Die Doppelstandards bei den Reaktionen auf die erzwungene Landung einer Ryanair-Maschine in Minsk. Die medial geschürte Aufregung um den vermeintlichen „Staatsterrorismus“ nimmt kein Ende. Bereits gestern erinnerten die NachDenkSeiten daran, dass man hierbei doppelte Standards anlegt. Winfried Wolf hat diesen Aspekt für die NachDenkSeiten noch einmal aufgegriffen und anhand mehrerer Beispiele vertieft.
Das, was Alexander Lukaschenko am 23. Mai mit der RyanAir-Maschine und mit dem Regime-Kritiker Roman Protassewitsch und dessen Freundin Sofia Sapega veranstaltete, ist ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Protassewitsch verdient die Unterstützung der demokratischen Öffentlichkeit; seine Freilassung und diejenige seiner Begleiterin muss durch eine breite Mobilisierung der demokratischen Öffentlichkeit erreicht werden. Wobei Wertungen, wie sie jetzt bereits in den westlichen Medien verbreitet werden, wonach das angebliche „Schuldeingeständnis“ von Protassewitsch „offensichtlich unter Folter“ zustande gekommen und eine „gebrochene Nase“ zu erkennen gewesen sei, einige Fragezeichen gerechtfertigt erscheinen lassen. Jedenfalls gibt es dafür bislang keinerlei Belege. Unabhängig davon erscheint die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission und eine unaufgeregte Herangehensweise, die eine neue Verschärfung der West-Ost-Spannungen vermeidet, wichtig. Die Solidarität mit der Bevölkerung in Belarus und mit denen, die in diesem Land die Menschenrechte verteidigen, ist insbesondere auch nach der erzwungenen Landung der RyanAir-Maschine und der Verhaftung des Bloggers Protassewitsch dringend geboten.
Mehr als fragwürdig sind jedoch die Empörung, die westliche Politikerinnen und Politiker über die Behandlung des Bloggers durch das Lukaschenko-Regime äußern, und Behauptungen von der „Einmaligkeit“ des Vorgehens der belarussischen Regierung. Wir erleben ein weiteres Mal eine Dokumentation von Doppelstandards.
In der offiziellen Erklärung der EU heißt es, es handle sich hier um „einen einmaligen Versuch [der Regierung in Minsk; W.W.], die Stimmen der Opposition zum Schweigen zu bringen“.
US-Außenminister Antony Blinken erklärte, „unabhängige Medien und Journalisten“ seien „eine wesentliche Säule unserer Rechtsordnung“. Die USA unterstützten die Forderungen der belarussischen Opposition, „die Menschenrechte und die grundlegenden Freiheitsrechte“ zu respektieren.
Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz forderte „Konsequenzen“ für die Regierung in Minsk. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen, sprach von der „Entführung eines Flugzeuges“, die „von Moskau abgesegnet worden“ sei. Und die deutsche Kanzlerin erkennt einen „beispiellosen Vorgang“.
Vergleichen wir drei Vorgänge aus jüngerer Zeit, die einige Parallelen zur Politik, wie sie derzeit von der Regierung in Belarus praktiziert und zu Recht verurteilt wird, aufweisen.
Thema „Die Opposition zum Schweigen bringen und die Politik der EU“. Im Oktober 2017 votierte in Katalonien in einem Referendum eine Mehrheit für die Unabhängigkeit Kataloniens vom spanischen Zentralstaat. Seither gab es (im Dezember 2017 und im Februar 2021) zwei weitere demokratische Wahlen, in denen jeweils die Parteien, die für eine katalanische Unabhängigkeit eintreten, eine Mehrheit errangen. Die Regierung in Madrid reagierte auf das Referendum und auf die Unabhängigkeitsbestrebungen mit Polizeigewalt, mit Verhaftungen führender Unabhängigkeitsvertreter und deren Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen. Sie wird dabei von der EU unterstützt. Zwei führende katalanische Politiker, Carles Puigdemont und Oriol Junqueras, wurden im Mai 2019 ins Europaparlament gewählt. Sie können jedoch ihr Mandat in Straßburg und Brüssel nicht ausüben. Der Letztgenannte befindet sich in Madrid im Gefängnis. Der Erstgenannte muss im Exil in Belgien leben, da er bei einer Rückkehr nach Spanien ebenfalls verhaftet und zu einer langjährigen Strafe verurteilt werden würde. Vor wenigen Wochen, am 8. März 2021, hob das Europäische Parlament die Abgeordnetenimmunität von Puigdemont auf. Damit wird seine Auslieferung an Spanien erleichtert.
