Die Geschichte der Grundrechtseinschränkungen während der Corona-Pandemie wird heute zumeist so erzählt, dass die Regierung im Frühjahr vergangenen Jahres eine Notwendigkeit gesehen hat, schnell zu handeln und Rechte wie Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit, die Freiheit von Kunst und Kultur und andere einzuschränken, um das Recht auf Gesundheit zu wahren, kombiniert mit der Notwendigkeit, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. In dieser Einschätzung sind sich Befürworter und Kritiker der Maßnahmen sogar weitgehend einig – Uneinigkeit besteht darin, ob die Maßnahmen tatsächlich notwendig waren, ob sie angemessen waren und ob sie schnell genug wieder zurückgenommen werden. Von Jörg Phil Friedrich.
Einige Kritiker vermuten, dass die Regierung die sich bietende Gelegenheit genutzt hat, um wenigstens probeweise einmal herauszufinden, wie weit man mit Grundrechtseinschränkungen gehen könnte, um diese Mittel dann auch für andere Situationen – Stichwort Klimawandel – zur Verfügung zu haben. Zudem befürchten Maßnahmenkritiker auch, dass Maßnahmen nicht so zügig wie möglich wieder zurückgenommen werden, sodass etwa mit Verweis auf das mögliche Wiederaufflammen der Pandemie im Herbst das Demonstrationsrecht weiter eingeschränkt bleiben könnte, obwohl aus gesundheitspolitischer Sicht dafür kein Grund mehr besteht – falls er überhaupt je bestanden hat, denn die Befunde über die Möglichkeit, sich im Freien, an der frischen Luft, mit Corona zu infizieren, sprechen seit längerem eher dafür, dass Demonstrationen keine Gefahr darstellen.
Wie auch immer – „Lockerungen“ wird es in den nächsten Wochen geben, und mit der Rücknahme der Verordnungen und Verbote werden die Stimmen lauter, die meinen, die „Diktatur sein abgeblasen“, diejenigen, die bereits vor der endgültigen Abschaffung der demokratischen Freiheiten gewarnt hatten, seien widerlegt und alles sei doch wieder gut. Ist das wirklich so? Gesetzt, schon in zwei oder drei Monaten sind alle Einschränkungen wieder aufgehoben, Demonstrationen mit 20.000 oder 200.000 Teilnehmern seien wieder möglich, ganz ohne Masken, lautstark, und auch die Theater können wieder spielen, Versammlungen und Diskussionen sind wieder erlaubt – ist die Diktatur dann abgesagt und können die, die um die politische Freiheit fürchteten, beruhigt sagen, dass sie sich wohl geirrt haben, und sich wieder beruhigt zurücklehnen?
Keineswegs. Die Geschichte der Grundrechtseinschränkungen, die wir in den vergangenen anderthalb Jahren erlebt haben, muss nämlich anders erzählt werden. Wir müssen uns fragen: Wie waren sie überhaupt möglich? In welchem Zustand waren diese Demokratie und diese Gesellschaft schon vor der Pandemie, sodass die Grundrechtseinschränkungen überhaupt als Option für die Politik wahrgenommen und als notwendig und akzeptabel von der Bevölkerung hingenommen wurden?
Die westlichen Gesellschaften bezeichnen sich gern selbst als die „freien Gesellschaften“, was wohl bedeuten soll, dass Freiheit das zentrale Merkmal dieser Gesellschaften ist. Freiheit des Einzelnen, sein Leben zu entwerfen und zu gestalten, Entscheidungs- und Meinungsfreiheit, die Freiheit, auch etwas Riskantes zu tun, wenn es zur persönlichen Freude, zur Welt- und Selbsterfahrung beiträgt, das sollen die wichtigen Merkmale des Lebens in einer solchen Gesellschaft sein. Dazu kommen, so der allgemeine Konsens, die Freiheit der Mitgestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen selbst durch politische Betätigung, vor allem aber auch durch freie Meinungsäußerung in öffentlichen Diskussionsrunden und auf Versammlungen und Demonstrationen.
