Wie klein oder groß die Gruppe der Pädagoginnen und Pädagogen ist, die Bauchschmerzen hat angesichts des Corona-Managements an den Schulen, ist unklar. Offensichtlich ist aber, dass diejenigen, die an unser „Forum Schule“ geschrieben haben, ihre Kritik nicht offen äußern durften – oder aber dafür gemaßregelt oder beschimpft wurden. Was Lehrer und Erzieher über den Zustand ihrer Schüler nach einem Jahr Corona-Schooling und Kontaktverboten schreiben, ist jedenfalls beklemmend. Fast alle fordern auch grundlegende Reformen im Schulbereich. Von Sandra Reuse und Ralf Lankau.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Rund 50 Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher haben sich nach unserem Aufruf zum „Forum Schule – wie weiter?“ gemeldet. Es sind überwiegend lange Zuschriften, die von großer Sorge um die Gegenwart und Zukunft der Schüler geprägt sind. Beschrieben werden massive Schwierigkeiten, den eigenen pädagogischen Ansprüchen gerecht zu werden, unter den Bedingungen von Hygienevorschriften, Distanz- und Wechselunterricht. Fast alle äußern auch tiefe Zweifel und Kritik am Status Quo des Schulsystems. Diese Lehrer sind zweifelsohne eine Minderheit, nicht vertreten durch die laut trommelnde Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), die strengste Hygienemaßnahmen, Schulschließungen ab Inzidenzwert 100 und ein schnelles Durchimpfen aller Kinder fordert (sobald die Lehrer dran waren).
Das Forum „Schule – wie weiter?“ soll dazu dienen, alle Perspektiven auf die Corona-Maßnahmen und den Schulbetrieb sichtbar zu machen, auch die Einschätzungen und Meinungen, die in der öffentlichen Debatte bislang noch nicht so sichtbar geworden sind. Wir wollen damit einen Beitrag leisten zu einem Stück gelebter Partizipation in der Demokratie, in der nicht nur diejenigen gehört werden dürfen, die gut und lautstark organisiert sind.
So sehen die Lehrer die Schüler nach einem Jahr Corona-Schooling
Dies ist um so wichtiger, als es sich bei den Schülerinnen und Schülern um Schutzbedürftige handelt, die ganz überwiegend für sich selbst nicht eintreten können. Die Beschreibungen der Pädagoginnen und Pädagogen, wie es den Schülern geht nach einem Jahr Corona-Schooling, sind allesamt beklemmend. Bestätigt werden die vielen dringlichen Warnungen von Ärzten, Psychologen und medizinischen Fachgesellschaften über die psychosozialen und körperlichen Risiken, die mit der Vereinzelung, der Digitalisierung und dem staatlich verordneten Bewegungsmangel (Sportverbote) einhergehen.
Eine Lehrerin schreibt:
„Am meisten besorgt mich der Gesundheitszustand der Jugendlichen (Bewegungsarmut vor dem Bildschirm, Gewichtszunahme), die soziale Verarmung, die ich immer mehr beobachte und der totale Mangel an Perspektive für die Jugendlichen! Auch schwierig, daß sich auch Kinder schon polarisieren (“verantwortungslos” vs “Angsthase”)“.
Manchen Kindern würde von ihren Eltern der Kontakt zu Mitschülern regelrecht verboten oder sie hätten selbst so große Angst, dass sie sich nicht mal mehr mit einzelnen Freundinnen oder Freunden träfen. Selbst wenn diese Kinder zu Hause gut aufgehoben seien, „langweilen sie sich zu Tode oder verfallen in Hilflosigkeit und Depression“, fasst eine andere Lehrerin zusammen.
Ein Schulsozialarbeiter aus Baden-Württemberg schreibt:
„Als dann wieder Präsenz möglich war, ist der Laden explodiert, weil dann alles hochkam was in den Monaten davor lief. Es ist alles dabei, von körperlicher und sexualisierter Gewalt, über Mediensucht, Drogenkonsum, psychische Krankheiten.
Externe Hilfsangebote sind heillos überlastet. Der Versorgungsschlüssel der Psychotherapeut_Innen ist seit Jahrzehnten dem Bedarf nicht angepasst worden. (…) Die Konsequenzen für die Kinder und Jugendlichen sind aus meiner Sicht eine Traumatisierung ganzer Jahrgänge. Die langfristigen Folgen sind nicht kontrollierbar. Ich beobachte eine starke Zunahme psychischer Belastungen und Krankheiten. Den Kindern und Jugendlichen werden ihre Rechte und ihre Zukunft genommen von Seiten der Politik und das alles ohne irgendeinen Sinn“.
Das sagen die Lehrer zum Unterricht unter Corona-Bedingungen
Der Unterricht ist nach Beschreibung der Lehrer zahlreichen Limitierungen ausgesetzt und war im zurückliegenden Jahr immer wieder unterbrochen. Entweder weil ganze Schulen geschlossen waren, einzelne Klassen nicht kommen durften, aufgrund von Wechselunterricht oder Quarantänemaßnahmen für einzelne Schüler oder auch größere Gruppen. Die 7.-9. Klassen waren bundesweit bis zu 4 ½ Monate nicht im Unterricht. Lehrerinnen und Lehrer müssen sich bis heute immer wieder neu darauf einstellen, ob und wieviele Schüler sie in Präsenz treffen oder nur digital erreichen können.
