Auf dem Höhepunkt der einheimischen Corona-Pandemie – mit bisher 1,94 Millionen Infizierten (davon aktuell 46.902 Erkrankten), 69.000 Todesfällen (Angaben der Johns Hopkins University, Stand 30. Mai 2021) und mit 215,63 Todesfällen je 100.000 Einwohner nach Brasilien das Land mit der zweithöchsten Inzidenz Lateinamerikas – fand am Sonntag, den 6. Juni, in Peru die Stichwahl des künftigen Staatschefs statt, deren erste Wahlrunde Mitte April 2021 Thema der NachDenkSeiten war. Von unserem Südamerika-Korrespondenten Frederico Füllgraf.
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Die damals umrissene, hochgradig politische Fragmentierung – mit rund einem Dutzend Präsidentschaftskandidaten und dem Sprung Pedro Castillos und Keiko Fujimoris in die Stichwahl als Erstplatzierte mit weniger als 20 Prozent der abgegebenen Stimmen – eskalierte in weniger als zwei Monaten zu einer einmaligen, zweifelhaften Polarisierung. Das rein rechnerische Patt könnte so ausgelegt werden, dass es in einigen Ländern Lateinamerikas weder dem progressiven noch dem konservativen Sektor gelingt, ohne komplizierte Hindernisse die Wähler von ihren politischen und sozialökonomischen Konzepten und Zielen zu überzeugen. Indes, wie sich beispielhaft 2018 mit dem Kandidaturverbot Luis Inácio Lula da Silvas und der damit verbundenen Wahl Bolsonaros und nun am Stil der Wahlkampagnenführung Fujimoris zeigte, ist die scheinbare, falsche Polarisierung nur mit Anwendung diffamierender Winkelzüge und medial gesteuerter Intrigen herbeizuführen.
Die erste Stimmen-Schnellauszählung der Wahlbehörde (ONPE) vom späten Sonntagabend bescheinigte Pedro Castillo von der Bewegung Peru Libre 50,2 Prozent und seiner Herausforderin Keiko Fujimori von der Partei Fuerza Popular 49,8 Prozent der Stimmen. Woraufhin Castillos Anhänger auf die Straßen Limas strömten, um den Wahlsieg zu feiern; in Wahrheit ein Patt, das enger nicht sein könnte und noch nicht als konsolidierte Stimmenmehrheit bewertet werden konnte. (Anm. d. Redaktion: Zu einem späteren Zeitpunkt der Auszählung verschob sich dementsprechend auch die Stimmenmehrheit leicht zugunsten Fujimoris.) Das enge Ergebnis, egal ob zugunsten Castillos oder Fujimoris, kündigt allerdings schwere Zeiten für die unmittelbare Zukunft Perus an, dessen sogenannte, vor allem städtische, weiße, schwere Korruption in Kauf nehmende Elite jeden auch noch so bescheidenen wohlfahrtspolitischen Umbau des Staates nicht tatenlos hinzunehmen bereit ist, wie der Mordanschlag von Ende Mai andeutete.
Das Attentat und die künstlich herbeimanipulierte Polarisierung zum Stimmenpatt
Am Wochenende des vergangenen 23./24. Mai, also zwei Wochen vor der Stichwahl, meldeten peruanische und internationale Medien einen seltsamen Anschlag im Hinterland Perus. Nach Angaben des peruanischen Polizeipräsidenten César Cervantes forderte ein Angriff mit Feuerwaffen den Tod von mindestens zehn Männern, sechs Frauen und zwei Kindern. Der Tatort, so die Mitteilung, befinde sich in einem „vom Drogenhandel dominierten Gebiet mit Bars und Bordellen, in unmittelbarer Nähe zu den Ufern des Ene-Stroms, im Regierungsbezirk San Miguel del Jan, in der Provinz Satipo“. Die am Tatort aufgenommenen Polizeibilder zeigten Patronenhülsen und eine Broschüre mit dem Logo der Kommunistischen Partei Perus, dem offiziellen Namen der in den 1980er Jahren bekanntgewordenen und nahezu militärisch liquidierten, maoistisch orientierten Guerilla-Organisation „Sendero Luminoso“ („Leuchtender Pfad“).