Bilanz: Die EU und ihre Einrichtungen gestatten es einem Mitgliedsland, die demokratische – absolut gewaltfreie – Opposition systematisch zu unterdrücken. Sie leistet dabei aktiven Beistand. Während die EU die Unabhängigkeit des Kosovo (und dessen Abspaltung von Serbien) unterstützte und neue Unabhängigkeitsbestrebungen der schottischen Nationalisten (mit einer Abspaltung von Großbritannien) indirekt unterstützt (obgleich ein Referendum ein negatives Resultat erbrachte), lehnt sie im Fall Katalonien eine solche Unabhängigkeit ab und leistet Beihilfe bei der gewaltsamen Unterdrückung der demokratischen Unabhängigkeitsbewegung.
Thema: „Die Verteidigung unabhängiger Medien und die Politik der US-Regierung“. Seit mehr als einem Jahrzehnt wird der australische Enthüllungsjournalist Julian Assange seiner Freiheitsrechte beraubt – in den Jahren 2010 bis 2019 befand er sich in London zwangsweise in der Botschaft Ecuadors. Seit April 2019 befindet er sich in britischen Gefängnissen, überwiegend in einem Hochsicherheitsgefängnis, dabei monatelang unter den Bedingungen der Isolationshaft. Die US-Regierung fordert die Auslieferung von Assange in die USA, wo ihm lebenslängliche Haft und schlimmstenfalls die Todesstrafe droht. Das „Verbrechen“ von Assange besteht in erster Linie darin, dass er Ton-, Bild- und Text-Dokumente auf der Enthüllungsplattform Wikileaks veröffentlichte, die Kriegsverbrechen, begangen durch die US-Armee, dokumentieren. Der Schweizer Jurist Nils Melzer, zugleich Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter, wirft den Behörden Großbritanniens und der USA vor, Assange im britischen Gefängnis der „weißen Folter“ auszusetzen, also der systematischen psychischen Zersetzung.
Bilanz: Die US-Regierung verfolgt dann unerbittlich investigative Journalisten, wenn diese Kriegsverbrechen und systematische Verletzungen der Menschenrechte, begangen durch die USA selbst, zum Thema haben. Auch die neue Regierung unter Joe Biden und Antony Blinken hält an der Forderung nach Auslieferung von Julian Assange fest. An Assange wird ein Exempel statuiert, dessen zentrale Botschaft lautet: Wer über Kriegsverbrechen des Westens berichtet, ist seiner körperlichen Unversehrtheit nicht mehr sicher.
Thema: „Flugzeugentführung und die Konsequenzen“. Anfang Juli 2013 befand sich der damalige bolivianische Präsident Evo Morales auf dem Rückflug von Moskau nach Bolivien. Beim Flug über österreichisches Territorium wurde seine Maschine zur Landung in Wien gezwungen. Die genauen Umstände, wie die Maschine zu Boden gebracht wurde, wurden nie ermittelt. Festzustehen scheint, dass mehrere EU-Staaten den Luftraum ihrer jeweiligen Länder für den Überflug der Präsidentenmaschine sperren ließen. Veranlasst wurde dies durch Druck der US-Regierung. Die Regierung in Washington vermutete in dem Flugzeug den Whistleblower Edward Snowden. Snowden, der viele Jahre lang für US-Geheimdienste gearbeitet hatte, hatte Enthüllungen über die weltweiten, umfassenden Bespitzelungsmaßnahmen der US-Geheimdienste, bei denen es ebenfalls um Kriegsverbrechen ging, berichtet. Evo Morales und seine Begleitung – darunter der bolivianische Verteidigungsminister – mussten zwölf Stunden lang auf dem Flughafen Wien ausharren, bis die bolivianische Maschine wieder abheben und den Rückflug nach Bolivien antreten konnte. Während des erzwungenen Aufenthalts von Morales in Wien bezeichnete der bolivianische Vizepräsident in La Paz die Maßnahme als „Kidnapping“. Mehrere lateinamerikanische Regierungen äußerten sich in ähnlicher Weise. Der damalige österreichische ÖVP-Außenminister Michael Spindelegger betonte, dass die österreichischen Behörden „das Flugzeug gründlich durchsucht“ hätten – was eindeutig internationalem Recht widersprach. Es seien jedoch, so Spindelegger damals, „nur bolivianische Bürger an Bord“ gewesen. Der direkte Nachfolger Spindeleggers im Amt des österreichischen Außenministers war im Übrigen der aktuelle ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz.
