Nicht erst seit den kreativen Flashmobs unter dem Motto „Danser Encore“ wird auch in Deutschland der Protest der Franzosen gegen die Corona-Maßnahmen als wohltuend engagiert empfunden. Wolf Wetzel hat zum Thema „Frankreich in Corona-Zeiten“ für die NachDenkSeiten ein Interview mit Sebastian Chwala geführt. Er ist Politikwissenschaftler und lebt in Marburg. Er hat schwerpunktmäßig zur radikalen Rechten in Frankreich und der Bewegung der “Gelbwesten” publiziert.
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Ich möchte gerne mit Dir zusammen einen Blick über die Grenze werfen, nach Frankreich. Da gibt es allerlei, was verstört (Macronismus), was irritiert (Gelbwesten), was „denen“ einfällt, inmitten der Pandemie in aller Öffentlichkeit zu singen: „Dancer encore“ – und das auch noch zusammen. Dann besetzen „die“ auch noch über 100 Theater und Kultureinrichtungen, während „wir“ hier in Deutschland brav zu Hause bleiben und das je nach Grad der Übertreibung als „Solidarität“ auspreisen.
Erzähle doch bitte erst einmal, welche Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie in Frankreich getroffen wurden und inwieweit sich diese von Deutschland unterscheiden?
Die Reaktion Macrons und der Regierung war bis März 2020 erst einmal abwartend. Ähnlich wie in hier in Deutschland wurde eine große Bedrohung durch Covid-19 verneint und das französische Gesundheitssystem als gut vorbereitet bezeichnet. Diese Einschätzung änderte sich in der Folge. Es wurde der „Gesundheitspolitische Notstand“ ausgerufen. Dies bedeutet nicht nur, dass faktisch alle Schulen, Universitäten und Kinderbetreuungseinrichtungen schließen mussten, sondern auch der Einzelhandel, bis auf die Ausnahme der „existenziell wichtigen“ Unternehmen. Dies war in der Geschichte Frankreichs ein einmaliger Vorgang.
Doch dieser neu geschaffene Notstandsgrund (die Ausrufung des Notstandes an sich lässt die „gaullistische“ Verfassung aus den späten 1950er Jahren zu) war auch ein faktisches Ermächtigungsgesetz für die Exekutive. So kann die Regierung alle pandemiebezogenen Verordnungen und Gesetze ohne Zustimmung des Parlaments verabschieden. Dies wurde nur von links in der Nationalversammlung kritisiert. Die entsprechende Vorlage wurde dann auch von diesen Fraktionen abgelehnt. Zwar ist das französische Parlament nach der aktuell geltenden Verfassung in erster Linie ein Gremium, das eigentlich nur Regierungsvorlagen durchwinken soll, da der Exekutive etliche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Kammer bei drohenden Widerworten kaltzustellen. Doch die Parlamentarier auch formal auszuschließen, hatte eine neue Qualität. Das Pandemiemanagement wurde sogar in ein eigenes Sondergremium verlagert, das sich aber eher dadurch auszeichnete, mehr Militärs in seinen Reihen zu haben als Fachleute für Gesundheitsfragen. Dieser „Verteidigungsrat“ sollte schließlich auch einen „Krieg“ gegen das Virus führen und Macron die Aura eines starken handlungsfähigen Staatspräsidenten geben.
Dieser Regierungsstil hat aber nicht mit der Covid-19-Pandemie begonnen. Schon vorher hatte sich Staatspräsident Macron und die von ihm ernannte Regierung dadurch ausgezeichnet, möglichst schnell „Reformen“ durchzupeitschen. Ziel war es, gesellschaftlichen Protest von vornherein auszuschalten. Demokratische Debatten empfanden die Macroniten zudem als nicht effektiv und wirtschaftlich schädlich für den Standort. Top-Down-Entscheidungen prägten daher die Amtszeit seit 2017.
