Am Sonntag forderten Mitglieder im UN-Sicherheitsrat ein sofortiges, einheitliches Handeln, um die neuen Kämpfe zwischen Israel und den Palästinensern zu beenden. Es war das dritte Mal in nur wenigen Tagen, dass der Sicherheitsrat gemeinsam die israelische Regierung und die palästinensische Hamas zu einem sofortigen Waffenstillstand und zur Aufnahme von Verhandlungen auffordern wollte. Am Ende der mehr als dreistündigen Aussprache per Videolink waren 14 der 15 Staaten im UN-Sicherheitsrat bereit, für die von China, Norwegen und Tunesien vorgelegte Erklärung zu stimmen. Die USA verweigerte ihre Zustimmung – zum dritten Mal. Von Karin Leukefeld.
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Die Debatte – an der zahlreiche Außenminister teilnahmen – war live über den UN-Fernsehkanal übertragen worden. China, das im Mai den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat hat, war durch Außenminister Wang Yi vertreten. Für Russland sprach der stellvertretende Außenminister Sergej Vershinin. Die palästinensische Autonomiebehörde, Jordanien, Ägypten, Tunesien hatten ihre Außenminister geschickt. Aus Europa waren Norwegen und Irland mit Außenministern vertreten.
China kritisierte die USA, bereits zwei Mal eine gemeinsame Erklärung des Sicherheitsrates gegen den Krieg Israel gegen Gaza blockiert zu haben. „Der Sicherheitsrat trägt die erste Verantwortung für die Wahrung von Frieden und Sicherheit in der Welt“, hieß es in der chinesischen Erklärung:
„Bedauerlicherweise konnte der Sicherheitsrat bisher nicht mit einer Stimme sprechen, weil ein Land das verhindert.“
UN-Generalsekretär Antonio Guterres warnte, die Kampfhandlungen könnten in einen unkontrollierbaren Krieg eskalieren. Der norwegische Diplomat Tor Wennesland, UN-Sonderkoordinator für den Nahost-Friedensprozess, schilderte die schwierige Lage. Zu Beginn der Debatte aber standen die Ausführungen der palästinensischen Autonomiebehörde und Israels.
Die Palästinenser sprechen
Der palästinensische Außenminister Riyad al-Maliki sagte, ihm fehlten die Worte, den Horror zu beschreiben, den Kinder und Familien im Gazastreifen aktuell erleben müssten. 15 Mitglieder einer Familie seien bei einem israelischen Angriff auf einen Schlag ausgelöscht worden, das jüngste Kind sei ein Jahr alt gewesen. „Stellen Sie sich vor, wenn die Welt um sie herum zerbricht und Sie Ihre Kinder nicht schützen können“, wandte er sich an die UN-Botschafter und Außenminister. Israel betreibe Kolonialpolitik und begehe Verbrechen gegen die Menschlichkeit und „Israel weiß, was es tut“.
Die Frage für die Palästinenser sei, warum Israel das Recht auf Selbstverteidigung habe, während die Palästinenser, wenn sie sich verteidigten, Terroristen genannt würden. Und was werde die internationale Gemeinschaft, der UN-Sicherheitsrat tun, um die Palästinenser zu schützen? „Werden gegen Israel Sanktionen verhängt? Wird es eine militärische Intervention geben? Werden die Beziehungen auf Eis gelegt und ein Waffenembargo gegen Israel verhängt?“ Israel appelliere an die Welt, sich in seine Lage zu versetzen und sage, „put yourself in our shoes“ (Übersetzung: Tragen Sie unsere Schuhe). Doch Israel trage keine Schuhe, Israel sei eine Kolonialmacht und trage Stiefel: „Israel ist ein bewaffneter Dieb, der in unsere Häuser eindringt, uns bestiehlt und das damit begründet, dass es sich sichern müsse“, so al-Maliki. „Für uns gilt diese Sicherheit nicht? Warum versetzen Sie sich nicht einmal in unsere Lage?“ Für die Palästinenser gebe es keinen sicheren Ort, sie seien entrechtet und enteignet und vertrieben in alle Welt. Alle Staaten, die Kolonialismus und Apartheid erlebt hätten, würden die Palästinenser unterstützen. „Jerusalem ist nicht zu verkaufen, unsere Wurzeln sind tief, unsere Geschichte ist alt, unser Erbe ist in jedem Stein dieser Stadt“, sagte al-Maliki. „Krieg und Frieden gehen von Jerusalem aus, von Sheikh Jarrah. Am 73. Jahrestag der Nakba versucht Israel, uns noch immer zu vertreiben.“
Israel spricht
Der israelische UN-Botschafter Gilad Erdan hielt das Bild eines 16-jährigen Mädchens in die Kamera, das bei einem Raketenangriff der Hamas zu Hause mit ihrem Vater getötet worden war. „Sie war eine arabische Bürgerin von Israel, studierte Biologie und Chemie und träumte von einer besseren Welt“, so der Botschafter. Die Ideologie der Hamas sei vergleichbar mit der des „Islamischen Staates im Irak und in der Levante“, ISIS. Es sei ihr „verruchter Plan“, Israel zu zerstören, die Macht in der Westbank zu übernehmen und die Administration von (Mahmud) Abbas zu vernichten. Der Angriff der Hamas habe nichts mit der Lage in Israel oder Jerusalem zu tun, sondern sei ein innerpalästinensisches politisches Manöver.