In dieser Broschüre, so die Polizei, wurden die Einwohner dazu aufgefordert, nicht für die Präsidentschaftskandidatin Keiko Fujimori zu stimmen. Nach unbestätigten Angaben operieren seit Jahrzehnten Überreste der Terrorgruppe als bewaffnete Beschützer der Kokainproduzenten in diesem Gebiet. Die Polizei „kaufte“ Tatort und die scheinbaren Beweise zu ihrem Nennwert und die Medien sorgten für ihre Verbreitung. Dass der „Leuchtende Pfad“ eine durchgeknallte, kaltblütige bis menschenverachtende Terrorbande war, darüber bestehen selbst bei übertriebenen Skeptikern kaum mehr Zweifel. Aber sollten ihre angeblichen „Überreste“ in ihrem Kalkül derart verblendet gewesen sein, dass sie mit dem Attentat nicht etwa die Stimmabgabe für Frau Fujimori verhindert, sondern umgekehrt vielmehr angeregt haben?
Unmittelbar nach dem Anschlag fragte sich die britische BBC, „wie die Wahlen in Peru durch das Massaker beeinflusst werden können“. Die Reaktion der rechtsradikalen Kandidatin ließ nicht lange auf sich warten. „Pedro Castillo und seine Gruppe werden der Nähe und der Verbindungen zum Terrorismus verdächtigt“, unterstellte Castillos Herausforderin Keiko Fujimori. Der linke Präsidentschaftskandidat antwortete energisch auf seinem Twitter-Account: „Meine Solidarität mit den Familien der 18 Opfer des feigen Angriffs in Pichari, VRAEM. Ich verurteile diesen Terroranschlag aufs Schärfste und fordere die Justiz dazu auf, das volle Gewicht des Gesetzes anzuwenden. Wir werden keine Gewaltakte dulden.“
Für Orazio Potestà, peruanischer Experte für Drogen-Terrorismus, störte der Angriff „die Kampagne komplett“. In der Umgebung des Tatorts, so Potestà, würden sich bei der Stichwahl Einschüchterung der Bevölkerung und Stimmenthaltung einstellen. Im übrigen Peru und in der Hauptstadt Lima könne das Attentat politische Debatten entfachen. Sodass „im Feld der Debatte einer der beiden Kandidaten sich die Antiterror-Thematik aneignen wird. Es (Anm. F. F.: das Attentat) könnte geradezu einen Gefallen für jenen Kandidaten bedeuten, der „konkrete und bewährte Lösungen“ gegen den Terrorismus anbietet. … Und an diesem Punkt habe Keiko Fujimori den Vorteil, dass sie sich den Antiterror-Diskurs angeeignet und Vorschläge hat, die in den 90er Jahren von der Regierung ihres Vaters getestet wurden und eine gewisse Wirksamkeit gezeigt hätten – ein Diskurs, den Castillo aber nicht anbieten kann“, schätzte Potestà.
Überwog in Peru bis vor wenigen Monaten noch der durch Abneigung und Abscheu geprägte „Anti-Fujimorismus“ als demokratische Grundhaltung gegen Staatsterror und Korruption, so kippte insbesondere mit der Kandidatur des linken, indigenen Dorflehrers Pedro Castillo die Stimmung zugunsten eines längst totgeglaubten, jedoch künstlich wiederbelebten, konfusen Antikommunismus. Mit anderen Worten, die verunsicherte Mittelklasse suchte widersprüchliche Zuflucht im von ihr verabscheuten Fujimorismus.
Keiko Fujimori, „Erbin“ des Diktators und die Fangarme der kriminellen Umtriebe
Keiko Sofía Fujimori Higuchi, so der vollständige Name der Kandidatin, ist in der peruanischen Politik mehr als bekannt. In jungem Alter übernahm sie eine skurrile, jedoch nützliche Rolle für die Regierung ihres Vaters, des ehemaligen autoritären Staatspräsidenten Alberto Fujimori, und wurde statt ihrer geschiedenen Mutter mit 20 Jahren zur jüngsten „First Lady“ Lateinamerikas erkoren. Keiko Fujimori machte nie einen Hehl daraus, dem korrupten Gewaltregime ihres Vaters zu huldigen und sein „Erbe“ anzutreten.
