Die deutsche Einheit ist nun über 30 Jahre her. 30 Jahre, in denen unendlich viele Zeitungsartikel, Fernsehreportagen, Interviews mit Zeitzeugen oder Bücher über die damaligen Abläufe erschienen sind, die alles auch bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet haben. Ist wirklich alles gesagt? Und stimmt wirklich all das, was da gesagt und zum heute herrschenden Bild auf die Geschichte wurde? In ihrem gemeinsamen Buch „Tamtam und Tabu“ hinterfragen die Schriftstellerin Daniela Dahn und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld viele dieser Wahrheiten und kommen dabei zu verblüffenden Ergebnissen. Von Lutz Hausstein.
Auf den ersten Blick erscheint diese Kombination der beiden Autoren ungewöhnlich. Hier die in der DDR aufgewachsene Essayistin Daniela Dahn, die im Herbst 1989 selbst Gründungsmitglied der Bürgerrechtsbewegung „Demokratischer Aufbruch“ gewesen ist und in den vergangenen Jahren mehrere Bücher zum Thema Wendezeit verfasst hat (zuletzt 2019 „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“; Auszug auf den NDS). Und auf der anderen Seite der Kieler Psychologieprofessor Rainer Mausfeld, der 2015 mit seinem Vortrag „Warum schweigen die Lämmer?“ schlagartig einem breiten Publikum bekannt wurde und mit seinem nachfolgenden gleichnamigen Buch (Rezension auf den NDS) sowie mit dessem Nachfolger „Angst und Macht“ (Rezension auf den NDS) große Erfolge feierte. Das Buch beweist, wie sich beide mit ihren Themen gut ergänzen und so die sachlichen Faktenberichte Dahns mit den theoretischen Erläuterungen Mausfelds am Ende zu einem harmonierenden Ganzen verschmelzen.
Das Buch besteht aus fünf vordergründig sehr verschiedenen Kapiteln, die durch das erste Kapitel, Daniela Dahns Presseschau des Zeitraums von Anfang Oktober 1989 bis Mitte März 1990, und das abschließende Kapitel mehrerer Gespräche zwischen Daniela Dahn und Rainer Mausfeld wie von einer großen Klammer zusammengehalten werden. Die sich zwischen dieser Klammer befindlichen Kapitel, Dahns Ausführungen zu den Verträgen rund um die Deutsche Einheit, Mausfelds demokratietheoretischen Abhandlungen sowie Dahns Analyse der heutigen Situation inklusive ihrer Forderung nach einem Systemwechsel, offenbaren erst im Laufe der abschließenden fünf verschriftlichten Gespräche zwischen beiden ihre ganze Tragweite.
„Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit“ (George Orwell)
Um es vorwegzunehmen. Daniela Dahns Kapitel der minutiösen Dokumentation von Presseberichten der Wendezeit hat mich von der ersten Zeile an gefesselt und bietet die unabdingbare Basis für alle weiteren Darlegungen in dem Buch. Die akribische, fast tägliche Presseanalyse besitzt einen hohen historischen Wert, da sie in dieser Detailliertheit sonst nirgends so kompakt erfolgt ist. Selbst Zeitzeugen und aktive Teilnehmer dieser Entwicklung wie ich haben diese Kenntnisse nicht parat, von eventuellen Erinnerungslücken ganz abgesehen, da die sich damals regelrecht überstürzenden Ereignisse niemanden in die Lage versetzten, alle Entwicklungen überhaupt auch nur wahrzunehmen. Zuzüglich zu dem Fakt, dass die Protagonisten dieser Zeit damals gar keinen Zugang zu westdeutschen Presseerzeugnissen hatten und somit die dortigen Darstellungen gar nicht kennen konnten. Bei all dem sollte ebenfalls nicht vergessen werden, dass alle Beteiligten, trotz allem Enthusiasmus, hauptsächlich noch ihrem normalen Leben nachzugehen hatten und auch nachgingen und auch deswegen ihr Zeitbudget sehr begrenzt war. Die Beteiligten des Wendeherbstes waren „Feierabend-Revolutionäre“, die tagsüber ihre normale Arbeit oder das Lernen in der Schule oder beim Studium ausübten. Schon allein aus diesen Gründen bietet diese Presseschau einen grandiosen Überblick die Abläufe der damaligen Ereignisse, vor allem aber ihrer medialen Darstellung.
