Nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der Stimmen zum Verfassungskonvent stand am späten Sonntagabend, dem 16. Mai, das unerwartete Ergebnis fest: Die traditionelle sogenannte „politische Klasse“ Chiles – insbesondere die rechte Regierungskoalition um Präsident Sebastián Piñera – erlitt ihre schwerste Wahlniederlage seit Ende der Pinochet-Diktatur im Jahr 1990. Zur Veranschaulichung des Popularitätsverlustes nicht nur der politischen Erben Augusto Pinochets, sondern auch der traditionellen Mitte-Links-Parteien mit ihren einflussreichen neoliberalen Flügeln sei angemerkt, dass nach jüngsten Erhebungen Piñera mit ganzen 9 Prozent Unterstützung regiert und das Parlament mit einer Mitte-Links-Mehrheit sich einer 8-prozentigen Zustimmung im Volk erfreut. Ein Vor-Ort-Bericht von Frederico Füllgraf.
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Als Wahlsieger gehen ein Block sogenannter Independientes (Unabhängige) und eine gemeinsame Wahlliste der Kommunistischen Partei (PCCh) und des linken Frente Amplio (FA), genannt „Apruebo Dignidad“, hervor. Erstere mit 47 und Letztgenannte mit 28 Sitzen, die summiert 75 der insgesamt 155 Sitze in der zukünftigen Verfassunggebenden Versammlung ausmachen. Schließen sich ihnen jedoch die Wahlliste „Apruebo“ der ehemaligen Mitte-Links-Regierungskoalition, genannt Concertación (25 Sitze), und die der Indigenen Völker (17 reservierte Sitze) an, könnten die progressiven Kräfte mit großem Spielraum (117 Sitze) den Verfassungs-Konvent mit seinen 155 Sitzen beeinflussen, wo Präsident Piñeras rechtskonservative Liste „Vamos Chile“ zwar die meisten Listensitze auf sich vereinte, aber an ihrem Ziel der Kontrolle von einem Drittel der Sitze scheiterte. Doch auf dieses Drittel kommt es bei den Arbeitsregeln und Beschlüssen des künftigen Konvents an: Diese erhalten nur mit zwei Drittel der Stimmen ihre Gültigkeit.
Einflussreiche linksliberale Medien Chiles wie El Desconcierto befeuerten die Schadenfreude noch in der Nacht zum ernüchternden Montagmorgen mit der Schlagzeile: „Der lange Übergang ist zu Ende. Die Partei der Ordnung ist tot“. Die ebenfalls linksliberale El Mostrador applaudierte: „Das Alte ist beendet, das Neue sei gegrüßt: Das politische Kartenspiel wird über der Asche von Chile Vamos und der ehemaligen Concertación neu gemischt“.
Nach der offiziellen Bekanntgabe des Wahlergebnisses trat Präsident Piñera, umgeben vom kompletten Regierungskabinett, im Hof des Moneda-Regierungspalastes auf und hielt eine Mischung aus Begräbnisrede und erstaunlichem Zynismus. Lobte er einerseits die erfolgreiche Abhaltung friedlicher Wahlen als „Triumph der Demokratie“, redete er andererseits sich und sein Kabinett mit dem Satz heraus, man „nehme die Warnung der Wähler ernst, deren Belange man bisher nicht wahrgenommen“ habe. Zynisch klang der Satz deshalb, weil er den Eindruck erweckte, die Regierung Piñera habe während der Sozialrevolte vom Oktober 2019 entweder geschlafen oder einen fremden Planeten fern Chiles bewohnt.
In Wahrheit ließ der Multimilliardär im Präsidentenamt die sozialen Massenproteste mit weltweit angeprangerter Polizei-Brutalität niederknüppeln, mit Tränengas ersticken und niederschießen, was ihm eineinhalb Jahre später und wenige Monate vor Ende seines Mandats eine Klage beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen schwerer Menschenrechts-Verletzungen eintrug. Die Ironie der Anzeige ist, dass der Strafantrag vom gleichen spanischen Juristen und Ex-Richter Baltasar Garzón eingereicht wurde, der im Jahr 1990 im Namen von Familien von Folter- und Mordopfern die Auslieferung des in Großbritannien festsitzenden Diktators Augusto Pinochet verlangte, wogegen der damalige Pinochet-Anhänger Sebastián Piñera lauthals protestierte.
Die sogenannte „Megawahl“ vom 15. und 16. Mai beschränkte sich jedoch nicht auf die Stimmabgabe für den Verfassungs-Konvent, sondern schloss Kommunalwahlen und zum ersten Mal in der chilenischen Geschichte die Direktwahl der Provinz-Gouverneure ein, womit Chile den ersten Schritt in Richtung einer zwar schüchternen, aber dezentralisierten Föderation und regionaler Autonomie geht. Doch auch hier erlitt das rechte Bündnis um Sebastián Piñera eine ungeahnte Niederlage: In 4 der 16 Landesregionen (Bundesländer) gewann die Opposition das Gouverneursamt, die übrigen 12 Regionen müssen im Juni zur Stichwahl antreten.
