Seit Wochen eskaliert in Israel-Palästina die Gewalt. Die Vollstreckung von Räumungsklagen in Ostjerusalem sowie schwere Ausschreitungen in der Al-Aqsa-Moschee mit 300 Verletzten waren der Auslöser. Warnungen und ein Ultimatum der Hamas wurden ausgeschlagen. Es folgten Raketenbeschuss auf Israel und die schwersten Bombardierungen Gazas seit dem letzten großen Krieg 2014. In Israel herrschen vielerorts bürgerkriegsähnliche Zustände. Bislang sind in Gaza 119 Menschen getötet worden, darunter 29 Kinder. In Israel wurden sieben Menschen getötet. Der unter multiplen innenpolitischen Krisen stehende Netanyahu eskalierte vorsätzlich die Gewalt, die uns final an den Rand einer Bodenoffensive in Gaza gebracht hat – und damit an den Rand des nächsten großen Krieges. Von Jakob Reimann
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Im Israel-Palästina-Konflikt ist es stets eine Sache der Unmöglichkeit, in der Erklärung aktueller Ereignisse einen sinnvollen, fairen Anfangspunkt in der Ursache-Wirkungs-Kette auszumachen – biblische Zeitachsen heranzuziehen, finde ich ebenso wenig überzeugend wie die Strategie, pauschal alles immer mit der israelischen Besatzung 1967 oder gar der Staatsgründung 1948 rechtfertigen zu wollen. Einen sinnvollen Startpunkt für die konkrete Gewalteskalation liefert uns ein Blick auf die jüngsten Ereignisse in Sheikh Jarrah – eine überschaubare palästinensische Nachbarschaft im illegal besetzten Ostjerusalem.
Die Gewaltspirale beginnt, sich zu drehen
Seit Montag vergangener Woche kam es in Sheikh Jarrah zu schweren Auseinandersetzungen. Anlass waren Räumungsklagen israelischer Gerichte, nach denen im Mai sechs palästinensische Familien ihre Häuser verlassen müssen, die von Siedlern übernommen werden sollten. Im August sollen sieben weitere Familien per Gerichtsurteil vertrieben werden. Ein Video, das die 22-jährige Muna al-Kurd zeigt und das die ganze Absurdität der Problematik illustriert, ging durch die sozialen Medien und die Weltpresse und lenkte so erst den weltweiten Fokus auf Sheikh Jarrah:
This doesn't describe the Israeli occupier's logic only; it also describes the rudeness of those who support the Israeli colonial policies of expropriating the Palestinian occupied lands. pic.twitter.com/OSB0QejwCT
— Ramy Abdu| رامي عبده (@RamAbdu) May 1, 2021
Übersetzung:
„Jacob, du weißt, dass das nicht dein Haus ist.“
„Ja, aber wenn ich jetzt gehe, kehrst du doch nicht zurück. Wo ist also das Problem? Warum schreist du mich an?“ …
„Du stiehlst mein Haus!“
„Wenn ich es nicht stehle, wird es eben jemand anderes stehlen.“
„Nein, nein. Überhaupt niemandem darf es stehlen!“
Die Räumungsurteile sollten nun von israelischen Sicherheitskräften exekutiert werden. Die Versammlungen dagegen blieben zunächst friedlich, wurden dann jedoch immer häufiger gewalttätig, nachdem Siedler und Polizei gemeinsam begannen, die palästinensischen Einwohner zu vertreiben. Mehrere Palästinenserinnen und Palästinenser wurden verletzt und verhaftet. Wohl dem internationalen Aufschrei über Sheikh Jarrah geschuldet, entschieden israelische Gerichte zunächst, die Räumungen aufzuschieben. Nichtsdestotrotz wurde Muna al-Kurd, die junge Frau aus dem Video, am Mittwoch von bewaffneten Soldaten aus Sheikh Jarrah vertrieben, ebenso ihr Bruder Mohammed.