Dabei liefert die Dokumentation auch, neben einigem Bekannten, sehr viel Neues, Erstaunliches, ja teils Aufsehenerregendes. Vieles, was heute als gängige Wahrheit gilt, wird erschüttert oder gar vollständig ad absurdum geführt. An vorderster Front stets – selbstverständlich, ist man fast versucht zu sagen – die Bild-Zeitung, aber ebenso auch der „Spiegel“. Sie errichteten beispielsweise das Narrativ vom „flotten Egon“ (Krenz), der in einem Luxus von Zwölf-Zimmer-Villa, Gemälden alter Meister, teuerster Ausstattung und einem Jaguar leben würde, die der Autor Jahre später als frei erfundene Storys zugab und sich dafür entschuldigte (Seite 19 ff.). Der Zweck war allerdings erreicht, das Narrativ war in der Welt. Ein beliebtes Bild war ebenfalls der angebliche Luxus, in dem die Staats- und Parteiführung schwelgen würde, der sich jedoch schnell durch eine Sendung des DDR-Jugendfernsehens „elf99“ viel eher als ein kleinbürgerliches Leben darstellte. Trotzdem: Nicht jeden der vorher Desinformierten erreichte diese Korrektur. Und als Hans Modrow im November 1989 DDR-Regierungschef wurde, geriet auch der zuvor von der westlichen Presse überschwänglich Gelobte blitzartig ins Visier von Bild und Spiegel (Seite 69) und es wurden munter falsche Behauptungen über ihn verbreitet. Bis hin zu der ihm in den Mund gelegten Behauptung über die angeblich direkt bevorstehende Zahlungsunfähigkeit der DDR. Etwas, was aufgrund der dadurch entfachten Kampagne bis heute noch als allgemein bekannte, unumstößliche Wahrheit gilt. All dies, und noch sehr viel mehr, wird akribisch in Daniela Dahns dokumentarischer Presseschau aufgelistet und das macht diesen Teil des Buches so wertvoll.
Eine der Kernthesen, dass „die Straße in die Einheit getrieben habe“, widerlegt Daniela Dahn anhand der Presseberichte minutiös. Mithilfe repräsentativer Umfragen durch westdeutsche Medien wie Spiegel und ZDF wird an konkreten Zahlen deutlich, dass im Spätherbst 1989 nur eine deutliche Minderheit der DDR-Bevölkerung überhaupt einen staatlichen Zusammenschluss von DDR und BRD befürwortet (Seite 39 f.). Auch die Zahl derjenigen, die die DDR auf jeden Fall verlassen wollen, ist zu diesem Zeitpunkt mit 1 Prozent sehr überschaubar. Aus der Politik kommen bedächtige Vorschläge wie der Willy Brandts, dass beide Staaten „mit Geduld und Gelassenheit kooperieren“ sollten. Der DDR-Ministerpräsident Hans Modrow entwickelte den Plan einer „deutsch-deutsche(n) Gemeinschaft mit konföderativen Elementen“ (Seite 46). Samt und sonders Gedanken, die einer langsamen Annäherung und keinem überstürzten Anschluss das Wort redeten. Der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl hingegen wollte diese Gelegenheit beim Schopf packen und betrieb seine Politik so, alles zu vermeiden, was einer eigenständigen, stabilen DDR selbst nur kurzfristig nutzen könnte. Doch ausgemacht, wohin die Entwicklung gehen könnte, war zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts.