Eine Zusatzfrage, da ja immer vom „harten“ und „weichen“ Lockdown gesprochen wird. Wurde in Frankreich auch der Produktions-/Arbeitsbereich in die Maßnahmen einbezogen oder beziehen sich diese ausschließlich auf den Privat-/Freizeitbereich?
In Frankreich gab und gibt es eine ähnlich ungleiche Art und Weise der umgesetzten Maßnahmen gegen Covid-19 wie in Deutschland. Während die Unternehmen weitgehend weiterliefen, wurden Grundrechte in Frankreich vollständig außer Kraft gesetzt. Dies galt auch phasenweise für das Arbeitsrecht. So wurde die 48-Stunden-Woche erlaubt und der gesetzliche Urlaub gekürzt. Es wurde Unternehmen sogar erlaubt, Mitarbeiter während des ersten „confinement“ („Lockdown“ auf französisch) gegen ihren Willen in den Zwangsurlaub zu schicken. Diese Maßnahmen stießen auf die Ablehnung aller relevanten Gewerkschaften. Der Vorsitzende Philippe Martinez forderte im März 2020 dagegen einen Stopp der Produktion in für die Rüstungsproduktion relevanten Unternehmen. Die Macron-Administration kam zwar den Gewerkschaften entgegen und baute die Möglichkeit des Kurzarbeitergeldes aus, setzte aber beispielsweise Städte und Gemeinden unter Druck, dass auf Baustellen unbedingt weitergearbeitet werden müsse und diese Beschäftigten kein Anrecht auf Kurzarbeitergeld bekommen werden. Erst als sich der zuständige Unternehmerverband weigerte, gab das Arbeitsministerium klein bei.
Sofern es die Bewegungsfreiheit der Bürger im Privaten betraf, agierte Staatspräsident Macron allerdings hart. So wurde von März bis in den Mai hinein eine fast vollständige Ausgangssperre (Ausnahmen waren der Weg zur Arbeit und dringende familiäre Angelegenheiten) verhängt. Zwar waren kurze Spaziergänge erlaubt, man durfte sich aber nicht mehr als einen Kilometer von der eigenen Wohnung entfernen. Als Legitimation mussten die Franzosen selbst ausgedruckte und ausgefüllte Bescheinigungen mit sich tragen, die manche Karikaturisten an die deutsche Besatzungszeit zurückerinnerten. Der mehrfache Verstoß gegen diese Ausgangssperre wurde zu einem Straftatbestand erklärt, was eine Gefängnisstrafe von mindestens drei Jahren zur Folge hat.
Die Verordnungen, welche die rechtlichen Rahmengrundlagen definieren sollten, blieben aber immer schwammig und unklar, weshalb es im Ermessen der scharf kontrollierenden Polizei lag zu beurteilen, ob eine Übertretung vorlag. Dies konnte dazu führen, dass zum Beispiel das Tragen der „falschen“ Kleidung beim Joggen zu einem Bußgeld führen konnte. Auch vor Obdachlosen machte man nicht halt. Diese überstanden diese erste harte Phase nur, weil Aktivisten (oft aus der linksradikalen Szene) nachts heimlich Lebensmittel verteilten. Die meisten Einsprüche der betroffenen Bürger blieben ohne Erfolg.
Diese harte Linie ließ sich der französische Staat Sonderzuwendungen von 12,5 Millionen Euro an die Streifenpolizisten kosten. Diese durften sich auch aller Formen der Überwachungstechnik erfreuen. Mit Drohnen und Wärmebildkameras suchten Einsatzstaffeln auch noch die unzugänglichsten Winkel der Städte nach Menschen ab, die sich vermeintlich illegaler Weise auf den Straßen aufhielten. Inzwischen sind immer noch nächtliche Ausgangssperren in Kraft, die von vielen (jungen) Menschen in Frankreich aber nur noch bedingt ernst genommen werden, weil die Angst vor eventuellen Strafen deutlich abgenommen hat.