Die israelische Rechte und ihre Advokaten im Westen berufen sich bei der Eskapade um Sheikh Jarrah darauf, dass einige der Grundstücke vor der Staatsgründung 1948 in jüdischem Besitz waren und erst unter jordanischer Kontrolle – Ostjerusalem und das Westjordanland waren ab 1948 bis zum Sechstagekrieg 1967 von Jordanien besetzt – von im Zuge der israelischen Staatsgründung vertriebenen Palästinensern besiedelt wurden. Sich auf historische Eigentumstitel zu berufen, ist ohne Frage eine legitime Argumentation – nur stellt sich eine zentrale Frage: Wenn wir das Argument für jüdischen Besitz in Sheikh Jarrah akzeptieren, müssen wir es dann nicht auch für historischen palästinensischen Besitz im heutigen Israel akzeptieren? In dem, was der weltbekannte israelische Historiker Ilan Pappe wasserdicht als „ethnische Säuberung Palästinas“ nachgewiesen hat, wurden zur Staatsgründung 1948 rund 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben und ihr Besitz enteignet – gilt der Grundsatz also auch für diese Personen und deren Nachkommen? Die De-facto-Antwort, die wir alle kennen, illustriert die ethnischen Doppelstandards im israelischen Rechtssystem, illustriert: Apartheid.
Doch wir sollten nicht die israelischen Narrative übernehmen und so tun, als ginge es in Sheikh Jarrah um Eigentumstitel und rechtliche Formalitäten, deren Klärung unabhängigen Gerichten unterliegt. Die politische Analystin Nour Odeh erklärt im Gespräch mit Al Jazeera zutreffend: „In Jerusalem geht es nicht um einen Immobilienstreit. Es geht um die koloniale Besatzung. Es gibt den Besatzer – und es gibt die Besetzten.“ Und weiter: „Die israelischen Gerichte sind ein integraler Teil des Regimes der Kolonialbesatzung. Und Bericht um Bericht, Studie um Studie, haben gezeigt, dass sie bloße Instrumente sind, um die Enteignung und die systematische Diskriminierung von Palästinensern zu decken.“
Alles dreht sich um Jerusalem
All die Eskalationen, die folgen sollten – und uns bis Freitagmorgen an den Rand der nächsten großen Invasion führten – waren keine unkontrollierten Ausbrüche im Eifer des Gefechts, sondern bewusste Entscheidungen zum politischen Vorteil der Netanyahu-Regierung, wohlgesetzte kumulative Nadelstiche: „Israel entscheidet sich für die Gewalt“, zeichnet das palästinensisch-israelische +972-Magazin diesen Weg im gleichnamigen Aufsatz exzellent nach. Besonders verwerflich: Netanyahu spielt exzessiv die palästinensische Liebe zu Jerusalem aus.
Schon zu Beginn des Ramadans blockierten israelische Sicherheitskräfte den Zugang zum weltberühmten Damascus Gate am Rande der Jerusalemer Altstadt, einem beliebten Punkt, an dem sich Menschen zum abendlichen Fastenbrechen treffen. Die Gläubigen, die sich doch trafen, wurden angegriffen, verprügelt und mit Blendgranaten und Tränengas beschossen. In der Zwischenzeit eskalierte die Polizeigewalt auch auf dem Tempelberg rund um die Al-Aqsa-Moschee – nach Mekka und Medina die drittheiligste Stätte im Islam. Die Polizei provoziert, versperrt Zugänge, Handgemenge werden zu Ausschreitungen, Steine fliegen, die Polizei setzt brutale Gewalt gegen Gläubige ein. In wenigen Tagen werden an diesem heiligen Ort über 300 Menschen verwundet. Die Polizei dringt ins Innere der Al-Aqsa-Moschee vor, feuert Blendgranaten in Gebetsräume: „Die Symbolik bewaffneter Polizisten, die an einem der heiligsten Orte des Islam, während seines heiligsten Monats über Gebetsteppiche rennen und Betende attackieren, sprang allen ins Auge“, schreibt das +972-Magazin. Diese Symbolik, für alle Welt sichtbar, war keine Affekthandlung, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen. Auch wurden Busse mit Tausenden Muslima und Muslimen, die zum Ramadan ihre Al-Aqsa besuchen wollten, blockiert, was auch vor den Toren Jerusalems neue Gewalt provozierte.