Die Widerlegung des Narrativs, dass der Druck der Straße – und nur dieser – gar keinen anderen Weg als eine schnellstmögliche Vereinigung zugelassen habe, kann auch ich anhand der folgenden Fakten bestätigen. Im Zuge eigener Recherchen bin ich auf eine äußerst zügige 180-Grad-Meinungswende von Lothar de Maiziere gestoßen. Mitte November 1989 sagte Lothar de Maiziere, zu dieser Zeit Vorsitzender der CDU der DDR, im Rahmen einer Debatte zu einer Verwaltungsreform vor der DDR-Volkskammer:
„Wir sind der Überzeugung, nicht der Sozialismus ist am Ende. Wohl aber seine administrative und diktatorische Verzerrung. Denn echter Sozialismus bedeutet nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Und wir sollten nachdenken über die Wiedereinführung der Länder als territorialer Struktur unserer Republik.“
– Aus der MDR-Dokumentation „Machtpoker um Mitteldeutschland (1/3) – Die Stunde der Politik-Amateure“, Kopie auf YouTube ab Minute 3:42
Als (dann gewählter) DDR-Ministerpräsident sagte Lothar de Maiziere in der ersten Sitzung des frischgewählten Kabinetts hingegen:
„Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe ist, uns abzuschaffen.“
Es ist mehr als augenscheinlich, dass die auf dem Höhepunkt der Demonstrationen getätigte Aussage de Maizieres und sein grundlegender Meinungswechsel bis März 1990 weniger dem Druck der Straße geschuldet waren, sondern vielmehr der gewollten Verschiebung der öffentlich-medialen Stimmung durch den westdeutschen Bundeskanzler Helmut Kohl, dessen Entourage wie dem Kohl-Vertrauten Horst Teltschik und – mehr als nur unterstützend – den massiven Medienkampagnen von BILD & Co. Dies korrespondiert auffallend mit dem im Buch festgehaltenen Gesinnungswandel in der Ost-CDU, speziell Lothar de Maizieres, den Daniela Dahn exakt auf die Nacht vom 12. zum 13. Februar 1990 datiert (Seite 69 ff.). Dennoch hält sich bis heute das Bild, dass erst der Druck der Straße die Politik zur schnellen Wiedervereinigung gezwungen habe. Ein Bild, das gleichermaßen unter West- wie Ostdeutschen, Spätergeborenen und Protagonisten dieser Zeit, Befürwortern wie auch Gegnern dieser Art der Vereinigung durchgehend dominiert. Dementgegen gelingt es Daniela Dahn, mit ihren detailreichen Belegen dieser Behauptung eine grundlegend neue Sichtweise entgegenzusetzen.
Insbesondere der Februar 1990 bildete den Kulminationspunkt des Meinungsumschwungs, in dessem Mittelpunkt – ganz den 18. März der Wahl zur DDR-Volkskammer im Blick habend – Helmut Kohl stand (Seite 49 ff.). Von innerparteilichen Konkurrenten wie Lothar Späth bedrängt, die sich mit eigenen Konzepten zum Ablauf eines Zusammengehens zu profilieren versuchen, geht der sich in einem Umfragetief befindliche Kanzler ab dem 6. Februar 1990 massiv in die Offensive. Seine Initiative zur Gründung des Wahlbündnisses „Allianz für Deutschland“ von DDR-CDU, DSU und Demokratischer Aufbruch (wohlgemerkt, als Kanzler der Bundesrepublik in einem anderen Staat) als rechtskonservativem Gegenpol zur bisher in Umfragen deutlich führenden sozialdemokratischen SDP und sein einseitig verkündeter Plan zu einer Währungsunion führten zu einem radikalen Meinungsumschwung in der Öffentlichkeit. Nicht zuletzt auch deswegen, weil die BILD dies mit einer Kaskade von Kampagnen vorantrieb – und weil sie als erstes westliches Presseerzeugnis schon zu diesem Zeitpunkt auf den DDR-Markt gedrängt war (zu DDR-Mark wohlgemerkt) und die mit solcherart Boulevardjournalismus völlig unerfahrene Bevölkerung regelrecht überrollt hatte. Begierig griff BILD Statements und Behauptungen aus Kohls Umfeld auf und schmückte sie in der ihr eigenen Art noch weiter aus. All dies trug maßgeblich dazu bei, innerhalb von nur einem Monat (!) aus einer absoluten Mehrheit der SDP mit 54 Prozent und 11 Prozent für die Ost-CDU am 8. Februar 1990 eine deutliche Mehrheit für die CDU mit 41 Prozent bzw. des Allianz-für-Deutschland-Wahlbündnisses mit insgesamt 48 Prozent und 22 Prozent für die DDR-Sozialdemokraten werden zu lassen. Kohl hatte damit sein Ziel erreicht: Der Weg für eine schnelle Vereinigung, praktisch eher im Sinne eines Anschlusses der DDR an die BRD, war vorgezeichnet und Kohl wurde auch gegen seine innerparteilichen Konkurrenten gestärkt.