Besonders problematisch war allerdings die Situation in den migrantisch geprägten Vorstädten. Hier haben sämtliche staatlichen Überwachungsstrategien des französischen Staates ihren Ursprung. Schließlich galt es seit jeher, diese als billige Arbeitskräfte ins Land geholten Menschen gezielt von der weißen Arbeiterschaft getrennt zu halten, soweit es möglich war. Allerdings galt es auch, der legitimen Unzufriedenheit Einhalt zu gebieten, die sich ab den 1980er Jahren in vermehrter Erwerbs- und Perspektivlosigkeit, verbunden mit der Verwahrlosung der Quartiere, entwickelte. Die Einkommensverluste durch das „confinement“ waren hier am größten und durch die strikten Ausgangssperren konnten günstige Einkaufsmöglichkeiten nicht erreicht werden. Im ärmsten kernfranzösischen Département Seine-Saint-Denis vor den Toren von Paris herrschte im Frühjahr 2020 phasenweise sogar Hunger, wie der zuständige Präfekt Staatspräsident Macron mitteilte. Da nun aber auch kein Protest mehr gegen strikte Polizeikontrollen legitim schien, nahmen die willkürlichen Kontrollen und Übergriffe gegen die Einwohner noch zu. Gegen Ende April 2020 gab es deshalb wieder die ersten kleinen Revolten in den „Banlieues“.
In Deutschland werden auch von der Linken (selbst den außerparlamentarischen) die Maßnahmen im Großen und Ganzen begrüßt und die Gegner dieser Grundrechtseinschränkungen als „Egoisten“ und „Sozialdarwinisten“ angegriffen und in den meisten Fällen mit Nazis gleichgesetzt bzw. in deren Nähe gerückt. Gibt es solche Spaltungslinien auch in Frankreich?
Allein die Amtszeit von Staatspräsident Macron hat sich durch eine unheimliche Zunahme der repressiven Akte gegen gesellschaftlichen Protest ausgezeichnet. Empört hat viele Menschen der staatliche Umgang mit der Gelbwestenbewegung. Dass Demonstrierende, die eine sozial angemessenere Wirtschaftspolitik fordern, als Antwort dafür mit Gummigeschossen und Granaten beschossen werden, hat viele Menschen in Frankreich entsetzt. Man muss sich die Zahlen vor Augen halten: Tausende Menschen wurden verletzt, manche verstümmelt und für den Rest ihres Lebens traumatisiert.
Freilich militarisiert sich Frankreich schon lange. Erst ging es gegen Migranten, dann gegen Studierende und Schüler sowie die üblich verdächtigen linken Gewerkschafter. Mit den Angriffen auf die Gelbwesten wurde aber eine bisher eher politisch passivere, weiße Arbeiterklasse in die Auseinandersetzungen mit einbezogen. Politischer Protest wurde auch in Frankreich schon vor Macron kriminalisiert und Aktivisten als gemeine Straftäter verunglimpft. Man denke an den erklärten Notstand nach den Terroranschlägen 2015 durch Präsident Hollande, dessen Regelungen zum Teil in normale Gesetzgebung überführt wurden (Hausdurchsuchungen ohne Richtervorbehalt), oder die Anti-Gelbwestengesetze, die verdachtsunabhängige Kontrollen im Umfeld von Demonstrationen erlauben und sogar Verurteilungen allein auf den Verdacht einer potenziellen Straftat hin erlauben. Nicht zuletzt deswegen wurden über 3.000 Gelbwesten verurteilt. Ein Drittel der Urteile war mit Haftstrafen verbunden. Jetzt kommt noch das jüngst verabschiedete Gesetz „zur globalen Sicherheit“ dazu, das allen öffentlichen wie privaten Akteuren Personenkontrollen erlaubt. Ein Verbot von Aufnahmen und Fotos von Polizeibeamten im Dienst wurde nur durch Massenproteste verhindert. Außerdem trat ein „Gesetz gegen den Separatismus“ in Kraft, dass „antirepublikanische“ Vereine leichter verbieten kann. Was das im Einzelnen heißt, definiert das Innenministerium selbst. In erster Linie richtet sich das Gesetz gegen das muslimische Vereinswesen, kann sich aber auch gegen linke Strukturen wenden, wenn diese zu sehr den strukturellen Rassismus im Lande thematisieren.