Wenn heute im Zusammenhang mit den Ereignissen in Belarus ein Vergleich mit der erzwungenen Landung der Maschine von Evo Morales im Jahr 2013 mit der Begründung abgelehnt wird, damals habe es doch „keine Verhaftung eines Passagiers“ gegeben, dann überzeugt dies in keiner Weise. Es gab damals aus einem einzigen Grund keine Verhaftung,: Es befand sich kein demokratischer Whistleblower an Bord. Wäre Snowden an Bord gewesen, dann hätten ihn die österreichischen Behörden ohne Zweifel verhaftet. Eine Auslieferung in die USA hätte unmittelbar auf der Tagesordnung gestanden.
Bilanz: Die EU stellte auch in diesem Fall unter Beweis, dass sie gegenüber der US-Regierung hörig ist. Sie dokumentierte, dass sie zum Ergreifen von illegalen, völkerrechtswidrigen Maßnahmen wie Freiheitsberaubung bereit ist, die sogar das Kidnappen eines zivilen Flugzeugs mit einschließen. Das Kriterium hierbei sind nicht internationale Werte und Gesetze, sondern ausschließlich die Wünsche der Regierung in Washington.
Im Übrigen demonstrierte die EU mit dem Kidnapping der bolivianischen Präsidentenmaschine der rechten und rechtsextremen Opposition in Bolivien, dass sie keinerlei Respekt vor dem bolivianischen Präsidenten hat. Was dann auch eine Ermunterung für einen gegen Morales gerichteten Militärputsch war. Einen solchen gab es im November 2019. Prompt gratulierte damals der US-Präsident Donald Trump umgehend den Putschisten mit den Worten: „Die Vereinigten Staaten applaudieren dem bolivianischen Volk für seinen Wunsch nach Freiheit und dem bolivianischen Militär für sein Festhalten an seinem Eid.“ (Der Standard, Wien, 12. November 2019). Die deutsche Bundesregierung wiederum, die in Bolivien erhebliche wirtschaftliche Interessen, insbesondere beim Lithium-Abbau, hat, sah noch im Januar 2020 die Putschisten fest im Sattel und erklärte damals: „Die Bundesregierung hat den Rücktritt von Präsident Evo Morales zur Kenntnis genommen und begrüßt, dass das Machtvakuum durch Ausrufen von Jeanine Áñez zur Übergangspräsidentin beendet wurde.“ (Bundestagsdrucksache 19/16877).
Es war dann eher Glück, dass Evo Morales im Rahmen des Militärputsches nicht – wie 1973 der demokratisch gewählte chilenische Präsident Salvador Allende – ermordet wurde und dass er in Mexiko ein einigermaßen sicheres Land fand, das ihm Asyl bot. Bei den Wahlen am 18. Oktober 2020 eroberte seine Partei MAS trotz massiven Unterdrückungsmaßnahmen seitens der rechtsgerichteten Militärs mehr als 55 Prozent der Wählerstimmen. Morales konnte am 10. November des letzten Jahres in seine Heimat zurückkehren.
Im Gegensatz zu dem Engagement von EU und deutscher Regierung für die Opposition in Belarus verdient der Kampf um Demokratie und Menschenrechte in Bolivien (oder in Katalonien) offensichtlich nicht die Unterstützung von Ursula von der Leyen und Angela Merkel. Doppelstandards eben.
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