Die Eigentumsverhältnisse als zentrale Stoßrichtung
Im zweiten Kapitel leitet Daniela Dahn über die Thematik Wirtschafts- und Währungsunion zur eigentlichen Frage, den Eigentumsverhältnissen, über. Denn das in der DDR dominierende Volkseigentum war das eigentliche Ziel, auf das die Kapitaleigner im Westen hinarbeiteten. Dieses, aus deren Sicht gestohlene, Vermögen musste wieder verfügbar gemacht und privatisiert werden. Dass hierfür nun ausgerechnet die Treuhandanstalt, eine von der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ vorgeschlagene und noch von der Modrow-Regierung am 1. März 1990 per Gesetz beschlossene Treuhandgesellschaft, welche die Anteilsrechte der DDR-Bürger am DDR-Volkseigentum wahren (!) sollte, zum Privatisierungsinstrument schlechthin umfunktioniert wurde, ist an Perfidität nicht zu überbieten. Der von Kohl zügig in Bundestag und Volkskammer durchgepeitschte Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion bildete dafür die Grundlage. Der später von Dahn befragte damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl äußerte sich ihr gegenüber dazu ganz unverblümt (Seite 94):
„Wenn man damals auf gleiche Weise über Nacht in der Bundesrepublik den viel stärkeren Dollar eingeführt hätte, […] wäre deren Wirtschaft auf einen Schlag ruiniert gewesen.“
Und so bleibt am Ende das bittere Resümee Daniela Dahns, dass die versprochenen „blühenden Landschaften“ Helmut Kohls wie auch das „Wirtschaftswunder mit zweistelligen Wachstumsraten“ des damaligen Bundeswirtschaftsministers Helmut Haussmann sich als heiße Luft herausstellten, aber fast das gesamte DDR-Volkseigentum in westliche Hände übergegangen war.
Gezieltes Demokratiemanagement
Im dritten Buchteil widmet sich Rainer Mausfeld der demokratietheoretischen Analyse der von Daniela Dahn beschriebenen Vorgänge. Dabei kann er auf Begriffe und von ihm erläuterte Mechanismen zurückgreifen, die er schon in seinen letzten beiden Büchern ausführlich beschrieben hat. Er zeigt die systemische Diskrepanz auf, die zwischen der demokratischen Leitidee und der Realität der kapitalistischen Demokratie liegt (Seite 105 f.), die Angela Merkel auch schon mal – sicherlich von ihr so nicht gewollt – mit dem Begriff der „marktkonformen Demokratie“ zum Ausdruck gebracht hat. Ein wichtiges Instrument, um die Bedeutungsverschiebung des Demokratiebegriffes vor der Öffentlichkeit zu verschleiern, ist laut Mausfeld, mittels Orwell’schem Neusprech Inhalte von einzelnen Begriffen zu entleeren und mit neuen, zumeist völlig entgegengesetzten Inhalten zu befüllen. Hervorzuheben ist hierbei, dass er den schon vom österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter verwendeten Begriff der „Elitendemokratie“ herausstellt und kritisiert, die den eigentlichen Inhalt des Demokratiebegriffs ad absurdum führt (Seite 108 f.).