Zum Jerusalem-Tag vom 9. auf den 10. Mai entfachte sich aus ungeklärten Gründen ein Feuer auf dem Tempelberg. Die apokalyptischen Bilder des lichterloh brennenden Baumes im Nachthimmel gehen um die Welt – die Videos dazu feiernder ultranationalistischer Israelis, die zu einem Rocksong der Kahane-Terrororganisation tanzen, sind verstörend. Der Jerusalem-Tag erinnert traditionell an die Eroberung Ost-Jerusalems im Zuge des Sechstagekriegs 1967 von Jordanien, das den historisch so wichtigen Stadtteil vorher zur Staatsgründung Israels 1948 besetzte. Nach 70 n. Chr. stand die weltberühmte Jerusalemer Altstadt, mit Tempelberg und Klagemauer, ab 1967 damit erstmals wieder unter jüdischer Kontrolle. Zum Jerusalem-Tag wird in Umzügen und Feiern dessen gedacht. Dass rechte israelische Nationalisten auch in der von Palästinensern bewohnten muslimisch-arabischen Altstadt Fahnen schwenken, wird als größtmögliche Provokation aufgefasst – schließlich wurde Ostjerusalem als Hauptstadt Palästinas versprochen.
Es ist kompliziert, westlichen Leserinnen und Lesern die Bedeutung der Stadt für die palästinensische Seele adäquat nahezubringen: die Liebe und Leidenschaft, die die Menschen für Jerusalem, für ihre Old City, empfinden. Wer schon einmal eine in der Jerusalemer Altstadt aufgewachsene Person über ihre vor Historie und Kultur nur so triefenden Viertel hat schwärmen hören, weiß vielleicht, was ich meine. Das Arabische ist eine sehr lyrische, blumige Sprache. Die Übertragung dieser das Süßholz einer Stadt raspelnden Liebeslyrik ins Englische wirkt in westlichen Ohren wie nicht von dieser Welt. Die Leute atmen Jerusalem, die Stadt fließt durch ihre Herzen und Adern. Sie begreifen sich als organische, symbiotische Einheit mit Jerusalem, wie es vielleicht an keinem anderen Ort der Welt der Fall ist. „Nächstes Jahr in Jerusalem“ heißt es sprichwörtlich zum Sederabend das Pessach-Fest einläutend auch von Jüdinnen und Juden in aller Welt. Die Sehnsucht und Anziehung, die diese Stadt ausübt, ist für die jüdische Identität ebenso sinnstiftend wie für die palästinensische.
Der historisch blutgetränkte Boden dieser Stadt mit ihrer jahrtausendealten Geschichte aus Blutbädern – Netanyahu missbraucht die für beide Seiten identitätsstiftende Aura ihrer Stadt für seine politischen Zwecke und nimmt dafür das nächste Blutbad in Kauf.
Der Krieg beginnt
Netanyahu ist derzeit geplagt von multiplen internen Krisen: Erstmals steht mit Bibi ein amtierender israelischer Ministerpräsident vor Gericht, im Mai 2020 begann das Verfahren gegen ihn wegen mehrerer Fälle von Korruption und Bestechung, erst Ende April begannen die Zeugenanhörungen. Außerdem war er auch nach der vierten Wahl innerhalb von zwei Jahren nicht imstande, eine halbwegs stabile Regierung zu bilden. Das absurde Links-Mitte-Rechts-Rechtsaußen-Bündnis, das sich zweckverheiratete, um ihn zu stürzen, wird als entscheidende Säule auch von der arabisch-islamistischen Ra`am getragen. Wie zu erwarten war, feiern die rechtsextremen Kräfte dieser skurrilen Koalition die jüngste Gewalt und fordern ein noch brutaleres Durchgreifen des Staates. Ebenfalls erwartbar: Da die islamistische Ra`am ihren Anhängern nur schwerstens vermitteln kann, mit Rechtsextremen zu koalieren, die es lieben, wenn Polizisten in der Al-Aqsa auf Muslime schießen, legte die Partei am Montag die Koalitionsverhandlungen auf Eis. Netanyahu – der sich liebend gern als „Mr. Security“ darstellt – weiß genau, dass den breiten rechten, jedoch heterogenen Block nichts besser hinter ihm vereinen kann als eine Gewalteskalation. Bibis Plan scheint vorerst aufzugehen. Doch das, was folgen sollte, hatte auch Netanyahu – entgegen aller kursierenden Verschwörungstheorien – nicht vorhersehen können.
