EU jetzt mit besseren Arbeitsrechten?

EU jetzt mit besseren Arbeitsrechten?

EU jetzt mit besseren Arbeitsrechten?

Werner Rügemer
Ein Artikel von Werner Rügemer

In ihrem Beitrag „Solidarität statt Social Distancing – Chancen für ein soziales Europa“ loben die Autorinnen Sophie Schwertner und Tensin Studer die „Europäische Säule Sozialer Rechte“ als gute Grundlage beim bevorstehenden EU-Sozialgipfel am 7./8. Mai 2021 und für eine „soziale Trendwende“ in Europa. Doch diese ESSR stellt nach Beurteilung des Kölner Publizisten Werner Rügemer den bisher absoluten Tiefpunkt der Arbeitsrechte in der EU dar – einschließlich der Legalisierung des Null-Stunden-Arbeitsvertrags. Dazu veröffentlichen wir einen gekürzten Auszug aus Rügemers Buch „Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr“, Köln 2020.

Europäische Union: Noch mehr ArbeitsUnrecht!

Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR)

Am 17. November 2017 proklamierte die EU die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR). Sie wurde im schwedischen Göteborg „einstimmig und feierlich“ von den 27 EU-Staaten proklamiert, so wurde berichtet. Allerdings: Kein Regierungschef war anwesend. Die Erklärung wurde unterzeichnet von lediglich drei Anwesenden: Von Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker, dem estnischen Ratspräsidenten Jüri Ratas und dem Präsidenten des EU-Parlaments Antonio Tajani.[1] Diese drei Figuren: Das ist „die EU“!

Juncker erklärte zur Begründung: Leider herrsche in der EU bei allen Erfolgen auch „Sozialdumping und soziale Fragmentierung“. Vor allem in Südeuropa laufe „mit hoher Arbeitslosigkeit, grassierender Armut und schwacher Wirtschaft die größte Krise seit Generationen“. Da müsse man endlich gegensteuern, nicht zuletzt, so Junckers Pflichtbekenntnis, müsse man „Populisten und EU-Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen“. Also: Irgendwie hatte Juncker ein tiefgehendes Problem durchaus erkannt. Aber seine „Lösung“ verschärft die Krise weiter – ebenso auch den von ihm pflichtgemäß angeprangerten Populismus.

Noch niedrigere Standards als bisher

Die 20 neuen Rechte in der ESSR stehen in einer Tradition Dutzender von Arbeits-Richtlinien der EU. Sie stellen in dieser schrittweisen Abwärtsentwicklung allerdings den historisch niedrigsten Standard dar: Nicht nur die Arbeitsrechte der UNO und der ILO werden unterlaufen, sondern auch viele bisherige, schon sehr niedrige EU-Standards.

Die neuen Rechte sind eingeteilt in drei Abteilungen: 1. Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, 2. Faire Arbeitsbedingungen, 3. Sozialschutz und soziale Inklusion. Gendermäßig hochkorrekt ist nicht nur von Arbeitnehmern die Rede, sondern immer auch von Arbeitnehmerinnen.

Unter Recht Nr. 3 „Chancengleichheit“ werden die üblichen Anti-Diskriminierungs-Kriterien aufgezählt: „Unabhängig von Geschlecht, Rasse oder ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung hat jede Person das Recht…“ Klingt gut, oder? Schauen wir auf das Ergebnis.

Junge Menschen: Recht auf Praktikumsplatz

Recht Nr. 4 hat die Überschrift „Aktive Unterstützung für Beschäftigung“. Da heißt es zum Beispiel: „Junge Menschen haben das Recht auf einen Praktikumsplatz“. Immerhin! Es muss ja kein richtiger Ausbildungs- oder Arbeitsplatz sein. Ob der gnädig bereitgestellte Praktikumsplatz bezahlt wird, ist unwichtig. Weiter: „Arbeitslose haben das Recht auf individuelle, fortlaufende und konsequente Unterstützung“: Hartz IV erfüllt diese Kriterien doch gut: Die Unterstützung ist individuell und irgendwie auch konsequent, oder nicht? Wie hoch die Unterstützung ist, scheint nicht so wichtig.

Atypische Arbeitsverträge dürfen nicht „missbraucht“ werden

Recht Nr. 5 heißt „Sichere und anpassungsfähige Beschäftigung“. Dazu heißt es: „Der Übergang in eine unbefristete Beschäftigungsform wird gefördert“: Mit der ESSR geht die EU also erstmal von befristeter Beschäftigung aus, und irgendwie wird dann die unbefristete Beschäftigung gefördert – die muss aber nicht kommen. Weiter heißt es: „Prekäre Arbeitsbedingungen werden unterbunden, unter anderem durch das Verbot des Missbrauchs atypischer Verträge“. Atypische Verträge sind also zulässig und normal, sie dürfen nur nicht „missbraucht“ werden. „Probezeiten sollten eine angemessene Dauer nicht überschreiten.“ Angemessen. Sollten.