So interessant seine grundlegenden Ausführungen zur gezielten Meinungslenkung unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten zweifelsfrei sind und die Ausschaltung echter Demokratie durch westdeutsche Eliten in diesen wenigen entscheidenden Monaten sichtbar werden lassen, wäre doch eine stärkere Verknüpfung mit den von Daniela Dahn zuvor im Buch dargelegten einzelnen Vorgängen der Meinungsmanipulation wünschenswert gewesen. Anhand dieser Vielzahl von Beispielen hätte Rainer Mausfeld stärker herausarbeiten können, mittels welcher Methoden gezielt der eigentliche Wille der DDR-Bevölkerung, wie die Gesellschaft neu zu organisieren sei, durch die bundesdeutsche Politik unter wirkmächtiger Mithilfe der Medien so erfolgreich verfälscht werden konnte. Gleichwohl sei an dieser Stelle schon angemerkt, dass im direkten Gespräch zwischen Dahn und Mausfeld im letzten Kapitel diese Verknüpfung doch noch erfolgt. Im vorstehenden Kapitel legt Mausfeld allerdings einen überreichen Fundus an Methoden offen, wie echte Demokratie untergraben werden kann (und wird), die selbst in aktuellen Entwicklungen ihren Widerhall finden. Insbesondere wenn er anhand diverser historischer Vorgänge die Manipulation der Bevölkerung durch die Methode der Angsterzeugung durch die Eliten beschreibt, kommt man gar nicht umhin, diese Methode auch auf die aktuelle Situation der Corona-Pandemie zu übertragen.
Ein Systemwechsel ist nötig … und möglich
Wenn nun nochmals Daniela Dahn übernimmt, so greift sie ein Ergebnis ihrer vorherigen Darlegungen zu den Ursachen der Wendezeit-Entwicklungen, die Eigentumsfrage, wieder auf und verknüpft sie mit grundlegenden Tendenzen der Jetzt-Zeit nach einem Systemwechsel. So begrüßenswert all die verschiedenen sozialen Bewegungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, von Occupy und Gelbwesten bis Fridays for Future und Black Lives Matter, auch waren und sind, die Kernfrage, dass der Kapitalismus systemisch gar nicht in der Lage ist, diese Probleme radikal – nämlich an der Wurzel packend – zu lösen, stellen sie gar nicht oder nur ungenügend (Seite 122 f.).
„Die große Frage ist also, wie die von Grund auf falsche und menschenfeindliche kapitalistische Funktionslogik von Profitmaximierung durch Wachstumszwang, von Privilegierung der Privilegierten und Schwächung der Schwachen durchbrochen werden kann. Nicht nur vorübergehend gezähmt und eingedämmt bis zur nächsten Krise, in der sie wieder voll durchschlägt. Sondern wirklich vom Kopf auf die Füße gestellt. Das heißt von Privatwohl auf Allgemeinwohl. Von Oligarchie auf Demokratie. Von Existenzangst auf Freiheit von Not und Bevormundung.“
Ein solcher Systemwechsel ist aber nicht möglich, ohne die Eigentumsfrage grundlegend neu auszurichten. Dabei geht es aber nicht darum, wie Zeichner diverser Horrorszenarien immer wieder weissagen, sämtliches Privateigentum abzuschaffen, sondern nur insoweit zu begrenzen, dass aus dem Eigentum keine politische und gesellschaftliche Macht entstehen kann und somit die Demokratie untergräbt. Womit sich der Kreis zu Rainer Mausfeld schließt. Die Eigentumsfrage, die heute dringender denn je auf der Tagesordnung steht, wurde schon einmal 1989/90 von der bundesdeutschen Politik und den sie unterstützenden Medien in einem Handstreich vom Tisch gewischt. Deshalb spricht sich Dahn vehement dafür aus, alle bisher gemachten Erfahrungen zu Gemeineigentum systematisch zu analysieren, um im Rahmen des angesprochenen Systemwechsels schon einmal gemachte Fehler und Irrtümer kein zweites Mal zu wiederholen.