Die Stärkung der autoritären Elemente der französischen Republik durch die jeweiligen Regierungen, verbunden mit dem Versprechen, wieder Ordnung im Land zu schaffen, war in den letzten Jahren auch immer eine erfolgreiche Strategie der Rechtsparteien, um Stimmen zu gewinnen. Nachdem im letzten Frühjahr Macrons Partei LREM eine Bruchlandung bei den Kommunalwahlen erlebte, setzt man jetzt auch ganz offen auf die fremdenfeindliche Rhetorik von Rechtsaußen. Da schon aus der Tradition der französischen Linken und ihrem Bezug zur Französischen Revolution Freiheit genauso wichtig ist wie soziale Gerechtigkeit, läuft hier keine argumentative Trennungslinie zwischen den Fraktionen. Zumal traditionellere Parteien, wie die Kommunistische Partei, die eher auf ein durchweg kollektives Modell setzten, an Einfluss verloren haben. Mehr und mehr wird die Forderung nach vollständiger Basisdemokratie und wirtschaftlicher Selbstorganisierung laut. Die Distanz zu einem Staat, der progressiven Bewegungen immer kritisch gegenüberstand, kann demzufolge auch kein unkritisches Bekenntnis zu dessem Handeln zur Folge haben. Macrons Zustimmungsraten waren auch zum Höhepunkt der ersten Restriktionswelle im letzten Frühjahr immer die niedrigsten in Europa.
In Deutschland glaubt man – bis in die Linke hinein – dass das Schutznarrativ der Bundesregierung echt ist (von kleinen Wahnsinnigkeiten abgesehen). Ist das in Frankreich ähnlich?
Hier sehe ich den größten Unterschied. Der Beginn der Covid-19-Pandemie fiel in Frankreich mit einer Phase großer sozialer Bewegtheit zusammen. Seit dem Jahr 2018 verging kaum ein Monat, in dem nicht hunderttausende Menschen auf die Straße gingen. Angefangen hat dieser Zyklus schon 2016 mit „Nuit Debout“ und den Protesten gegen Arbeitsmarktreformen. Macrons Versuch, blitzartig in allen Bereichen neoliberale Reformen zu starten, blieb nicht ohne Gegenwehr. Wir erinnern uns, die Staatsbahn sollte privatisiert werden, das Arbeitsrecht weiter liberalisiert, eine Rentenreform, die das Rentenalter erhöhen soll, steht vor der Verabschiedung. Reden sollte man auch über die Reform der Arbeitslosenversicherung, die im Schnitt eine Leistungssenkung von 25 Prozent zur Folge haben wird. Für Teilzeitbeschäftigte wird diese sogar noch höher ausfallen, weil nun nur noch die gearbeiteten Stunden angerechnet werden, und nicht mehr, wie bisher, eine durchschnittliche monatliche Stundenzahl. Gegen diese „Reform“ protestieren die nicht selten als Freiberufler tätigen Kulturschaffenden, die es kaum schaffen, durch die Schließungen aller Kultureinrichtungen seit März 2020 die notwendigen 509 Stunden pro Jahr zu arbeiten, um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erhalten.
Doch auch die junge Generation traf es hart. Der Universitätszugang wurde erschwert und eine Reform der Oberschulen durchgeführt, die gerade die sozialwissenschaftlichen Fächer in Frage stellte, und mit Personalabbau verbunden. Gleichzeitig steigt das Bildungsniveau immer weiter, aber die Arbeitsmarktsituation ist schlecht. Besonders Jobs für Studierende fallen weg und die Selbstmorde haben sich unter Studierenden deutlich erhöht. Isolation und Existenzängste wurden von den Studierenden inzwischen laut artikuliert, verbunden mit der Forderung nach einer Wiederöffnung der Hochschulen.