Angesichts der Raketen auf Jerusalem, „unsere Hauptstadt“, habe man keine Wahl gehabt, als die „Terrormaschine“ der Hamas „ein für alle Male“ zu stoppen. Israel müsse seine Bürger verteidigen. Die Hamas habe ihre Waffen überall zwischen der Zivilbevölkerung versteckt. In dem Hochhaus, in dem internationale Medien ihre Büros gehabt hätten, seien Geheimdienstzentralen der Hamas gewesen, das Tunnelsystem der Hamas gehe kreuz und quer durch die Stadt, verlaufe unter Wohnhäusern und Spielplätzen. Die Hamas müsse zur Rechenschaft gezogen werden und Israel werde das tun. Man danke den Staaten, die wie die USA und andere Israels „Recht auf Selbstverteidigung“ anerkannt hätten.
Der Sicherheitsrat habe zwei Möglichkeiten, schloss der israelische UN-Botschafter seine Erklärung. Es könne „eine falsche, unmoralische Gleichwertigkeit herstellen zwischen dem Handeln einer Demokratie, die das Leben schützt, und einer Terrororganisation, die den Tod glorifiziert“, indem er alle Seiten zur Zurückhaltung auffordere. Sollte der Sicherheitsrat sich so entscheiden, habe er versagt. Dann werde die Hamas mit ihrer „heimtückischen Strategie“ durchkommen, das werde die Hamas stärken, die palästinensische Administration schwächen und die Chancen für Dialog unterlaufen. Der Kreislauf der Gewalt werde angeheizt und die Chancen für Frieden geschwächt.
Aber der Sicherheitsrat habe auch die Möglichkeit, die Hamas und deren Angriffe einstimmig zu verurteilen. Der Sicherheitsrat könne „die heldenhaften Anstrengungen Israels“ unterstützen, sich zu verteidigen und die „terroristische Infrastruktur der Hamas zu zerstören“. Dann könne die Hamas nicht länger palästinensische Kinder zu menschlichen Schutzschilden machen und seine „Terrormaschine“ in Hochhäusern, Krankenhäusern, Schulen verstecken. „Sie können Israel unterstützen, indem Sie die Entmilitarisierung des Gazastreifens fordern“, schlug Erdan vor. Dann könne man für eine Regierung in Gaza sorgen, die „in das Wohl der Bevölkerung investiert und nicht in die Zerstörung des israelischen Staates.“
Israel habe bereits seine Wahl getroffen, schloss der Botschafter seine Ausführungen: „Wir werden alle notwendigen Schritte unternehmen, um unser Volk zu verteidigen. Jetzt sind Sie an der Reihe. Die Welt sieht zu.“
Einigkeit im UN-Sicherheitsrat mit einer Ausnahme
Alle Redner und Rednerinnen machten die Dringlichkeit eines sofortigen Waffenstillstands deutlich. Die Verantwortung Israels als Besatzungsmacht wurde betont, es trage Verantwortung für den Status Quo von Jerusalem und die Heiligen Stätten. Der fortgesetzte Siedlungsbau, Zwangsräumungen wie in Scheich Jarrah und Silvan oder etwa die Vertreibung der Palästinenser und die Zerstörung ihrer Häuser seien inakzeptabel. Die Gewalt gegen Zivilisten, Frauen und Kinder und zivile Infrastruktur im Gazastreifen sei inakzeptabel, Israel müsse die Grenzen öffnen, damit humanitäre Hilfe, Öl und Benzin die Krankenhäuser erreiche und die Strom- und Wasserversorgung gesichert werden könne.