Die Fujimoris entstammen verarmten japanischen Migranten aus Kumamoto, die sich in den 1930er Jahren in Peru niederließen. Keikos Vater Alberto studierte Agrarwissenschaften und begann seine politische Karriere im Jahr 1990 als Outsider und Spitzenkandidat der von ihm ein Jahr zuvor gegründeten Cambio-90-Bewegung. Damals in der politischen Szene ein illustrer Unbekannter, suchte der „Chino“ anfängliche Unterstützung von Randgruppen der peruanischen Gesellschaft, kleinen Geschäftsleuten und einigen evangelikalen Kirchen, allesamt fern der politischen Tradition nationalistischer und progressiver Parteien.
Als Präsidentschaftskandidat erhielt Fujimori im ersten Wahlgang vom April 1990 knapp 30 Prozent der Stimmen und sicherte sich nicht nur die Stichwahl, sondern damit gleichzeitig auch eine Portion Ansehen, weil er gegen den weltweit bekannten Schriftsteller Mario Vargas Llosa antrat, der im Jahr 2010 als Träger des Literatur-Nobelpreises im globalen Rampenlicht glänzte. Kaum zu glauben, doch mit Unterstützung linker Organisationen, Gewerkschaften und der nationalistischen APRA-Partei besiegte Fujimori in der Stichwahl Vargas Llosa mit 62,32 Prozent der Stimmen; eine peinliche Niederlage für den ruhmreichen Romanautor, der kurz darauf sich von Peru verabschiedete und seitdem in Spanien lebt. Ironie der Geschichte: Nun warnte Vargas Llosa weltweit vor dem „bedrohlichen Totalitarismus“ und warb ausgerechnet für Keiko Fujimori in der Stichwahl.
Nach einem erneuten Wahlantritt und dem Sieg im Jahr 1995 regierte Alberto Fujimori knapp zehn Jahre lang die Andenrepublik Peru, floh jedoch im Jahr 2000 nach schweren Anklagen nach Japan und wurde offiziell des Amtes enthoben.
Fujimori hatte bereits zu Beginn seines ersten Mandats radikal-liberale „wirtschaftliche Anpassungsmaßnahmen“ durchgesetzt, die sozialen Funktionen des Staates abgebaut und, entsprechend den Empfehlungen des Washington Consensus, den Markt zur herrschenden Regulierungs- und Entscheidungsinstanz erhoben. Das heißt, Handelsliberalisierung, die Schaffung eines „wettbewerbsfähigen“ Wechselkurses, die Privatisierung von Unternehmen sowie die Beseitigung von Hindernissen für ausländische Direktinvestitionen. Während seiner Amtszeit führte Peru zwei Kriege: gegen das Nachbarland Ecuador und gegen die peruanische Guerilla „Leuchtender Pfad“. Von autoritärem Charakter geprägt, war Fujimori für mehrfache politische Willkürakte verantwortlich, darunter sein „Selbstcoup“ von 1992, mit dem er unter dem Druck großer sozialer Unzufriedenheit das Parlament und den Obersten Gerichtshof auflöste. Die Maßnahme ermöglichte es ihm, ein autoritäres Regime zu festigen, das sich zahlloser Menschenrechtsverletzungen schuldig machte.
Im Jahr 2009 wurde Fujimori für brutale Vergehen gegen die Menschenrechte, bekannt als „Fälle Barrios Altos und La Cantuta“, zu 25 Jahren Haft verurteilt; ein Urteil, das 2015 wiederholt ratifiziert wurde. Der erste Fall betrifft die Ermordung von 15 Menschen, darunter einen 8-jährigen Jungen während einer Party, an der angeblich Mitglieder des Leuchtenden Pfades teilgenommen hätten, was von den Gerichten ausgeschlossen wurde. Im zweiten Fall wurde Fujimori der Entführung, Ermordung und Bestattung in anonymen Gräbern von acht Studenten und einem Professor der Nationaluniversität Enrique Guzmán y Valle am 18. Juli 1992 beschuldigt. Hinzu kam der Vorwurf der Ermordung von sechs Menschen im Distrikt Pativilca, Barranca, im Jahr 1992. Gerichtsunterlagen belegten, dass die von ihm befehligte Geheimdienstabteilung „Grupo Colina“ – die den Leuchtenden Pfad und die revolutionäre Bewegung Túpac Amaru (MRTA) beschattete und militärisch bekämpfte – an beiden Einsätzen beteiligt war.