Private Streitbeilegung statt staatlicher Arbeitsgerichte

Im Recht Nr. 7 heißt es: „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht, am Beginn ihrer Beschäftigung schriftlich über ihre Rechte und Pflichten informiert zu werden.“ Donnerwetter! Das ist ja fast (fast) so viel wie in China! So geht es weiter: „Bei jeder Kündigung haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Recht, zuvor die Gründe zu erfahren.“ Also schon bevor man vor die Türe gesetzt ist! Von dieser Güte gibt es noch mehr Rechte: „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht auf Zugang zu wirkungsvoller und unparteiischer Streitbeilegung.“ Das erfüllt den langgehegten Wunsch der Unternehmer und wie es schon in den Arbeitsrechts-Kapiteln der Freihandelsverträge CETA usw. steht: Weg von den staatlichen Arbeitsgerichten, lieber die betriebsinterne, private, nichtöffentliche Streitschlichtung!

Faire Arbeitsbedingungen?

Die Arbeitsbedingungen sollen „fair“ sein. Aber: Fair – das ist rechtlich diffus. Fair – das entsteht durch Konsens. Etwas Faires ist möglich, etwa wenn sich zwei Sportmannschaften derselben Liga begegnen und ein Schiedsrichter das moderiert. Aber was ist fair, wenn die abhängig Beschäftigten und die Unternehmer sich als wesentlich Ungleiche begegnen? Und wenn der Schiedsrichter sowieso, offen oder verdeckt wie in der EU, auf der Seite des Arbeitgebers steht?

„Lange Teilnahme am Arbeitsmarkt“ – wie lange ist „lang“?

Im Recht Nr. 10 heißt es: „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht auf ein Arbeitsumfeld, das ihren beruflichen Bedürfnissen entspricht und ihnen eine lange Teilnahme am Arbeitsmarkt ermöglicht.“ Im Klartext heißt das: Arbeitsmigranten aus Rumänien und Flüchtlinge (die nicht ertrunken oder verhungert sind) werden in Deutschland und Frankreich von den Unternehmern und Vermittlern und Jobagenturen dort eingesetzt, wo ihre Ansprüche und vielleicht anerkannten Qualifikationen am besten hinpassen. Und was bedeutet eine „lange“ Teilnahme am Arbeitsmarkt? Wie lang ist „lang“? Lebenslang? Bis zur gesetzlichen Rente? Oder eben so lange bis die Arbeitskraft verschlissen ist wie in den Fleischfabriken?

Soziale Rechte müssen „angemessen“ sein

Die Rechte Nr. 11 bis 20 stehen unter der Überschrift „Sozialschutz und soziale Inklusion“. Sie betreffen Kinder, Arbeitslose, Rente, Gesundheitsversorgung, Mindesteinkommen, Behinderung, Pflege, Wohnraum usw. Die Rechte sind auch hier nicht nur unverbindlich, sondern besonders unbestimmt.

Schon bei den Arbeitsrechten wird häufig diffus von „angemessen“ geredet: „angemessene Freistellungs- und flexible Arbeitszeitregelungen“, „angemessene Kündigungsfrist“. Aber bei den Sozialrechten ufert dieses diffuse Kriterium aus: „angemessene Mindestlöhne“, „angemessener Lebensstandard“, „angemessener Sozialschutz“, „angemessene Leistungen von angemessener Dauer“ (für Arbeitslose), „angemessenes Ruhegehalt“, „angemessene Unterkünfte und Dienste“ (für Wohnungslose).

Die kollektiven Arbeits-, Tarif- und Gewerkschaftsrechte, die Mitbestimmung und Belegschaftsvertretung fehlen in der „Europäischen Säule“ ebenso wie menschenwürdige Rente, kostenlose Bildung und bezahlbares Wohnen. Allerdings darf zeitgeistig der Begriff „soziale Inklusion“ nicht fehlen.

Richtlinie zur Umsetzung der „Europäischen Säule“ (2019)

Die ESSR wurde in die Richtlinie 2019/1152 umgesetzt und hat den gekonnt irreführenden Titel „Transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen“.

Null-Stunden-Vertrag: Zulässig und verrechtlicht

So sind Null-Stunden-Verträge zugelassen (ohne verpflichtende Zahl der Arbeitsstunden, beginnend bei Null), sie sollen nur nicht „missbraucht“ werden. So gibt es nun das Recht auf Mehrfachbeschäftigung: Gelegenheits-, Mini- und Teilzeit-Jobber, Null-Stunden-Vertragler und gig worker sollen das „Recht“ bekommen, nebenbei noch einen Zweit-, Dritt- usw. Job anzunehmen.

„Die Richtlinie hat einen breiten persönlichen Anwendungsbereich. Er soll sicherstellen, dass alle Arbeitnehmer/innen in allen Beschäftigungsverhältnissen – selbst in den flexibelsten atypischen und neuen Formen wie Null-Stunden-Verträge, Gelegenheitsarbeit, Hausarbeit, Arbeit auf der Grundlage von Gutscheinen oder Arbeit über Plattformen – in den Genuss dieser Rechte kommen.“[2]

Titelbild: symbiot/shutterstock.com