Der aktuelle Konflikt sei Folge des „illegitimen Verhaltens von Israel“, sagte der jordanische Außenminister Ayman Safadi. Frieden in der Region werde es nicht mit Siedlungsbau geben, nicht mit der Beschlagnahmung von Land, nicht mit der Zerstörung von palästinensischen Häusern oder mit der Vertreibung der Palästinenser. “Die Besatzung ist die Quelle des Konflikts“, so Safadi. Jordanien setze sich für die Zwei-Staaten-Lösung ein, die Grenzen von 1967 für den palästinensischen Staat müssten von Israel anerkannt werden. Bis heute gelte das Angebot der arabischen Staaten, das sich „Land für Frieden“ nenne, so Safadi. Israel habe alles getan, um diese Initiative zu untergraben.
Am Ende fasste China zusammen, dass man sich weitgehend einig sei und die Gewalt in Nahost sofort ein Ende haben müsse. China, Norwegen und Tunesien würden eine Erklärung erarbeiten, der hoffentlich alle zustimmen würden. Hinter den Kulissen stimmten 14 Staaten der Erklärung zu, war später aus Diplomatenkreisen zu erfahren. Die USA lehnten ab und stellten sich damit hinter Israel, das seine Entscheidung für die Fortsetzung des Krieges gegen den Gazastreifen schon getroffen hatte.
Kämpfe weiten sich aus
Während der Debatte im UN-Sicherheitsrat schwiegen die Waffen nicht im Nahen Osten. Aus dem Gazastreifen wurden weiter Raketen auf Israel abgeschossen. Israelische Kampfjets, Kriegsschiffe und Artillerie bombardierten weiter. 90 Ziele habe man in den letzten 24 Stunden im Gazastreifen angegriffen, erklärte nicht ohne Stolz ein Sprecher der israelischen Streitkräfte am Sonntag. Eines der Ziele waren am Sonntagmorgen Wohnhäuser in der Al Wahda Straße im Zentrum von Gaza. 27 Personen wurden dort getötet, acht waren Kinder.
Allein an diesem Tag meldeten palästinensische Behörden im Gazastreifen mehr als 40 Tote. Seit Beginn der Kämpfe am 10. Mai seien 209 Tote zu beklagen, so das Gesundheitsministerium in Gaza, darunter 58 Kinder, 34 Frauen und 15 alte Menschen. Mindestens 1235 Personen seien verletzt worden. Angesichts der heftigen Angriffe israelischer Streitkräfte seien die Zahlen schon veraltet, wenn man sie veröffentliche, meinte der Vorsitzende einer christlichen Hilfsorganisation.
Auf israelischer Seite kamen seit Beginn der militärischen Eskalation am 10. Mai 2021 zehn Menschen ums Leben. Unter ihnen eine aus Indien stammende Frau, die als Kindermädchen in Ashkelon gearbeitet hatte. Eine Frau verletzte sich tödlich, als sie versuchte, in einen Bunker zu fliehen. Anders als die Bevölkerung im Gazastreifen verfügt Israel nicht nur über ein Raketenabwehrsystem, das mehr als 90 Prozent der Raketen aus dem Gazastreifen abfangen kann, es gibt auch Sirenen, die die Bevölkerung warnen, und es gibt Schutzbunker.
Neu waren heftige Auseinandersetzungen innerhalb von Israel und in den besetzten palästinensischen Gebieten im Westjordanland. In zahlreichen Städten griffen jüdische Nationalisten arabische Nachbarn an, palästinensische Jugendliche schlugen auf jüdische Siedler ein. Israelische Grenzpolizei griff ein, Dutzende wurden verhaftet.
Am Sonntag lenkte ein Mann sein Auto mit hoher Geschwindigkeit in einen Kontrollpunkt, den israelische Polizei- und Zollkräfte vor Sheik Jarrah, einem Teil von Ostjerusalem, errichtet hatten. Sieben Polizeikräfte wurden verletzt, der Fahrer des Autos, ein Einwohner Jerusalems palästinensischer Herkunft, wurde erschossen.
Am Donnerstag hatte das staatliche israelische Fernsehen gezeigt, wie ein arabischer Mann in Tel Aviv von maskierten Männern in Freizeitkleidung aus seinem Auto gerissen, verprügelt und dann regelrecht gelyncht worden war. Der staatliche Sender Kan übertrug den Mord live. Nicht nur Israel, die ganze Welt konnte zusehen.
Am heutigen Dienstag kommt der Sicherheitsrat erneut zu Beratungen zusammen.
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