Herausragende Beispiele der oppositionellen Popularität ist die Wahl der Kommunistin Iraci Hassler zur Bürgermeisterin der Hauptstadt Santiago sowie der mit überwältigenden 60 Prozent der Stimmen gewählte Sozial- und Umweltaktivist Rodrigo Mundaca zum Gouverneur der benachbarten, wirtschaftlich einflussreichen Region Valparaíso. Mit dem Titel Mode-Food und Umweltkiller Avocado auf der Anklagebank führten die NachDenkSeiten im Übrigen als erstes internationales Medium im September 2018 ein Interview mit Mundaca über den Avocado-Anbau und -Export und die Privatisierung des Wassers in der Provinz Valparaíso.
Abschied vom „Erbe“ Pinochets
Eine neue, demokratische und sozial gerechte Verfassung war eine der Hauptforderungen der vom Oktober bis Dezember 2019 in Chile entbrannten und trotz Polizeigewalt, Dutzenden Toten und erblindeter Opfer nur von der Corona-Pandemie eingedämmten Sozialrevolte. Dennoch, mitten im Hoch der Corona-Fallzahlen, machte die konservative Regierung Piñera ihr erstes Zugeständnis an die Forderung der Straßen und rief im Oktober 2020 zum Referendum auf, das sich mit nahezu 80 Prozent für eine neue Verfassung aussprach und den vergangenen Monat April als Wahltermin festlegte, der infolge des anhaltenden Corona-Fallzahlen-Hochs auf das letzte Wochenende vertagt wurde.
Das Wahlergebnis überraschte jedoch mit einer weiteren und verblüffenden doppelten Ironie. Zum einen stellte sich heraus, dass die umgerechnet 14 Millionen Euro schweren Spenden von Chiles Milliardären an die Wahlliste der rechten bis faschistoiden Parteien sozusagen für die Katz‘ waren. Zum anderen traten ausgerechnet die spendenarmen Straßen als Wahlsieger in Szene und signalisierten damit, nicht immer regiert das Geld die Welt.
Warum forderten indes die Plakate der Sozialrevolte: „Pinochets Verfassung wird fallen!“? Unter Juristen, Ökonomen, Sozialaktivisten und Teilen der Medien besteht einhellige Zustimmung, dass die trotz mehr als dreißigjährigem „demokratischen Übergangs“ und mehrerer Mitte-Links-Regierungen nach wie vor in Kraft befindliche Verfassung des Diktators Augusto Pinochet von 1988 so etwas wie die 10 Gebote der neoliberalen Wirtschafts- und Staatsdoktrin darstellt. Dass sie vor allem unter tatkräftigem Einfluss der Chicagoer Wirtschaftsschule unter Prof. Milton Friedman in Chile als „Labor“ erprobt und ab den 1980er Jahren in die weltweite kapitalistische Planungs- und Umsatzmaschine umgesetzt wurde.
Eine von Pinochets Lieblingsphrasen war die vom sogenannten „subsidiären Staat“ – gemeint als „behelfsmäßige“ oder „dienende“ Institution – der als Primat in seine Verfassung Eingang fand und zahlreiche Gesetze beeinflusste. Demnach gründet sich dieses Staatsgebilde auf dem Prinzip, der Staat dürfe nur in jene Aktivitäten eingreifen, die der Privatsektor oder der Markt nicht ausführen können. Dieser Staat solle keinerlei sozialen Schutz von Grundrechten auf Beschäftigung, Ernährung und öffentliche Dienstleistungen bieten. Es stehe ihm auch nicht zu, sich für die Schaffung und Einhaltung von Arbeitsgesetzen zum Schutz der Arbeitnehmer in Bezug auf Vergütung, Arbeitszeit, Streikrecht, Ruhestand usw. einzusetzen.
Diese Doktrin hatte in Chile weitreichende und dramatische Folgen und befeuerte auch die Privatisierung sämtlicher sozialen, gesundheits- und bildungsrelevanten Einrichtungen sowie das bis Ende der Regierung Salvador Allende (1970-1973) in Kraft befindliche öffentliche Rentensystem.
Als illustrer Vertreter dieser Doktrin verweigerte Sebastián Piñera zwei Drittel der Chileninnen und Chilenen seit Ausbruch der Corona-Pandemie und darauffolgender harter, erratischer Lockdowns eine entsprechende finanzielle Nothilfe. Und zwar mit derart vernichtender, sozialfeindlicher Haltung, dass sich die Bevölkerung, um zu überleben, nur dank Intervention von Parlament und Gerichten die Auszahlung ihrer eigenen Rentenersparnisse von den privaten Rentenfonds erzwingen musste.
Die Independientes: Ist das Wahlpotenzial der Straßenrevolte die Geburtsstunde von Chiles Podemos?