Die kalkulierte Protektion der Terrorgruppe Colina wurde Fujimori zum Verhängnis und zum Anklagemotiv. Die Beschuldigung lautete „Missachtung des Rechts auf Leben, des Rechts auf persönliche Integrität, auf gerichtliche Sicherheit, ferner des Rechtsschutzes sowie der Gedanken- und Meinungsfreiheit“. Nach knapp siebenjährigem freizügigem Aufenthalt in Japan kam Fujimori nach Chile, dessen Justiz jedoch dem Auslieferungsantrag der peruanischen Justiz zustimmte. Seitdem saß Fujimori in Haft, wurde jedoch von seinem einstigen Kontrahenten, Präsident Pedro Pablo Kuczynski, im Jahr 2018 begnadigt; eine höchst umstrittene Entscheidung, die in verschiedenen Teilen des Landes heftige Proteste auslöste und zusammen mit den Korruptionsvorwürfen gegen Kuczynski einen Grund für seine Popularitätseinbußen bildeten, die in seinem Rücktritt gipfelten.
Die Verhaftung ihres Vaters Alberto schien für die Tochter Keiko erst recht Anlass zu sein, um sich als „starke Frau“ in der Politik zu inszenieren. Allerdings wurde gegen sie wegen Korruption ermittelt und die Fujimori-Erbin zunächst zu 30 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt. Sie wurde dreimal inhaftiert und dank mafia-ähnlichen Verzahnungen im Justizapparat – darunter der Schmierung eines bekannten Staatsanwaltes – wieder freigelassen. Doch Staatsanwalt José Domingo Pérez, vom peruanischen Ableger der brasilianischen Einsatzgruppe „Lava Jato“ zur Korruptionsbekämpfung, leitete unbeirrt Ermittlungen gegen die Politikerin ein, die im Justizfall „Cocktails“ des Erhalts illegaler Finanzierungsbeiträge für ihre beiden vorherigen Präsidentschaftskampagnen in den Jahren 2011 und 2016 beschuldigt wird.
Die These der Staatsanwaltschaft lautet, die angehenden Präsidentschaftskandidaten, darunter auch Keiko Fujimoris Herausforderer Pedro Pablo Kuczynski, hätten mehr als eine Million US-Dollar „gewaschen“, die aus der „Abteilung für Strukturierte Operationen“ des brasilianischen Bauunternehmens Odebrecht stammten und mit fiktiven Verträgen und überbewerteten Aufträgen abgerechnet wurden.
Die Zahlungen wurden von Jorge Barata, einem ehemaligen Vertreter von Odebrecht in Peru, während seines Verhörs in Curitiba, Brasilien, bestätigt. Er habe zwei Anweisungen über jeweils 500.000 US-Dollar, insgesamt also einer Million US-Dollar, an Jaime Yoshiyama und den ehemaligen Fujimori-Minister Augusto Bedoya Cámere auszahlen lassen. Auch Marcelo Odebrecht, ehemaliger CEO des Bauunternehmens, erklärte auf Nachfrage, dass er sicher sei, dass Geld für Keikos Kampagne sowie die der anderen Kandidaten, die bei den Parlamentswahlen 2011 antreten wollten, gespendet wurde.
Angesichts dieser und anderer Beweise hält die Staatsanwaltschaft die Hypothese aufrecht, dass Keiko Fujimori eine kriminelle Organisation anführt, die die Partei Fuerza Popular als Fassade nutzt. Diese werde von einem harten Kern geführt, der bereit war, die politische Macht in den Jahren 2011 und 2016 zu erobern.
In der Geschichte Perus gibt es keinen Präzedenzfall, bei dem ein Präsidentschaftskandidat gewählt worden wäre, gegen den ermittelt wurde. Wie der Strafverteidiger Rafael Chanjan Documet warnt, könnte Keiko Fujimori, falls gewählt, allerdings der erste skandalöse Fall einer erwiesenen Kriminellen im Präsidentenpalast sein.
