Covid-19 aus der Armutsperspektive

Covid-19 aus der Armutsperspektive

Covid-19 aus der Armutsperspektive

Magda von Garrel
Ein Artikel von Magda von Garrel

Corona und mehr noch die Corona-Maßnahmen sind nicht nur ein Thema, das vor allem Alte und Kinder betrifft. Sowohl was die Infektionszahlen als auch was die Schäden durch die Maßnahmen angeht, gibt es zudem eine soziale Komponente. Wer arm ist, infiziert sich und erkrankt häufiger. Wer arm ist, leidet auch besonders stark unter den Maßnahmen. Magda von Garrel hat sich für die NachDenkSeiten Gedanken zu diesem Thema gemacht.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Um einen Punkt gleich klarzustellen: Natürlich können die Covid-19 auslösenden Viren tendenziell alle Menschen infizieren, aber inzwischen ist selbst den Mainstreammedien aufgefallen, dass die intensiv zu behandelnden Patientinnen und Patienten vor allem aus den ärmeren Bevölkerungsschichten stammen. Da es sich bei den Betroffenen oft um Migranten handelt, laufen die schnell mitgelieferten Erklärungsversuche zumeist auf kulturelle Eigenheiten oder sprachliche Barrieren hinaus, aber das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Das Hauptproblem besteht in den armutsbedingten Lebens- und Arbeitsverhältnissen, die sich auf dreierlei Ebenen auswirken.

  1. Ebene: Erhöhung des Ansteckungsrisikos

    Wie sicherlich noch bekannt sein dürfte, stand zunächst das von großen Freizeitveranstaltungen ausgehende Ansteckungsrisiko im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (Stichworte: Après-Ski-Veranstaltungen und Karnevalsfeiern). Doch schon bald nach den hier gemeinten Ereignissen in Ischgl und Heinsberg stellte sich am Beispiel des Fleischverarbeitungsbetriebs Tönnies heraus, dass auch schlechte Arbeitsbedingungen sehr riskant sein können.

    Somit wäre es schon früh möglich gewesen, die soziale Komponente des Infektionsgeschehens gezielter zu berücksichtigen, aber stattdessen blieb es bei einer bloßen Fortsetzung der zwischenzeitlich bereits eingeführten Maßnahmen und Empfehlungen (Betriebsschließung, Quarantäne, Einbau von Luftfiltern sowie Einhaltung der Abstandsregeln im Arbeits- und Aufenthaltsbereich).

    Wegen der bis heute andauernden Ausblendung der sozialen Komponente sind die unterschiedlichen Voraussetzungen auch im Privatbereich nie ernsthaft berücksichtigt worden. Dabei bedarf es keiner allzu großen Fantasie, um sich vorstellen zu können, welche Folgen zu erwarten sind, wenn häusliche Quarantäne, Homeschooling und Ausgangssperren in einem dafür völlig ungeeigneten Umfeld zusammenkommen.

    Menschen, die in ohnehin viel zu kleinen Wohnungen leben, müssen in Befolgung der Maßnahmen ziemlich lange und in noch größerer Zahl als zuvor aufeinander hocken und sind somit einer erhöhten Ansteckungsgefahr ausgesetzt. Trotzdem ist es bei dieser Art von “Vorsorge” auch dann noch geblieben, als eine Gruppe von Aerosolforschern darauf aufmerksam gemacht hat, dass ein Aufenthalt in Innenräumen weitaus riskanter als ein Aufenthalt im Freien ist.

    Als genau so kontraproduktiv haben sich die in den Alten- und Pflegeheimen praktizierten monatelangen Zwangsisolierungen erwiesen und zwar vor allem dann, wenn es sich um “kostengünstige” Alten- und Pflegeheime handelte, denen schon allein aus zeitlichen Gründen keine Alternativen zur Verhinderung der aus Einsamkeit und Bewegungsmangel resultierenden Schwächung des Immunsystems der Bewohner*innen zur Verfügung standen. Das bedeutet, dass im Namen des Gesundheitsschutzes die Krankheitsanfälligkeit der unter solchen Bedingungen eingekerkerten und darunter schwer leidenden alten Menschen sogar noch erhöht worden ist.

    Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass die finanziell gut abgesicherten Teile der Bevölkerung den verordneten Stillstand mit seinem plötzlichen Wegfall zahlreicher Termine vor allem anfänglich geradezu genießen und von Entschleunigung schwärmen konnten. Dabei dürfte das Zusammensein mit Freunden und Bekannten in großzügig bemessenen Wohnungen und/oder Gärten erheblich zu einer Stabilisierung ihres Immunsystems beigetragen haben.

    Zum Kummer vieler Eltern treffen die je nach Lebensbedingungen höchst unterschiedlichen Auswirkungen der Maßnahmen auch auf die Kinder und Jugendlichen zu. Zwar müssen sie – mit Ausnahme der ganz Kleinen – Maskierung und räumliche Isolierung gleichermaßen ertragen, aber spätestens beim homeschooling treten krasse Unterschiede zutage. Kinder armer Eltern können nun einmal nicht so einfach am digitalen Fernunterricht teilnehmen, wenn es zu Hause keinen Drucker gibt oder die einzige für die Erledigung von Hausaufgaben vorhandene Arbeitsfläche mit mehreren Geschwistern geteilt werden muss. Da hilft es auch nur wenig, wenn die bedürftigen Kinder und Jugendlichen ein neues Tablet in die Hand gedrückt bekommen.

    Noch schlimmer ergeht es denjenigen Kindern und Jugendlichen, die bislang mit einem kostenlosen Mittagessen versorgt worden sind und zudem die Möglichkeiten hatten, die ebenfalls kostenlosen Freizeitangebote wahrzunehmen. Am schrecklichsten sieht die Lage für die von häuslicher Gewalt betroffenen Kinder und Jugendlichen aus, denen jeglicher Zugang zu den darauf spezialisierten Notdiensten versperrt worden ist.

  2. Ebene: Zunahme der Armut

    Ob nun Lohnsklaven, Saisonarbeiter*innen, am Rande des Existenzminimums lebende Künstler*innen, Bezieher*innen kleiner Renten, Erwerbslose, Solo- und Scheinselbstständige, Gefängnisinsassen, alleinerziehende Mütter und Väter oder Sozialhilfeempfänger*innen – sie alle sind in besonderem Maße gefährdet. Für die zuvor schon ganz Armen gilt das gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen unterliegen sie – wie bereits angesprochen – einem erhöhten Ansteckungsrisiko und zum anderen müssen sie als Folge der mangelhaft konzipierten Unterstützungsmaßnahmen nun auch noch mit einer dauerhaften Verschlechterung ihrer ohnehin kärglichen Lebensgrundlagen rechnen.

    Das betrifft nicht zuletzt die Wohnungssituation: Wenn der beschlossene Kündigungsschutz erst einmal ausgelaufen ist, müssen sich viele der Betroffenen auf einen Rauswurf gefasst machen, der in Ermangelung eines anderweitig vorhandenen bezahlbaren Wohnraums geradewegs in die Obdachlosigkeit führen kann.

    Darüber hinaus ist absehbar, dass zu der sich verschärfenden “alten Armut” auch noch eine ganz “neue Armut” hinzukommen wird, die sich aus dem Untergang zahlreicher kleiner mittelständischer Betriebe ergibt. Die zur Abfederung der “ewigen” Lockdowns in Aussicht gestellten Überbrückungshilfen werden sich insbesondere dann als wirkungslos herausstellen, wenn – als Folge der sehr bürokratischen Handhabung – die Auszahlung zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem die Eigenmittel zur Deckung der ständig weiterlaufenden Kosten schon längst aufgebraucht worden sind.

    Und selbst dann, wenn es den kleinen und mittleren Betrieben tatsächlich gelingen sollte, sich wieder zu “berappeln”, heißt das noch lange nicht, dass sie auch in der Lage sein werden, ihr Personal, das sie aus Kostengründen in die Kurzarbeit oder gleich ganz entlassen haben, wieder vollumfänglich einstellen zu können.

    Mit Blick auf die drohenden Folgen der Maßnahmen hat sich auch der damalige Mittelstandspräsident Mario Ohoven in einer verbandseigenen Pressemitteilung vom 29.10.2020 zu Wort gemeldet, indem er unter anderem feststellte: “Bei den getroffenen Maßnahmen geht es aber um nicht weniger als die wirtschaftliche Existenz von ganzen Berufsgruppen, Millionen von Selbstständigen und deren Familien.” Der Vollständigkeit halber soll hinzugefügt werden, dass Ohoven kurze Zeit später bei einem Autounfall unter bislang ungeklärten Umständen ums Leben gekommen ist.

