In diesem Jahr hat die Parade eine besondere Bedeutung. Denn am 22. Juni 1941, also vor 80 Jahren, begann der Überfall von Hitler-Deutschland auf die Sowjetunion. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erklärte bereits, dass es am 22. Juni 2021 in Berlin keine Gedenkveranstaltung geben wird. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.
Russland gedachte am 9. Mai mit einer Militärparade des 76. Jahrestages des Sieges über Hitler-Deutschland. Im letzten Jahr konnte die traditionelle Siegesparade wegen der Corona-Krise nicht am 9. Mai stattfinden. Sie wurde am 24. Juni 2020 nachgeholt, dem Tag, an dem 1945 die erste Siegesparade nach dem Krieg stattfand (mehr zur Geschichte des Feiertages am 9. Mai hier).
Eine halboffizielle Parade für das Volk
Wer die russische Militärtechnik am 9. Mai auf Moskaus Straßen sehen wollte, konnte den Fernseher einschalten. Alles wurde mit aufwändiger Kamera-Technik übertragen. Doch viele Moskauer und Gäste der Stadt wollen das am 9. Mai mit eigenen Augen sehen. Das war in diesem Jahr äußerst schwierig, weil die Stadtverwaltung viele Straßen und U-Bahnhöfe rund um den Roten Platz abgesperrt hatte. Gab es wohlmöglich Befürchtungen vor Aktionen von Oppositionellen?
Schnell sprach sich herum, dass man die Panzer sehen kann, wenn sie vom Roten Platz über den Neuen Arbat zu ihren Standorten zurückfahren. Und so setzte sich durch die Stadt eine kleine Völkerwanderung mit dem Ziel Neuer Arbat in Bewegung. Dort war die Stimmung dann erwartungsvoll und froh.
Das kurze Aufeinandertreffen von Streitkräften und Bürgern war so etwas wie eine halboffizielle Parade für die einfachen Leute, die es nicht auf die Tribünen am Roten Platz geschafft hatten. Die Soldaten standen in ihren gepanzerten Fahrzeugen stramm, den Blick nach vorne gerichtet. Doch immer erwiderten sie lächelnd das Winken der Zuschauer oder hupten.
Für mich als gebürtigen Westdeutschen war, als ich Anfang der 1990er Jahre nach Russland kam, das innige Verhältnis der Russen zu ihren Streitkräften zunächst nicht nachvollziehbar. Zu sehr war ich in meiner westdeutschen Skepsis gegenüber Militär gefangen. Es brauchte eine Zeit, bis ich verstand, dass die einfachen Russen ihre Soldaten aus historischer Erfahrung achten und sogar lieben. Immer wieder ist unter einfachen Russen die Rede davon, dass die Armee dafür sorgt, „dass der Himmel über uns friedlich ist“. Es fällt schwer, etwa angesichts der Erfahrungen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, dagegen zu argumentieren.
In Decken und Regenmäntel eingehüllte Veteranen
Um 10 Uhr morgens begann die traditionelle Veranstaltung auf dem Roten Platz. In seiner Rede dankte der russische Präsident den Kriegsveteranen:
„Wir verbeugen uns vor ihrem Mut und starkem Willen, wir danken für das unsterbliche Beispiel von Geschlossenheit und Liebe zur Heimat.“
Den Sieg 1945 habe das „sowjetische Volk“ errungen. „Menschen aller Nationalitäten und Glaubensrichtungen kämpften um jeden Fußbreit heimischer Erde.“ Dann kam Putin auf den 22. Juni 1941 zu sprechen:
„Der Feind griff unser Land an, kam auf unseren Boden, um zu morden, um Tod und Schmerz zu verbreiten, Schrecken und unermessliches Leiden. Er wollte nicht nur die politische Ordnung stürzen, das sowjetische System, sondern uns auch als Staat vernichten, als Nation und unsere Völker von dieser Erde ausradieren.“
Putin warnt vor Überlegenheitsgefühlen, Antisemitismus und Russophobie
Der russische Präsident zog in seiner Rede Parallelen zwischen den Entwicklungen in Deutschland in den 1930er Jahren und den Entwicklungen in der Ukraine und den baltischen Staaten heute. Fast ein Jahrhundert trenne die Menschheit von den Ereignissen, „als im Zentrum von Europa ein ungeheuerliches Nazi-Tier frech wurde und räuberische Stärke gewann. Immer zynischer hörte man die Losungen der rassischen und nationalen Überlegenheit, des Antisemitismus und der Russophobie“.