Bereits in der Mitte der Sheikh-Jarrah-Krise warnte der höchste Hamas-Militär Mohammed Deif, Israel werde „einen hohen Preis zahlen, wenn die Aggression gegen unser Volk im Viertel Sheikh Jarrah nicht sofort beendet wird“. Und Tage darauf stellte die Hamas-Führung ein Ultimatum, das den Rückzug der israelischen Polizei vom Tempelberg und aus Sheikh Jarrah forderte – sonst würde „gehandelt“. Erwartbar ignorierte Netanyahu Drohung und Ultimatum, schließlich hatte niemand mit einer mehr als nur symbolhaften Vergeltung seitens der Hamas gerechnet. Doch Minuten nach Verstreichen des Ultimatums begannen Hamas und Islamischer Dschihad mit massivem Raketenbeschuss auf Israel, auf den ebenso massive Luftschläge der israelischen Armee folgten.
Beides hält seit nunmehr fünf Tagen an und wuchs sich zur blutigsten Gewaltepisode seit dem Gaza-Krieg von 2014 aus. Laut israelischem Militär wurden seit Montag rund 1.750 Raketen aus Gaza Richtung Israel abgefeuert. Die meisten landeten in unbewohnten Arealen in Israel, 300 in Gaza selbst. Die, die bewohntes Terrain getroffen hätten, wurden zu 90 Prozent vom Raketenabwehrschirm Iron Dome vom Himmel geholt. Doch viele trafen Städte wie Ashkelon und Sderot. 15 gingen in der Stadt Dimona nieder – dem Ort, an dem sich Israels Atomreaktor befindet und seine Atombomben lagern. Viele weitere Raketen trafen die Metropolen Tel Aviv und gar die Heilige Stadt Jerusalem – zu deren Verteidigung jene Raketen doch vermeintlich dienen sollten. Ungeachtet jeder politischen Bewertung sind all diese Raketen aufs Schärfste zu verurteilen. Auch der militante Flügel des palästinensischen Widerstands badet sich gerne in einer Aura moralischer Überlegenheit. Doch wer wahllos Raketen auf Zivilisten abfeuert, begeht schwere Kriegsverbrechen und hat jede Moral lange verloren.
Die zu erwartende Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Die israelische Luftwaffe begann mit schweren Bombardements des Gazastreifens. Netanyahu gibt an, dass knapp 1.000 Ziele in Gaza bombardiert wurden. Darunter mehrere Hochhäuser und eine Vielzahl ziviler Einrichtungen. Mehrere hochrangige Hamas-Funktionäre wurden getötet, was die Gruppe bestätigte. Seit Montag wurden in Gaza nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums mindestens 119 Menschen getötet, darunter 29 Kinder. Allein am Donnerstag stieg die Zahl der Toten um 52. Mehr als 400 weitere Menschen wurden verletzt. In Israel wurden laut Behörden sieben Personen getötet: ein Soldat, sechs Zivile, darunter zwei Kinder. Mehr als 200 weitere Personen wurden verletzt. Seit der Nacht zu Freitag bombardieren nun auch Panzer und Artillerie den Gazastreifen.
Bürgerkriegsähnliche Gewalt
In Folge der Kämpfe auf dem Al-Aqsa-Gelände und der fortwährenden Bombardierung Gazas kam es vielerorts in Israel zu Solidaritätskundgebungen der palästinensischen Bevölkerung – teils blieben diese friedlich, teils eskalierten sie in einer Gewalt, wie wir sie seit vielen Jahren nicht erlebt haben. Israelische Polizei griff oft mit massiver Brutalität ein, um die Menschen auseinanderzutreiben. Eine Quelle aus Haifa schickte den NachDenkSeiten mehrere selbstgefilmte Videos, auf denen der Einsatz von berittener Polizei und Blendgranaten zu sehen war, um die auf den Videos friedlichen Demonstranten zu zerstreuen. Auch berichtet die Quelle, dass sogenanntes „skunk water“ auf die Menschen abgefeuert wurde – mit Chemikalien angereichertes Abwasser – was auch aus vielen anderen Städten berichtet wurde. Arabische Randalierer zündeten in einem von Ultra-Orthodoxen bewohnten Viertel Haifas Autos in einer Tiefgarage an, woraufhin 60 Menschen wegen Rauchvergiftungen behandelt werden mussten.