„Kapitalkraft schlägt Wählerwillen“ (Daniela Dahn)
Im abschließenden fünften Kapitel, einer fünfteiligen Telefonkonferenz zwischen Daniela Dahn und Rainer Mausfeld, verschränken sich die zuvor einzeln angesprochenen Themen beider Autoren zunehmend miteinander. Die gemäß Mausfeld seit Jahrzehnten in der kapitalistischen Realität erprobten und zunehmend ausgefeilteren Methoden der Manipulation der öffentlichen Meinung konnten sofort in der DDR zum Einsatz gebracht werden. Allerdings mit einem gewissen Restrisiko, da die extreme Dynamik der gesellschaftlichen Umwälzungen auch Unwägbarkeiten bezüglich der Wirksamkeit dieser Methoden offenließ. Im Zuge des wechselseitigen Frage-Antwort-Spiels beider Autoren kam en passant noch ein interessanter Aspekt zur Sprache, der einen wichtigen Unterschied der Beeinflussung der öffentlichen Meinung in Ost bzw. West darstellte. Während durch die mehr oder minder offene Repression im Osten vornehmlich nur das Verhalten der Bevölkerung beeinflusst wurde, das Bewusstsein vieler davon jedoch kaum berührt wurde, zielt das Meinungsmanagement im Westen erheblich stärker auf die Psyche der Machtunterworfenen. Kann diese kontrolliert werden, ergibt sich die Verhaltenssteuerung fast zwangsläufig von allein. An vielen weiteren Stellen dieser Gespräche zwischen Dahn und Mausfeld erhält der Leser neue, interessante Denkanstöße und Informationen, die das zuvor Gelesene abrunden und zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. Gespräche, aus denen beide Autoren, genauso aber auch die Leser, einen spürbaren Gewinn ziehen.
An einer Stelle ihrer Unterhaltung machen sie darauf aufmerksam, dass dem durch das mediale Tamtam der Wendezeit bis in die Jetzt-Zeit sorgsam gepflegte Narrativ der Vereinigung durch Daniela Dahns detailreiche Presseschau die Grundlage entzogen ist und daher auch mit einem medialen Tabu dieser Recherchen zu rechnen sei. Das vergangene halbe Jahr seit dem Erscheinen des Buches gibt den beiden Autoren recht. Meine eigenen Recherchen haben keine einzige (!) Rezension des Buches in den großen deutschen Medien ergeben. Es existiert einzig eine Buchbesprechung im „Freitag“ sowie ein durchaus sehenswertes 16-minütiges Interview mit Daniela Dahn zum Buch bei der „Bundeszentrale für politische Bildung“. Doch der Rest ist Schweigen. Und so ist für die Medien der Buchtitel Programm: erst Tamtam und dann Tabu.
Fazit
Wie schon anhand des Umfangs dieser Rezension zu ermessen ist, hat mich das Buch gefesselt. In ihm sind so viele Informationen enthalten, dass man diese beim ersten Lesen kaum erfassen, geschweige denn komplett verarbeiten kann. Daher lohnt es auch, mit gebührendem Abstand, sich das Buch ein zweites Mal zu Gemüte zu führen. Dabei muss man den Detailreichtum der im ersten Teil von Daniela Dahn ausgebreiteten Presseschau besonders herausheben. Gerade dieser Teil gibt dem Leser einen enormen Fundus von Fakten an die Hand, das heute allseits herrschende und beständig wiederholte Narrativ infrage zu stellen, dass die schnelle Deutsche Einheit von der DDR-Bevölkerung in dieser Form so gewollt war und sie quasi alternativlos gewesen sei. Die Kenntnis darüber, was in diesen entscheidenden Wochen zwischen Oktober 1989 und März 1990 vor sich gegangen ist, wie dieser eklatante Meinungsumschwung zu erklären ist, mithilfe welcher Mittel er erzeugt wurde und letztendlich welchem Ziel all das diente, ist für das Verständnis dieses Teils der deutschen Geschichte unverzichtbar. Umso bedauerlicher ist das allgemeine mediale Totschweigen dieses Buches. Ein Grund mehr, es allen ans Herz zu legen, um ihren Blick auf die deutsche Geschichte der jüngeren Vergangenheit einer Prüfung zu unterziehen und diesen gegebenenfalls zu revidieren.
Daniela Dahn, Rainer Mausfeld: Tamtam und Tabu – Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung, Westend Verlag, Frankfurt/Main, 2020, 231 Seiten, Softcover, 18 Euro