Zuletzt sei erwähnt, dass sich die Beschäftigten seit Jahren in öffentlich sichtbarer Form gegen die Einsparungen im Gesundheitssystem wehren. Noch im Sommer 2019 hatte es große Proteste gegen die Zustände in den chronisch überlasteten Notaufnahmen gegeben. Dass eine Überlastung der Intensivstationen der Kliniken, von denen viele auch weiterhin wegrationalisiert werden sollen, im Winter 2020/2021 stattfinden würde, war eigentlich eine logische Folge, die sich in den Jahren davor auch gezeigt hatte. So sind in den letzten zwanzig Jahren zehntausende Betten verschwunden, die Anzahl der Intensivbetten beträgt gerade einmal 5.500 auf 67 Millionen Einwohner. Das Narrativ einer Naturkatastrophe geht hier natürlich ins Leere. Mit der Folge, dass sich Pfleger und Ärzte nicht gegen andere Gruppen instrumentalisieren ließen. Es waren Beschäftige der Kliniken, die letztes Frühjahr die ersten, noch verbotenen Demonstrationen durchführten und vor Gericht gezerrt wurden. In Frankreich ist also der Gegner klar. Es ist die Politik des Sozialabbaus, die es zu bekämpfen gilt, und nicht Menschen, die das Krisenmanagement infrage stellen.
Du hast die Proteste in Frankreich angeführt, die lange vor Corona recht stark waren, sowohl in ihrer Dynamik als auch, was die massive Repression angeht. Ich kann mich beim Aufkommen der „Gelbwesten“ noch sehr gut an Reaktionen aus der deutschen Linken erinnern, die oft ziemlich abweisend bis geringschätzig waren. Ähnlich wie jetzt bei den Querdenkern behauptete man, die „Gelbwesten“ seien Egoisten, nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht und seien auch für rechte Lösungen offen. Soweit ich weiß, war das auch in Frankreich zu Beginn recht ähnlich, denn plötzlich geht die „weiße Arbeiterklasse“ auf die Straße und macht der Linken unter anderem die Militanz streitig. Ganz abgesehen von der Ausdauer, die im Gegensatz zu den meist kurzen Revolten doch bemerkenswert ist. Komm, lass uns also dieses Pulver-Fass zum Schluss aufmachen.
Nun, natürlich ist die „Gelbwesten“-Bewegung bei weitem nicht mehr so stark, wie sie es zwischen Herbst 2018 und Sommer 2019 war. Der massive staatliche Druck, denn ich ja schon erwähnt hatte, hat dann doch dazu geführt, dass sich viele der Beteiligten wieder in die Anonymität zurückgezogen haben. Bis heute sind aber immer noch lokale Gruppen aktiv. In den letzten Monaten stieg das Aktivitätslevel wieder leicht an. Denn die Debatte über die weitere Stärkung des Polizeiapparats ging gerade an den besonders von Polizeigewalt betroffenen „Gelbwesten“ nicht vorbei. Dass diese Gruppen außerdem spätestens seit dem Herbst 2020 Macrons Krisenmanagement der Covid-19-Pandemie und seine Beschränkung auf Grundrechtseinschränkungen offen kritisierten, wundert auch nicht. Es wird tatsächlich auch Ende Juni 2021 wieder eine nationale Zusammenkunft der Gruppen geben. In welcher Form, ist noch nicht klar.