In mehreren anderen Städten in Israel kam es seit Montag zu heftigen Gewaltausbrüchen, insbesondere in Gemeinden mit gemischt jüdisch-arabischer Bevölkerung, mehrere Fälle versuchter Lynchmorde auf beiden Seiten wurden berichtet. Exemplarisch sollen an dieser Stelle die besonders blutigen Ereignisse in Lod geschildert werden, einer mittleren Großstadt südöstlich von Tel Aviv, in der bürgerkriegsähnliche Gewalt wütet. Palästinensische Israelis setzten hier unzählige Autos und jüdische Geschäfte in Brand und griffen Sicherheitskräfte an. Schwerbewaffnete israelische Ultranationalisten schossen willkürlich auf eine Gruppe palästinensischer Demonstranten und töteten dabei einen Mann, woraufhin mehrere der Angreifer festgenommen wurden. Netanyahus Minister für Öffentliche Sicherheit, Amir Ohana, nannte die Festnahme der mutmaßlichen Täter eine „schreckliche Sache“ und forderte deren Freilassung. Nach der Beerdigung des getöteten Demonstranten setzten Palästinenser – besonders abscheulich – eine Synagoge in Brand. Protestmärsche beider Seiten eskalierten immer wieder, so dass die Behörden schließlich den Ausnahmezustand über Lod verhängten – das erste Mal seit 1966, dass über palästinensische Communities in Israel Notstandsermächtigungen verhängt wurden.
Yair Revivo, der Bürgermeister von Lod, spricht über die Ereignisse der letzten Tage als „Kristallnacht“ und Israels Präsident Reuven Rivlin von „Pogromen […] eines blutrünstigen arabischen Mobs“. Die Gewalt beider Seiten reißt nicht ab. Am Donnerstagmorgen wurde ein Mann von „einer Gruppe Arabern, die ‚Allahu akbar‘ schrien“, mit Steinen angegriffen, verprügelt und niedergestochen, wie seine Frau erzählt. Der Mann liegt schwerverletzt im Krankenhaus. Am Mittwochabend griffen bewaffnete jüdische Nationalisten eine Moschee an und warfen mehrere Scheiben ein. Lod illustriert schmerzlich, wie politische Konflikte in sinnlose religiös aufgeladene Gewalt umschlagen und wie schnell Nachbarn zu Mördern werden können.
Beim Anblick der brennenden Synagoge in Lod lief es mir als Antifaschisten, der sein Leben lang gegen Antisemitismus gekämpft hat, kalt den Rücken herunter. Ebenso unerträglich waren darauffolgende Ereignisse in Europa. Am Dienstag wurde die Synagoge in Bonn mit Steinen angegriffen und davor eine Israel-Flagge verbrannt. Die syrischen Festgenommenen gestanden die Tat; die aktuellen Ereignisse in Israel hätten sie dazu animiert. In Münster grölte eine Gruppe vor der Moschee Parolen und verbrannte ebenfalls eine Israel-Flagge. Eine Synagoge im spanischen Ceuta wurde mit „Free Palestine“ und einem Akronym für „Allahu akbar“ beschmiert.
Alle Kräfte, denen ein Frieden in Nahost am Herzen liegt, müssen eines unmissverständlich klarmachen: Wer unter vermeintlicher Palästina-Solidarität nur seinem schändlichen Antisemitismus freien Lauf lassen will, soll sich zum Teufel scheren. Mit Judenhassern werden wir niemals für die gemeinsame Sache kämpfen.
Auf alles schießen, was sich bewegt
In der deutschen Öffentlichkeit erleben wir im Israel-Palästina-Kontext jedes Mal das groteske Phänomen, dass wie bei einem Fußballspiel Mannschaften ausgewählt und diese dann bis aufs Blut verteidigt werden. Der Pro-Palästina-Block ist unfähig, die Panik der vor Hamas-Raketen in Bunker fliehenden Menschen auch nur anzuerkennen, und für den Pro-Israel-Block ist jede getötete Zivilistin in Gaza ohnehin nur das Hirngespinst von Hamas-Propaganda. Wir instrumentalisieren diese oder jene Toten für unsere eigenen Absichten, Ideologien und Narrative. Politische Bewertungen einmal außer Acht gelassen: Wir scheinen zunehmend unfähig zu echter Anteilnahme und Menschlichkeit.