Pedro Castillo, der Indigene
Pedro Castillo, ein indigener Mann der konservativen Linken, ist der Kandidat von Peru Libre. Er überraschte im ersten Wahlgang und war mit 19 Prozent der Stimmen der am meisten gewählte Kandidat. Sollte Castillo am Ende siegen, könnte Peru nach 30 Jahren marktliberaler Politik in eine neue Ära eintreten, spekulierten verschiedene Medien wie der französische Rundfunk in den vergangenen Wochen. Es wäre der Sieg des Zentrums und des Südens Perus, in denen die Mehrheit der indigenen Bevölkerungen lebt und schuftet, die sich im Gegensatz zu den dominierenden Eliten Limas mit Castillo identifizieren.
Der bäuerliche, im 1.000 Kilometer von Lima entfernten Chota in Armut geborene Castillo, der auf einem Pferd zur Wahl anritt, hat es immerhin vollbracht, jenseits der indigenen Abstimmung den Anti-Fujimorismus zu vereinen. Der Grundschullehrer Castillo, mit einem Master in Pädagogischer Psychologie, erlangte landesweites Ansehen als Führer der Lehrer:Innengewerkschaft Perus (Sutep), die 2017 einen Streik für angemessene Gehälter und Schulausstattung führte.
Fujimori-Anhänger beschimpfen Castillo nicht nur als „Kommunisten“, sondern auch als „Terroristen“, weil er auch in einer Gruppe zum Schutz von Menschenrechten tätig war, die die Freilassung ehemaliger Mitglieder des Leuchtenden Pfades fordert. Castillo konterkariert die Unterstellungen, er sei als „Rondero“ tätig gewesen, eine bäuerliche Selbstverteidigungsgruppe, die umgekehrt den maoistisch angehauchten Leuchtenden Pfad entschieden bekämpfte.
Einer der Sätze, die Castillos Präsidentschafts-Kampagne begleitet hat, lautet: „Nie wieder ein armer Mensch in einem reichen Land sein!“ Das Landesinnere bildet Castillos politische Basis. Lima und die Nordküste gelten umgekehrt als das Establishment und stimmen für Keiko Fujimori. Doch der Rest des Landes, die Andenwelt, stimmt für Castillo.
Was sind Castillos Regierungsprojekte?
Der linke Kandidat tritt für eine Reihe von Strukturreformen ein, die eine gewagte Umwälzung des ultraliberalen und sozialfeindlichen peruanischen Wirtschaftsmodells bedeuten könnten. Seine Strategie zielt unter anderem auf die Verstaatlichung strategischer Sektoren wie Bergbau, Gas und Öl ab. Obwohl privatwirtschaftlichen Aktivitäten nicht abgeneigt, fordert Castillo ähnlich wie Evo Morales bei seiner ersten Wahlkampagne, sie sollten „zum Nutzen der Mehrheit der Peruaner“ eingesetzt werden. Der linke Kandidat fordert auch, die Haushaltsausgaben für Landwirtschaft und Bildung stark aufzustocken, er bedenkt das derzeitige System der von Chile übernommenen privaten Pensionskassen (AFP) mit scharfer Kritik, das wieder durch ein nationales Rentensystem ersetzt werden sollte. Darüber hinaus schlägt der Lehrer vor, das Verfassungsgericht Perus zu „deaktivieren“ und es mit neuen, von den Bürgern gewählten Vertretern auszustatten; ein Mechanismus der direkten Demokratie, der nach Meinung von Politologen neue Impulse in hierarchischen und korrumpierten Institutionen bewirken könnte. Und letztlich, so Castillo, brauche Peru eine unabhängige Außenpolitik und „solle aufhören, ein von den USA unterworfenes Land zu sein“.
Einerseits sozialprogressiv, gilt Castillo andererseits als „genderkonservativ“. „Es ist ökonomisch revolutionär, aber sozial sehr konservativ“, wertet Carlos Meléndez, Akademiker an der Universität Diego Portales und peruanischer Forscher, und verwechselt „Sozialkonservatismus“ mit Gender-Konservatismus. Castillo sprach sich in der Tat gegen Abtreibung oder homosexuelle Ehe aus, er ist konservativ in Fragen wie dem Kampf gegen Bürger-Unsicherheit und unterstützt die starke Hand in Bezug auf die öffentliche Ordnung. Doch damit spricht Castillo dem peruanischen Hinterland aus dem Herzen.
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