Sicherlich lässt sich nicht negieren, dass die „Gelbwesten“ aus einer Abwehrhaltung gegenüber den gegenwärtigen Strukturen des politischen Systems und seinen Entscheidungsträgern agieren. Das daher Fragen wie nationale Souveränität oder EU-Kritik diskutiert werden, ist klar. Auch kritische Stimmen zur Migrationspolitik gibt es. Die „Gelbwesten“ haben aber immer die Thematisierung der sozialen Ungleichheit sowie ihre Verschärfung durch die ungleiche Lastenverteilung durch die Macron-Administration in den Fokus genommen. So fordert man explizit die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Auch die Demokratiefrage brennt den Aktivisten unter den Nägeln.
Dabei steht immer noch die Aufwertung der Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger an der politischen Entscheidungsfindung durch die massive Ausweitung von Volksabstimmungen ganz oben auf der Agenda. Auch die Forderung, Parlamentarier abberufen zu können, existiert. Die repräsentative Demokratie wird zwar nicht in seiner Gänze in Frage gestellt. Allerdings wird die professionelle Politik als eine Ebene wahrgenommen, wo es nur um Macht und Geld geht. Die Korrumpierbarkeit der Volksvertreter wird als derart unvermeidbar angesehen, dass die Gründung einer politischen Partei abgelehnt und als Verrat an den Idealen der Bewegung betrachtet wird. Die Zusammenkünfte der „Gelbwesten“, die im Gegensatz zu den formalisierten Strukturen der Parteien und Gewerkschaften auf ein familiäres, lockeres Miteinander setzten, haben viele Menschen (besonders Frauen) aus der sozialen Vereinzelung geholt und eine neue Form der Identität geschaffen. Die Diskussionen in den Gruppen und die Erfahrungen mit der Staatsmacht haben auf allen Ebenen eine Öffnung hin zur gesellschaftlichen Linken ermöglicht. Die wichtigsten Köpfe, sofern sie noch aktiv sind, zeigen sich im Kontext der verschiedenen Mobilisierungen und grenzen sich auch nach rechts ab, sofern es Vereinnahmungsversuche aus dieser Richtung gibt.
Die Linke wird allerdings als etabliert und eingehegt wahrgenommen. Ereignisse wie am 1. Mai dieses Jahres, als auch „Gelbwesten“ an einem Übergriff auf den Ordnerdienst der CGT-Gewerkschaft, die der Kommunistischen Partei Frankreichs nahesteht, teilnahmen, sind dann die logische Folge. So wurde der CGT vorgeworfen, sie habe versucht, die 1.-Mai-Demonstration im Konsens mit den Polizeikräften durchzuführen, weshalb der Ordnerdienst die militanteren Aktivisten nicht vor Polizeiübergriffen geschützt hätte. Der stille Widerspruch zwischen „Gelbwesten“ und CGT, der seit 2018 sichtbar ist, wird so wieder einmal greifbar. Der programmatisch und organisatorisch klar durchstrukturierten CGT steht eine gewerkschaftsferne und nicht diskursiv klassenkämpferische Arbeitergruppe entgegen, die auf die Durchsetzung konkreter materieller Verbesserungen setzt und sich von allzu theoretischen Debatten eher abgestoßen fühlt. Zudem hat besonders die einst einflussreiche CGT durch die Erosion der Industriegesellschaft an Kampfkraft verloren, weshalb sich CGT-Gewerkschafter und „Gelbwesten“, die in kleinen und mittleren Unternehmen arbeiten, die häufig keine Produktionsbetriebe sind, im realen Leben schlicht nicht begegnen. Es ist deshalb nur logisch, dass die gewerkschaftliche Linke von den „Gelbwesten“ organisationstechnisch wie inhaltlich nicht profitiert.
Meine letzte Frage betrifft die über 100 besetzten Theater und Kultureinrichtungen. Kannst Du sagen, wer die Akteure dabei sind? Bespielen sie die geschlossenen Räume und öffnen sie so zum Beispiel für notwendige Diskussionen und Foren? Eingangs habe ich das wunderbare Lied „danser encore“ erwähnt, das mit vielen in aller Öffentlichkeit aufgeführt wird. Gibt es innere, politische Verbindungen bzw. gibt es Versuche, die verschiedenen Protestbewegungen zusammenzubringen?