Mein Freund und Kollege Jules El-Khatib schrieb dazu auf Twitter: „Menschen in Gaza haben Angst, Menschen in Tel Aviv haben Angst. Wir sollten verstehen, dass die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten leidet. Wer in Deutschland sitzt und nur die Toten einer Seite betrauert, dem geht es nicht um Frieden, nicht um die Lösung des Konfliktes.“
Das Gesagte ist ein bedingungsloses Plädoyer für Empathie, Humanismus und Mitgefühl für die Ängste der einfachen Menschen. Es darf natürlich nicht als politische Neutralität missverstanden, nicht als jenes Narrativ ausgelegt werden, nach dem „beide Seiten“ im gleichen Maße schuld am Konflikt seien. Denn im Israel-Palästina-Konflikt haben wir es mit einer exorbitanten Machtasymmetrie zu tun, bei der der Neutrale – frei nach Desmond Tutu – eben nicht neutral ist, sondern sich auf die Seite des Unterdrückers schlägt. Auf der einen Seite haben wir die mächtigste Militärmacht der gesamten Region, die einzige auch, die über Atomwaffen verfügt, und auf der anderen Seite schlecht ausgerüstete Terroristen mit oft selbst zusammengebauten Raketen. Wir haben eine Regierung, die über Millionen Menschen ein Apartheidsystem verhängt hat – wie es zuletzt Human Rights Watch verurteilte – und jeden Aspekt ihres Lebens dominiert: zwei Millionen im Freiluftgefängnis Gaza und drei weitere Millionen unter einer brutalen Militärbesatzung im Westjordanland. Wie lange, denkt sich die israelische Regierung, bis das Kartenhaus zusammenstürzt? Wie lange kann Apartheid aufrechterhalten bleiben, bis das Pulverfass vollends in die Luft fliegt?
Mehrere internationale Medien berichteten am Donnerstag, das israelische Militär arbeite an Plänen für eine Bodenoffensive in Gaza. „Zusätzliche Truppen, darunter Infanterie und Panzerbrigaden, wurden in Gebiete an der Grenze zum Gazastreifen verlegt […]‚ um sich für eine Bodenoperation in Stellung zu bringen‘“, zitiert der britische Independent zwei Sprecher des israelischen Militärs. Verteidigungsminister Benny Gantz mobilisierte 9.000 weitere Reservisten für einen möglichen Krieg in Gaza. Mittwochabend erklärte Netanyahu, er habe offiziell ein von Russland mediiertes Waffenstillstandsangebot der Hamas abgelehnt. Die Hamas war bereit, den Raketenbeschuss einzustellen, wenn Israel gleichzeitig die Luftschläge beende. Doch die Zeiger stehen auf Krieg. In der Nacht zum Freitag wurde weiteres Militär in Richtung Gaza verschoben, Luftschläge wurden verstärkt, auch Bodentruppen und Panzer schießen nun erstmals über die Grenze hinweg, Anwohner im Norden und Osten – der gesamte Gazastreifen hat kaum die Größe Bremens – berichten von „schwerem Artilleriefeuer“. Eine Bodeninvasion, so scheint es, steht kurz bevor. Verteidigungsminister Gantz prahlte in einem Pressestatement, „Gaza versucht noch immer, sich zu erholen“, vom Krieg 2014, als er noch höchster Militär im Land war, doch „heute bin ich Verteidigungsminister und wenn die Hamas-Gewalt nicht aufhört, wird der Schlag von 2021 noch viel härter und schmerzhafter sein als der von 2014.“ – „Gaza wird brennen“.
Beim Krieg 2014, den Gantz anspricht, wurden laut einem Bericht des UN-Menschenrechtsrats 2.251 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet, darunter 551 Kinder. Bei einer Bodenoffensive in Gaza gibt die israelische Militärführung die oberste Prämisse aus, auf alles zu schießen, was sich bewegt, wie eine Vielzahl ehemaliger Soldatinnen und Soldaten gegenüber der israelischen Friedensorganisation Breaking the Silence offenbart. Ein Ex-Soldat erzählte mir in einer Bar in Tel Aviv, er habe 2014 in Gaza 19 Menschen erschossen. Bei keinem einzigen (!) war er sich sicher, ob es ein Zivilist oder ein Kämpfer war.
Titelbild: Abed Rahim Khatib/shutterstock.com