Die „Unabhängigen“ sind die Aufständischen gegen die neoliberale Misere und ein landesweites Bündnis von 83 regionalen Wahllisten sozialer und Umwelt-Bewegungen, Bürgerinitiativen, Vertretern vieler Berufe – darunter Universitäts-Professoren, Lehrer, Anwälte, Ärzte, Krankenpfleger, Industrie- und Landarbeiter – und Studenten. Die Unabhängigen dürfen als „Aufständische gegen das gesammelte Establishment“, jedoch nicht aus der rechtsradikalen, „populistischen“ Ecke, sondern aus einem genuin basisdemokratischen, linken Spektrum, bezeichnet werden, das sich zum Teil auch aus Abspaltungen und Enttäuschten über die traditionelle Linke rekrutiert. Sie verkörpern die seit Jahren schwelende Ablehnung nicht nur der traditionellen Rechten, sondern in zunehmendem Maße auch des Vorgehens der Mitte-Links-Koalition (Sozialisten, Christdemokraten und der Radikalen Partei) in der Exekutive sowie im chilenischen Parlament.
„Wir sind diejenigen, die gesehen haben, wie unsere Landsleute verstümmelt und getötet wurden. Wir sind diejenigen, die nach Gerechtigkeit hungern und nach Freiheit dürsten. Wir sind diejenigen, die ein würdiges Leben wollen, das mit Liebe aufgebaut ist, um nicht mehr nur zu überleben, sondern um leben zu können. Wir sind der Überzeugung, dass das Volk bei der Ausarbeitung unserer neuen Verfassung und bei der Schaffung des neuen Chile einen grundlegenden Platz einnehmen muss.“
So definiert sich zum Beispiel die parteipolitisch unabhängige Wahlliste La Lista del Pueblo, ins Deutsche übersetzt „die Liste des Volkes“. Im Gegensatz zu sämtlichen politischen Parteien und angetrieben von einer Geschichte, die auf dem Protest-Standort Plaza Italia in Santiago – die von der Protestbewegung in „Plaza Dignidad“ („Platz der Würde“) umgetauft wurde – ihren Anfang hatte, gehörten die „Independientes“ nicht zu den Wahlprojektionen von Analysten oder den Medien, kommentierte die Medienplattform Pauta Chile und zog naheliegende Vergleiche mit den Protesten in Spanien zu Beginn des Millenniums und der daraus entstandenen Partei Podemos.
Die „Liste des Volkes“ kam mit einer Reihe von Koalitionsabsprachen zwischen Links-Unabhängigen in zahlreichen Landesbezirken zustande. Es handelte sich dabei nicht, wie bei Pakten der traditionellen Parteien üblich, um eine landesweite Einheitsliste, sondern um die Ausnutzung gesetzlicher Vorschriften, die nur Koalitionen unter nicht parteigebundenen Initiativen zulässt. Und das Ergebnis war erstaunlich, denn insgesamt erhielt die Volksliste über 884.000 Stimmen; 40.000 Stimmen mehr als die der ehemaligen Mitte-Links-Regierungskoalition Concertación.
„Diese Bewegung wurde in einem Land und in einer Welt geboren, die starke institutionelle, demokratische und Wertekrisen durchmachen“, erklären ihre Gründer. „In dieser Perspektive ist die neue Verfassung der Ausgangspunkt für einen neuen Sozialpakt, der es uns ermöglicht, mit Einheit in die Zukunft voranzukommen. Wir brauchen eine integrative Republik, die die Diskriminierung der Geschlechter, der Zuwanderung und der Armut auf dem Weg der positiven Integration löst.
Wir werden eine neue Verfassung fördern, die die Nachteile des gegenwärtigen Vertretungssystems … (Anm. FF: des zentralistischen Präsidialsystems) behebt und dem Parlament größere Befugnisse einräumt. Wir treten ein für ein Einkammer-System, ein halbpräsidentielles oder ähnliches Regierungssystem mit wirksamer Regionalisierung und Mechanismen für eine stärkere Beteiligung der Bürger und der Zivilgesellschaft an Entscheidungsprozessen, wobei die repräsentative Demokratie mit Mitteln der direkten Demokratie kombiniert werden soll.
Es ist notwendig, die innen- und außenpolitische Unabhängigkeit der Justiz zu gewährleisten und eine gründliche Überprüfung der Mechanismen durchzuführen, mit denen die Einhaltung der Verfassung sichergestellt werden soll. Dies impliziert ein neues Verständnis zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit. …
Ebenso ist eine Republik notwendig, die die Mängel des gegenwärtigen zentralisierten und diskriminierenden Einheitsstaates durch Mechanismen überwindet, die Regionen und indigene Völker einbeziehen. Diese Aufgabe beginnt mit der Einsicht, dass wir ein rassistisches und klassenbezogenes Land sind – ein soziales Merkmal, das bekämpft und überwunden werden muss“.
Titelbild: Diana Lotero Prada/shutterstock.com