Mit Leichtigkeit seien damals Vereinbarungen gebrochen worden, „die dazu dienten, ein Abgleiten in einen Weltkrieg zu stoppen.“ Heute drohe in Europa abermals eine faschistische Gefahr:
„Viel von der Ideologie der Nazis, die von der wahnwitzigen Vorstellung ihrer Exklusivität besessen waren, versucht man erneut zu nutzen. (…) Heute sehen wir einen Rummel von nicht völlig vernichteten Strafkommandos und ihrer Nachfolger. Es gibt den Versuch, die Geschichte umzuschreiben, die Verräter und Verbrecher freizusprechen, an dessen Händen das Blut Hunderttausender friedlicher Menschen klebt.“
Mit diesen Sätzen spielte der russische Präsident auf die staatlich angeordnete Huldigung von Hitler-Kollaborateuren wie Stepan Bandera und die faschistischen Aufmärsche in der Ukraine an: Am 28. April wurde im Zentrum von Kiew unter Obhut von Bürgermeister Vitali Klitschko ein Gedenkmarsch zu Ehren der Gründung der „Division Galizien“ im Jahr 1943 durchgeführt. Die Division gehörte zur Waffen-SS und war 12.000 Mann stark. Mitglieder waren ukrainische Ultranationalisten und Volksdeutsche.
Die Division wurde an der Ostfront und auf dem Balkan als Strafkommando gegen Partisanen und Zivilisten eingesetzt. Nach der Entscheidung des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals ist die SS eine verbrecherische Organisation.
Nach der Rede des russischen Präsidenten erklärte sein Sprecher, Dmitri Peskow, im Radio „Echo Moskau“:
„Es ist kein Geheimnis, dass in europäischen Ländern die Neonazis immer mehr den Kopf erheben und die Europäer mit ihnen ringen. Das ist natürlich nicht hinnehmbar für unser Land. In der Ukraine und in einigen baltischen Staaten sehen wir diese Neonazis auch. ´Galizien´ marschierte vor kurzem in Kiew.“
Buddhistische Kosaken auf der Militärparade
Die diesjährige Militärparade auf dem Roten Platz war kein einfaches Unterfangen. Die Wolken hingen tief und ab und zu tröpfelte es. Die Lufttemperatur betrug acht Grad. Auf den Tribünen am Roten Platz hatten sich die 80- und 90-jährigen Veteranen Regenmäntel und Decken über ihre Uniformen gehängt. Und mehrmals sah man, wie Putin den alten Männern herunterrutschende Decken wieder auf die Schultern schob.
Zuerst marschierten 12.000 Soldaten verschiedenster Waffengattungen – unter ihnen auch buddhistische Kosaken aus Kalmykien – über den Platz. Dann rollte Militärgerät über das Pflaster.
Der Marsch des Unsterblichen Regiments soll später stattfinden
Den traditionellen Marsch von Bürgern der Stadt unter dem Motto “Unsterbliches Regiment” hatte die Stadtverwaltung für den 9. Mai abgesagt. Der Marsch, bei dem Angehörige von Soldaten und Soldatinnen, die im Zweiten Weltkrieg kämpften, mit den Porträts ihrer Vorfahren durch Moskaus Straßen ziehen, findet seit 2007 statt. Am 24. Juni dieses Jahres soll der Marsch dann – wenn es die Corona-Situation erlaubt – in den Städten Russlands nachgeholt werden.
Am diesjährigen 9. Mai fand immerhin noch ein virtueller Marsch des „Unsterblichen Regiments“ statt. Angehörige konnten Bilder von ihren Vorfahren und Selbstporträts einschicken, die dann nacheinander online gezeigt wurden.
Titelbild: Ulrich Heyden