„Danser encore“ von H.K. (Kaddour Hadadi) steht tatsächlich im unmittelbaren Zusammenhang mit den Protesten der Kulturschaffenden. Dieses Lied entstand im Herbst als Reaktion auf die andauernde Abwertung der Kultur zu einem angeblich „nicht lebenswichtigen“ Gut. Gerade in Frankreich, wo die Kulturproduktion sonst gerne als Staatsreligion vor sich hergetragen wird, war dies ein großer Affront gegenüber dem Kultursektor. Als schließlich über Monate weiterhin keine beruflichen Perspektiven für die vielen prekären Kulturschaffenden geschaffen wurden, begann von Paris aus, wo am 5. März das Théâtre de l’Odéon nach einer Demonstration gegen die wachsende Prekarisierung in der Kulturbranche besetzt wurde (dieses prestigereiche Haus war schon im Mai ’68 über Wochen besetzt worden), eine Welle von Okkupationen von Theatern, Opern, aber auch Ballett- und Schauspielschulen. Aktuell sind 107 Einrichtungen besetzt. Was vor Ort im Einzelnen passiert, kann man schwer beurteilen. Allerdings gibt es in der Regel öffentliche Versammlungen, die dann neben Reden von Gewerkschaftsvertretern der CGT und der Kollektive, welche die Besetzungen koordinieren, auch Freilichtkonzerte, die mitunter ein großes Ausmaß annehmen, beinhalten. Nicht selten ist H.K. samt seiner Band mit dabei.
Veranstaltungen vor dem Théâtre de l’Odéon sahen sich immer wieder dem Versuch vonseiten der Pariser Polizeipräfektur ausgesetzt, diese zu verbieten, denn Kulturveranstaltungen führten ja zu gesundheitsgefährdenden Zusammenrottungen. Dies bestärkte die Aktivisten aber nur, die tatsächlich versuchen, für alle Prekarisierten und besonders Freiberufler zu sprechen. Die Bewegung, die unter dem Namen „OccupationPartout“ (alles besetzen) möchte gerne eine vernetzende Kraft sein. Allerdings dominieren natürlich die berechtigten Existenzängste der Kulturschaffenden. Immerhin hat die Bewegung erreicht, dass Macron die Spielstätten ab dem 19. Mai wieder öffnen wird und, wie es aktuell aussieht, keine drakonischen Hygienekonzepte umgesetzt werden müssen, denn inzwischen erkennt die französische Staatsführung Kultur wieder als emanzipatorisches Grundbedürfnis an. Die Protestbewegung wird trotzdem erst einmal weitergehen, denn die ökonomische Situation der Kulturschaffenden bleibt unsicher, denn die Reform der Arbeitslosenversicherung, gegen die sich der Protest in erster Linie richtete, soll weiterhin umgesetzt werden. Zudem droht die Absage vieler Kulturveranstaltungen in diesem Sommer in Frankreich, welche für das wirtschaftliche Überleben der Kulturschaffenden existentiell sind. Entweder lassen die Behörden angepasste Konzepte zu oder aber der Staat muss endlich konsequente wirtschaftliche Hilfen für die vielen Freiberufler der Branche bereitstellen, so die Betroffenen. Es wird also ein politisch bewegtes Jahr in Frankreich bleiben.
Titelbild: NeydtStock/shutterstock.com
Quellen und Hinweise:
Wer Interesse daran hat, über die Ereignisse in Frankreich, gerade auch was die ‚Gelbwesten‘ angeht, gut informiert zu werden, dem empfehle ich die Facebook-Seite von Sebastian Chwala.
Außerdem erschien 2015 im PapyRossa Verlag sein Buch: Der Front National, Geschichte, Programm, Politik und Wähler