchell zu den oft öffentlich ausgetragenen Konflikten der transatlantischen Partner. Er hält auch fest, sein eigener Abgang sei kein Protest gegen den Präsidenten gewesen. «Für die Europäer war die Kritik an Trumps Stil oft ein Vorwand, um nicht zugeben zu müssen, dass sie eigentlich die Forderungen ablehnten.»

Besondere Aufmerksamkeit liess Trump den Grenzregionen Europas – einschliesslich des Ostens der EU – zukommen. Mit diesem hat sich Mitchell ausführlich befasst: 2017 schloss er seine Dissertation über die strategischen Dilemmata des Habsburgerreichs ab. «Das Gebiet ist heute wieder Ground Zero der strategischen Konkurrenz zwischen den Grossmächten.» Russland sehe Ost- und Mitteleuropa als Hinterhof, China habe sich mit Investitionen in die Belt-and-Road-Initiative dort festgesetzt.

«Engagement» für Ungarn

Mitchell findet, dass die Vernachlässigung der Region die Annäherung einiger Staaten an China und Russland befördert habe. Um Gegensteuer zu geben, setzten die USA in ihrer Strategie für die nationale Sicherheit von 2017 auf ein stärkeres Engagement, um wieder an Einfluss zu gewinnen und die Westbindung zu stärken.

Nicht unumstritten war dabei der Dialog mit Ungarn, der Viktor Orban 2019 auch einen Empfang im Weissen Haus sicherte. Kritiker warfen Mitchell vor, mit der Aufwertung Orbans im Interesse der Geopolitik dessen Machtkonzentration und Schwächung des Rechtsstaats gutzuheissen. Unter Obama war der ungarische Ministerpräsident fast ein Geächteter gewesen. 2018 hingegen kam vom State Department kaum Kritik an den Parlamentswahlen, die laut den Wahlbeobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa «frei, aber nicht fair» waren.

«Gerade in labilen Staaten, wo wir uns über die Erosion demokratischer Standards Sorgen machen, müssen wir diplomatisch Präsenz markieren», dies glaubt der Politologe und Historiker Mitchell. So habe Aussenminister Mike Pompeo mehr Länder östlich von Deutschland besucht als seine Vorgänger unter Obama. Zudem habe Washington Alternativen präsentiert, bei der Versorgung mit Flüssiggas und Infrastrukturprojekten, aber auch in heiklen Bereichen wie der Handy-Technologie. Er verweist auf die Stärkung der Präsenz in Ostmitteleuropa durch Verteidigungsabkommen und Waffenlieferungen, den Ausschluss von Huawei aus den Netzwerken vieler Länder und zusätzliche Unterstützung für die freien Medien und die Zivilgesellschaft in der Visegrad-Region.

In Ungarn bleibe die Erfolgsbilanz dennoch durchzogen, findet Mitchell: «Budapest sichert sich weiterhin gegen alle Seiten ab. Die Balance zwischen einem klaren Bekenntnis zu demokratischen Werten und der Abschreckung der strategischen Gegner bleibt heikel. Diese Balance zu finden, ist aber die Kernaufgabe der Diplomatie.»

Schwierige Balance

Nicht leicht ins Gleichgewicht zu bringen ist auch die Behandlung der Partner innerhalb der EU. So gibt Mitchell zu, der Umgang Trumps mit Deutschland – wie zuvor auch jener von George W. Bush – habe «blaue Flecken» hinterlassen. «Biden präsentiert sich nun als Anti-Trump. Das reicht aber nicht.» Der neue Präsident zelebriere die Wiederannäherung so stark, dass er sich möglicherweise mit einer Verbesserung der Atmosphäre zufriedengebe, statt die strategischen Ziele der USA zu erreichen. «Die Frage ist: Wie wird Biden reagieren, wenn die Europäer zu seinen Forderungen, die grösstenteils dieselben sind wie die von Trump, ‹Nein› sagen? Wird er nur Zuckerbrot verwenden oder auch die Peitsche?»

Besonders schwierig ist dabei der Umgang mit Projekten wie Nord Stream 2, an denen sowohl Alliierte als auch strategische Gegner interessiert sind. Bidens Verzicht auf weitere Sanktionen verbessert die Beziehungen zu Deutschland und die Atmosphäre mit Russland vor dem Treffen der Präsidenten Mitte Juni. «Dass Biden nach seiner Kritik an Trumps Russland-Politik Putin als Erstes einen ‹Friedensgipfel› anbietet, entbehrt nicht einer gewissen Ironie», so Mitchell. Gemeinsame Interessen sieht er nur bei der Rüstungskontrolle.

«Diplomatie auf höchster Ebene mit einem Gegner dient dazu, entweder einen Ölzweig zu reichen oder die Abschreckung zu stärken», davon ist Mitchell überzeugt. Für Ersteres sieht er angesichts der Spannungen in Osteuropa und der russischen Cyberattacken gegen amerikanische Infrastrukturanlagen keinen Raum. Die Abschreckung hingegen sei umso wichtiger, als die Ostmitteleuropäer das Treffen sonst als Belohnung für Putins Aufmarsch in der Ukraine interpretierten. «Deshalb muss Biden Putin eine klare Botschaft überbringen: dass die USA für ihre Interessen und für ihre Verbündeten in Europa kämpfen.»

nzz.ch/international/trump-biden-und-europa-geopolitik-lastenverteilung-und-stil-ld.1627809

Titelbild: United States Department of State, Public domain, via Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:A._Wess_Mitchell_official_photo.jpg

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