Es trifft fraglos zu, dass diese Freiheiten bisher – wenigstens bis zum Beginn der Ausbreitung des Corona-Virus – in Deutschland und anderen Ländern, die sich als freie Gesellschaft sehen, umfangreicher gewährleistet waren als in vielen anderen Ländern. Die Frage ist aber, wie sicher man sich dieser Freiheiten sein kann. Die Frage ist vor allem, wieviel Energie zur Verteidigung dieser Freiheiten die Menschen aufzubringen bereit wären, wenn sie erst einmal nachhaltig auf dem Spiel stehen, und wieviel sie der Mehrheit der Bevölkerung im Zweifel Wert sind. Die politischen Ereignisse während der vergangenen 15 Monate lassen Zweifel daran wachsen, dass sich eine ausreichende Zahl von Menschen für ihre Freiheitsrechte überhaupt interessiert und dass viele ohne weiteres bereit sind, alle Freiheiten herzugeben, wenn ihnen nur durch Experten versichert wird, dass mit den Freiheiten die Sicherheit auf dem Spiel steht.
Wenn wir eines Tages die Geschichte des Endes der freien Gesellschaften erzählen, werden wir nicht bei der Pandemie beginnen müssen, sondern Jahrzehnte früher, bei den vielen Vorschriften, die das Leben im Alltag sicherer machen sollten. Es begann mit Kleinigkeiten: die Vorschrift für die Anbringung der Geländer in Treppenhäusern, die Normen für Haushaltsgeräte, die Helm- und die Anschnallpflicht, das Rauchverbot in Gaststätten und Büros. All das sind viele kleine Sicherheiten und Annehmlichkeiten, wohl kaum jemand wird sie im Einzelnen als völlig abwegig ablehnen, schon ihre kritische Erwähnung dürfte bei vielen Mitmenschen Stirnrunzeln verursachen.
Terroristische Bedrohungen und Anschläge haben dazu geführt, dass für Weihnachtsmärkte wie auch für Großveranstaltungen Sicherheitskonzepte gefordert und erarbeitet wurden. Betonbarrieren und angemietete LKW versperren nun den Zugang zum Jahrmarkt, niemand fragt, wie angemessen solche Maßnahmen wirklich sind, die Bevölkerung nimmt die Unannehmlichkeiten wie auch die verstärkte Polizeipräsenz gern in Kauf, um sich in Sicherheit zu fühlen.
Diese vielen kleinen und großen Maßnahmen, Vorgaben, Regelungen und Verordnungen haben im Ganzen zu der großen Erzählung beigetragen: Sicherheit, Schutz vor Gefahren, Schutz der Gesundheit, Vermeidung von Risiken für Leib und Leben sind die höchsten Güter, denen alles unterzuordnen ist, und für ihre Gewährleistung hat der Staat zu sorgen, er soll sie kontrollieren und soll alle Maßnahmen ergreifen können, um unsere Sicherheit unter allen Umständen so gut wie irgend möglich zu garantieren. Nicht nur jeder Tote ist einer zu viel, auch jede Verletzung, jeder Unfall, jedes überhaupt vermeidbare Risiko ist eins zu viel. Im Namen der Sicherheit kann und muss im Zweifel jede Eigenverantwortung und jede Freiheit zurückstehen.
Das ist der Konsens, der in den letzten Jahrzehnten in der Gesellschaft entstanden ist. Die Optimierung der Sicherheit – gewährleistet durch den regelnden Staat – hat höchste Priorität.
Dieser Konsens war die Voraussetzung dafür, dass massive Freiheitseinschränkungen jeglicher Art mit Auftauchen des Corona-Virus nicht nur möglich wurden und von den meisten Medien, den meisten politischen Kräften und einem großen Teil der Bevölkerung auch klaglos akzeptiert, sondern dass sie im Grunde sogar verlangt wurden und als adäquates politisches Handeln begrüßt wurden.