  3. Ebene: Ausbleiben der Ursachenbekämpfung

    Die hier auf den ersten beiden Ebenen vorgestellten Entwicklungen und Überlegungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass im Zusammenhang mit Covid-19 die höchste Gefährdung nicht alters-, sondern armutsbedingt ist. Dabei haben etliche der von der Regierung verordneten Maßnahmen auch noch zu einer Verschärfung der Bedrohungslage beigetragen, weil die reale Lebenssituation vieler der am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen überhaupt nicht ins Kalkül einbezogen worden ist.

    Hinzu kommt, dass es sich bei den meisten Maßnahmen um bloße Eindämmungsversuche handelt, denen allenfalls kurzfristige Erfolge beschieden sein können. Das gilt auch für die jetzt als Allheilmittel gepriesenen Impfungen, da die seinerzeit auf diese Weise gelungene Ausrottung der Pockenviren in einer inzwischen globalisierten Welt nicht wiederholbar ist.

    Schon allein deshalb müssten wir uns viel intensiver mit den für das vermehrte Auftreten neuartiger Viren verantwortlichen Gründen befassen. Engagierte Menschen wie David Wallace-Wells oder Rob Wallace haben uns mit teils drastischen Beispielen vor Augen geführt, was es bedeutet, wenn ein ausschließlich an Profitmaximierung interessierter Kapitalismus die Plünderung des Planeten permanent vorantreibt.

    So werden die für unser Überleben absolut notwendigen Waldflächen immer kleiner und der Mensch rückt immer näher an bislang verborgen gebliebene Wildtiere und damit an potenzielle Überträger neuartiger Viren heran.

    Aus schierer Not heraus sind die Ausführenden dieses Zerstörungswerks zumeist sehr arme Menschen, die zudem schlecht versorgt und untergebracht werden. Das bedeutet, dass sich ein einmal übergesprungenes Virus relativ schnell unter ihnen ausbreiten kann, sodass sie zu unwissentlichen Krankheitsüberträgern werden, wenn sie nach Beendigung der Arbeiten in ihre ebenfalls ärmlichen und damit “virenfreundlichen” Heimatregionen zurückkehren.

    Doch damit nicht genug. Neben dem zerstörerischen Raubbau gibt es auch noch viele andere in Frage kommende Ursachen (Massentierhaltung, Monokulturen oder zunehmende Wetterextreme als Folge des Klimawandels) für das Auftauchen bislang unbekannter Viren.

    Auf jeden Fall werden die zahlreichen auf die Menschheit zukommenden Veränderungen gewaltig sein, wobei schon jetzt klar ist, dass das auch für die daraus resultierenden Folgen gilt. Angesichts der zu erwartenden Zunahme an Versteppungen, Hitzewellen, Überschwemmungen und Kriegen um die wenigen noch verbliebenen Ressourcen wird weltweit sowohl die Zahl der Toten als auch die Zahl der Umweltflüchtlinge enorm ansteigen.

    Vermutlich waren es Aussichten dieser Art, die auch die von den Reichen und Mächtigen dieser Welt gegründeten Gesprächszirkel veranlasst haben, verstärkt über zukünftige Szenarien nachzudenken. Den in diesem Zusammenhang bekannt gewordenen Vorschlägen ist gemeinsam, dass es dabei nicht um eine Abschaffung des Kapitalismus geht, sondern vielmehr um dessen “Transformation”, die auf einer Verwirklichung zahlreicher technokratischer Ansätze beruhen soll.

    Um nur einige Beispiele zu nennen: Elon Musk strebt eine Mars-Besiedlung und eine Art partielle Sonnenverdunkelung an, die auf dem Aerosol-Ansatz von Wally Broecker zurückgehen dürfte. Danach soll ein Fünftel des Horizonts verschleiert werden, indem sich das in die Atmosphäre gegebene Schwefeldioxid in Schwefelsäure umwandelt.