Die Möglichkeiten, Schüler vor den Endgeräten zu Hause mitzunehmen, zu motivieren und zu unterstützen, werden als stark limitiert beschrieben. Dies sei sogar der Fall, wenn die Schule digital gut ausgestattet und die Pädagogen technisch fit seien. Denn vieles hänge vom Elternhaus ab, insbesondere davon, ob jemand mit Zeit und ausreichenden Sprach-, aber auch Technikkenntnissen im Hintergrund wirke. Diejenigen Schülerinnen und Schüler, bei denen das nicht der Fall sei, würden abgehängt. Soziale Unterschiede würden so weiter zementiert. Benachteiligt seien aber auch die Kinder von möglicherweise sogar gut verdienenden, in Vollzeit berufstätigen Eltern, die weder die Zeit noch die Kraft hätten, sich um die Beschulung des Nachwuchses zu kümmern. Oder einfach gar nicht zu Hause sind und abends k.o., möglicherweise noch dazu als Alleinerziehende.
Diese Kinder und Jugendlichen zu erreichen, sei schwer, online allemal, aber auch in den Präsenzphasen. Viele Schüler seien „übersättigt“ mit Online-Angeboten, gleichzeitig fehle echte Abwechslung, insbesondere Sport, sie könnten sich nicht mehr konzentrieren. Aber auch das viele Hin und Her mit „Schule auf, Schule zu, Lüften, ganze Klassen, halbe Klassen, Testen“ habe funktionierende soziale Beziehungen nachhaltig beschädigt, sowohl zwischen den Schülern als auch im Lehrer-Schülerverhältnis. Der Kontakt zu den Schülern und Schülerinnen gehe immer mehr verloren, „Versuche der Kontaktaufnahme werden ausgeschlagen“, schreibt einer.
Dass nach all diesem Hin und Her und angesichts des psychischen Zustands einer unklaren, aber offenbar nicht unbedeutenden Zahl an Schülern der Zugang zum Präsenzunterricht nun durch Tests limitiert wird, ist aus Sicht vieler Pädagogen, die uns geschrieben haben, zu viel. Wer ein positives Testergebnis habe, drohe gemobbt zu werden, um wen es sich handele, sei vor den Mitschülern kaum zu verbergen. Auch sei nicht verständlich, warum die negativ getesteten Kinder in der Schule trotzdem mit Maske sitzen und Abstand halten müssten.
Eine Grundschullehrerin schreibt:
„Ich kann nicht prognostizieren was diese Maßnahmen für Langzeitfolgen für die Kinder haben. Was ich aber beobachte: die Kinder wollen sich treffen, vermissen ihre Freunde, vermissen den unbeschwerten Umgang miteinander. Sie haben Angst vor Corona und manche setzen die FFP2 Maske mittlerweile voller Stolz auf (ja, Frau Merkel fände das gut – ich finde es befremdlich)“.
Wie es den Lehrern und Erziehern selbst geht
Wie es den Lehrkräften und Erziehern selbst geht, hängt offenbar stark davon ab, wie sie die Corona-Maßnahmen beurteilen, welches Verhältnis sie zu ihren jeweiligen Vorgesetzten sowie zu den Kolleginnen und Kollegen haben und wie viel Handlungsspielraum ihnen zugestanden wird, um mit der Situation umzugehen. Manche beispielsweise lehnen die Tests ab und werden auch nicht gezwungen, sie umzusetzen. Eine Grundschullehrerin berichtet, dass sie jeden Freitag mit den Kindern in den Wald geht. Generell scheint es an den Grundschulen mehr Möglichkeiten zu geben, sich um einzelne Schüler zu kümmern und dafür zu sorgen, dass Kinder nicht abgehängt werden. An Gymnasien hingegen besteht deutlich mehr Leistungsdruck, auch vor dem Hintergrund, dass die Lehrpläne nach wie vor durchgezogen werden sollen.
Den fehlenden persönlichen Umgang mit den Schülern erleben auch die Lehrer selbst als Verlust. Ein Gesamtschullehrer schreibt:
„Ich führe gerade meine 1. Klasse zum Abschluss und konnte letztes Jahr schon unseren Hauptschülern keine Abschlussfahrt ermöglichen und dieses Jahr meinen Realschülern auch nicht. Für mich fehlt da einfach etwas in meiner Vita in Bezug zu meiner Klasse. Was das für die Schüler bedeutet, werden Sie hoffentlich von diesen selbst erfahren. Pädagogische Arbeit ist immer Arbeit mit Menschen und eine Abschlussfahrt ist der krönende Abschluss eines jahrelangen Miteinanders“.
Den äußerst beschränkten eigenen Handlungsspielraum, was zum Beispiel Unterricht im Freien, Projektarbeit oder eben auch Ausflüge betrifft, beklagen viele.
Ein Schulsozialarbeiter schreibt:
„Auch den Fachkräften, mir und meinen Kolleg_Innen geht es so, dass wir nach über einem Jahr erschöpft und ausgebrannt sind. Von Arbeitgeberseite wird wenig bis nichts getan, um diesem Zustand abzuhelfen“.
Einige Betreffzeilen der Zuschriften ans Forum lauten auf „kurz vor der Kündigung“ oder „innerer Rückzug“. Wenn das Corona-Jahr zur Folge hat, dass der ohnehin schon bestehende Lehrer- und Erziehermangel weiter verschärft wird, sollte dies Anlass zum Nachdenken geben.
Unter diesem Link können Sie weiterlesen, was uns die Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher geschrieben haben.
Die Auswertung der Zuschriften von Eltern, der Schülerinnen und Schüler selbst sowie der Anbieter und Träger von Sport- und Freizeitangeboten folgt in Kürze.
Auch eine Zusammenstellung der Vorschläge für den Rest des Schuljahrs sowie weitergehende Reformvorschläge für den Schulbereich folgt. Hierüber wollen wir sehr gerne mit Ihnen weiterdiskutieren.
Unter diesem Link finden Sie eine Kurzbeschreibung zum „Forum Schule – wie weiter?“ und Kontaktformulare.
Titelbild: ARIMAG / Shutterstock