Man stelle sich die Alternative vor, man stelle sich vor, Kanzlerin und Minister hätten Anfang 2020 etwa folgendermaßen gesprochen: „Es gibt eine Reihe von eigenverantwortlichen Handlungsoptionen zum Selbstschutz, die wir empfehlen und für die wir werben. Zudem werden wir alle unterstützen, die mit Eigeninitiative und Engagement vor Ort am Schutz gefährdeter Personen arbeiten. Außerdem werden wir alle Kraft in Impfstoffentwicklungen stecken. Aber wir werden keinesfalls unsere wichtigen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und persönlichen Freiheiten einschränken“. Wie hätte die deutsche Gesellschaft, wie hätten die Medien, die Oppositionsparteien, die Leute auf der Straße reagiert? Hätten sie entspannt und kreativ getan, was getan werden kann, und ansonsten akzeptiert, dass ein Virus nunmal eine schwere Krankheit verursachen kann, die gesundheitliche Schäden verursacht und Todesopfer fordert?
Das ist, wenigstens in Deutschland im 21. Jahrhundert, kaum denkbar. Der Wert der Freiheit ist so weit unter den Wert der staatlich organisierten Sicherheit gesunken, dass sie in den Überlegungen, wie der Staat und jeder von uns handeln sollte, wenn sie gefährdet ist, keine Rolle mehr spielt.
Es spielt in dieser Situation gar keine Rolle, ob irgendjemand, irgendeine politische Kraft oder irgendeine Person eine Diktatur anstrebt und die Demokratie beseitigen will. Es ist im Gegenteil gerade die große Gefahr, dass es hier niemanden gibt, der Ambitionen auf eine Alleinherrschaft hat, dass keine politische Verschwörergruppe identifiziert werden kann, die die Macht übernehmen, die demokratischen Institutionen entmachten und die Verfahren der politischen Mehrheitsbildung beseitigen will. Das, was hier entstehen kann, ist eine demokratisch legitimierte Herrschaft einer politischen Klasse, die mit der Zustimmung des ganzen Volkes, das nichts mehr wünscht als ein sicheres Leben, regieren kann. Ganz ohne Putsch entsteht so etwas wie eine „Diktatur ohne Diktator“, der Platz des Diktators bleibt unbesetzt und keine Militärjunta exekutiert ihr Regime. In einem solchen politischen System, für das es noch keinen Namen gibt, wird weiter regelmäßig gewählt werden, und die linke Sicherheitspartei wird mit der konservativen oder der grünen Sicherheitspartei abwechselnd Sicherheits-Koalitionen bilden. Demonstrationen und Versammlungen werden mit großem Bedauern auf ein kaum wahrnehmbares Maß reduziert werden, weil die Sicherheitslage es erfordert, und wer dem widerspricht, wird ein Gefahrenleugner sein. Kritische Medien werden mit großem Eifer die verschiedenen Sicherheitskonzepte der Parteien debattieren. Kritische Kunst wird erlaubt sein, soweit die Sicherheitsauflagen erfüllt werden können.
In so einem Land werden Leute, die all das nicht so einfach hinnehmen und akzeptieren können, nicht eingesperrt. Sie werden von der Mehrheit einfach lächerlich gemacht und im Namen der Sicherheit an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Man wird ihnen schlicht nicht zuhören, weil sie als Spinner und Gefahrenleugner schließlich nicht ernst genommen werden müssen, weil sie „den Konsens der Rationalität“ verlassen haben. Irgendwo werden diese Leute sich treffen, werden zusammen singen und diskutieren, und irgendwann werden sie auf die Straße gehen und laut sein, junge Leute, denen die Sicherheitsgesellschaft zu eng geworden sein wird, werden sich ihnen anschließen, man wird fröhlich sein und feiern und sich in den Armen liegen – und da werden sich auch die anderen erinnern, dass es noch was anderes gab als die Gesundheit und die absolute Sicherheit, was das Leben lebenswert und farbig gemacht hat. Die Leute werden auf den Straßen tanzen und feiern, und komischerweise wird in den Wochen danach keiner ernsthaft krank davon werden.
Titelbild: sonicbox/shutterstock.com