    Von Bill Gates wissen wir, dass er eine Reduzierung der Weltbevölkerung anstrebt und am liebsten alle Menschen dieser Erde impfen lassen möchte. Demgegenüber vertritt Klaus Schwab (Gründer des Weltwirtschaftsforums) in seinem Buch “The Great Reset” einen deutlich “grüneren” Ansatz, der aber ein einsichtsvolles Verhalten der Menschheit voraussetzt, die zu diesem Zweck mit Hilfe von Mini-Computern kontrolliert und gelenkt werden soll. Der mit dem vorgeschlagenen Neustart geplante Abschluss dieses Prozesses besteht in einer Art “Verschmelzung” von Mensch und Maschine und soll mit einer Abschaffung des Bargeldes und des persönlichen Besitzes einhergehen.

    Ob sich mit dieser Strategie auch die weltweite Armut bekämpfen lässt, steht auf einem ganz anderen Blatt. Sicher ist nur, dass sich unsere derzeitige Bundesregierung im Zuge der zur Eindämmung von Covid-19 ergriffenen Maßnahmen schon längst auf den technokratischen Weg begeben hat.

    Ausgehend von einer Erweiterung der Zugriffsmöglichkeiten auf unsere ganz persönlichen Gesundheitsdaten soll es demnächst um eine Umwandlung der ursprünglich nur für die Finanzämter vorgesehenen Identifikationsnummer in eine allen Behörden zugängliche Identifikationsnummer gehen. Das bedeutet, dass über den Gesundheits- und Finanzbereich hinaus alle der bislang an unterschiedlichen Stellen über uns gesammelten Daten zukünftig über die Eingabe einer einzigen Nummer abrufbar sein werden.

Abschließende Überlegungen

Unter bewusster Ausblendung zahlreicher anderer Schwachstellen des “Corona-Managements” der Bundesregierung ist hier versucht worden, den Blick auf die besonderen Härten zu lenken, denen arme Menschen durch die symptomfixierte Gestaltung der Corona-Maßnahmen ausgesetzt sind. Unter diesem speziellen Blickwinkel ist im weiteren Verlauf der Betrachtungen auch deutlich geworden, dass wir uns in einer globalisierten Welt den Verzicht auf eine Ursachenbekämpfung gar nicht mehr leisten können. Dieses Vorhaben muss von Anfang an mit weltweiten Anstrengungen verknüpft werden, wenn wir sowohl den viralen als auch den klimatischen Bedrohungen ernsthaft etwas entgegensetzen wollen.

Kurzum: Eine auf Armutsbekämpfung bedachte Politik, die nicht mit der jetzt angelaufenen Impfkampagne in den so genannten sozialen Brennpunkten verwechselt werden darf, sondern stattdessen auf eine baldige Beendigung der Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichtet ist, liegt in unser aller Interesse.

Hinsichtlich der Ausgestaltung dieses Ziels muss vorab die Frage geklärt werden, ob wir den von den Milliardären vorgezeichneten technokratischen (Überwachungs-)Weg mitgehen wollen oder ob wir nicht doch lieber auf Umverteilung, Reduzierung der Militärausgaben und finanzielle Beteiligung der “Krisengewinnler” setzen, um daran anschließend konkrete Vorhaben wie diese finanzieren zu können:

Rekommunalisierung aller Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, Verbot von Leiharbeit und anderen prekären Beschäftigungsverhältnissen zugunsten der (Wieder-)Einführung von Festanstellungen und Tariflöhnen, Aufstockung des Pflege-, Kranken- und Kinderbetreuungspersonals, Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus in Verbindung mit staatlichen Eingriffen in die Mietpreisgestaltung, staatliche Übernahme schlecht geführter Alten- und Pflegeheime in privater Trägerschaft, deutliche Erhöhung der Bildungsausgaben, Abschaffung der interessegeleiteten Drittmittelforschung an den Universitäten, Schaffung neuer Freizeit- und Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche sowie das Angehen überregionaler Aufgaben wie Deindustrialisierung der Landwirtschaft, Aufhebung von Medizin- und Nahrungsmittelpatenten, Beteiligung an globalen Wiederaufforstungsprogrammen oder die Ingangsetzung eines umfassenden klimafreundlichen Strukturwandels auf nationaler und internationaler Ebene.

Auch wenn es sich bei diesen Vorschlägen nur um erste Beispiele handelt, lassen sie sich dennoch in einem Satz zusammenfassen: An die Stelle des zerstörerischen Kapitalismus muss wieder die Gemeinwohlorientierung treten.

Titelbild: Thanumporn Thongkongkaew/shutterstock.com